Verwaltungsrecht

Auslandsaufenthalt wegen Entziehung der strafrechtlichen Ahndung nicht nur vorübergehender Natur

Aktenzeichen  M 24 K 19.5196

Datum:
7.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 47519
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ARB 1/80 Art. 7, Art. 13
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6

 

Leitsatz

§ 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG greift nicht nur dann, wenn der seiner Natur nach nicht vorübergehende Grund bereits im Zeitpunkt der Ausreise vorlag, sondern auch dann, wenn er erst während des Aufenthalts des Ausländers im Ausland eintrat; wesentlich ist auch die Dauer der Abwesenheit: Je länger sie währt und je deutlicher sie über einen bloßen Besuchs- und Erholungsaufenthalt im Ausland hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Gründe

Die Klage bleibt ohne Erfolg.
1. Über die Klage konnte nach vorheriger Anhörung gemäß § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Streitsache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden ordnungsgemäß gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO angehört. Die Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.
2. Die Klage ist zulässig.
2.1. Mit seinem Antrag zu I. begehrt der Kläger die Feststellung, dass seine Niederlassungserlaubnis und sein supranationales Aufenthaltsrecht aus dem ARB 1/80 nicht erloschen sind. Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO zulässig. Der Kläger kann insoweit ein über das reine Anfechtungsbegehren hinausgehendes berechtigtes Interesse an der Feststellung des Fortbestehens seiner Niederlassungserlaubnis sowie seines supranationalen Daueraufenthaltsrechts aus Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 geltend machen. Im Hinblick auf die begehrte Feststellung kann der Kläger sein Klagebegehren nicht im Wege einer Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen (§ 43 Abs. 2 VwGO). Der Feststellungsantrag geht insoweit über die bloße Anfechtung des – möglicherweise aus anderen Gründen bereits rechtswidrigen – streitgegenständlichen Bescheids hinaus.
2.2. Mit seinem Antrag zu II. begehrt der Kläger die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids vom … September 2019. Die Klage ist insoweit als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft und zulässig. Sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt (§ 74 Abs. 1 VwGO).
3. Die Klage ist jedoch nicht begründet.
3.1. Die allgemeine Feststellungsklage in Klageantrag I. hat keinen Erfolg. Der Kläger ist weder in Besitz einer Niederlassungserlaubnis noch eines supranationalen Aufenthaltsrechts aus Art. 7 ARB 1/80.
3.1.1. Die dem Kläger am 12. März 2007 erteilte Niederlassungserlaubnis ist mit der Ausreise am 17. Januar 2015 kraft Gesetzes erloschen.
3.1.1.1. Die Niederlassungserlaubnis ist nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen, da der Kläger zu dem maßgeblichen Zeitpunkt aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist ist.
3.1.1.1.1. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt ein Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grunde ausreist. Unschädlich sind nur solche Auslandsaufenthalte, welche nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen. Fehlt es an einem dieser Merkmale, liegt ein der Natur nach nicht nur vorübergehender Grund vor. Neben der Dauer und dem Zweck des Auslandsaufenthalts sind bei der Prüfung, ob die Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund erfolgt ist, alle objektiven Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers und insbesondere seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland nicht allein ankommen kann. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG greift nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht nur dann, wenn der seiner Natur nach nicht vorübergehende Grund bereits im Zeitpunkt der Ausreise vorlag, sondern auch dann, wenn er erst während des Aufenthalts des Ausländers im Ausland eintrat (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 6.08 – BVerwGE 134, 27ff., juris Rn. 21 m. w. N.). Wesentlich ist auch die Dauer der Abwesenheit: Je länger sie währt und je deutlicher sie über einen bloßen Besuchs- und Erholungsaufenthalt im Ausland hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist (BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 11).
Grundsätzlich können dabei Aufenthalte zur Ableistung der Wehrpflicht als ihrer Natur nach vorübergehende Gründe für Auslandsaufenthalte anzusehen sein (vgl. BVerwG, U.v. 11.12.2012 – 1 C 15/11 – NVwZ-RR 2013, 338; BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 10 ZB 11.2156 – juris Rn. 8). Die Ableistung des Wehrdienstes durch einen Ausländer im jeweiligen Staat seiner Staatsangehörigkeit stellt einen „berechtigten Grund“ für die Abwesenheit vom Bundesgebiet dar, da sie der Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht dient und zwangsläufig – ungeachtet der konkreten Dauer des Wehrdienstes – mit einer längeren Abwesenheit vom Bundesgebiet verbunden ist (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 12 unter Verweis auf u.a. BayVGH, U.v. 23.1.2018 – 10 BV 16.1578 – juris Rn. 23).
Je weiter sich die Aufenthaltsdauer im Ausland über die Zeit hinaus ausdehnt, die mit begrenzten Aufenthaltszwecken typischerweise verbunden ist, desto eher liegt die Annahme eines nicht nur vorübergehenden Grundes im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nahe. Der Aufenthaltstitel erlischt daher dann, wenn der Auslandsaufenthalt auf unbestimmte Zeit angelegt ist (VGH BW, U.v. 9.11.2015 – 11 S 714/15 – juris Rn. 43 m.w.N.) bzw. wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Betreffende seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat (BVerwG, U.v. 11.12.2012 – 1 B 15.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 17.1.2017 – 10 ZB 15.1706 – juris Rn. 6).
3.1.1.1.2. Nach diesen Maßstäben und den Gesamtumständen des Einzelfalles ist der Kläger zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) am 17. Januar 2015 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG ausgereist.
Das Gericht verweist insoweit auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids, der sich das Gericht anschließt (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend wird folgendes angemerkt:
Für das Gericht ist vorliegend vor allem maßgeblich, dass sich der Kläger nach den Umständen im Zeitpunkt der Ausreise offensichtlich in erster Linie der strafrechtlichen Ahndung zweier Tatkomplexe entziehen wollte. Dies gilt zum einen für die am 21. Januar 2015 geplante gerichtliche Hauptverhandlung im Hinblick auf die Tat vom 6. September 2014, zum anderen für die am 11. Januar 2015 begangenen weiteren Rechtsverstöße. Dass der Kläger dabei offensichtlich aus diesem Grund und mit nur kurzer Vorlaufzeit ausreiste zeigt auch der Umstand, dass er bei der Bundespolizei am Flughafen München einen abgelaufenen Reisepass vorlegte. Insofern hatte vor der Ausreise augenscheinlich keine Zeit bestanden, den Reisepass verlängern zu lassen. Hätte das Ziel der Reise vor allem in der Ableistung des Wehrdienstes beim türkischen Militär bestanden, so hätte dies der Kläger auf Nachfrage durch die Bundespolizei sicher angegeben und auch einen absehbaren Zeitraum für den Auslandsaufenthalt benennen können. Auch hätte er sich rechtzeitig um ordnungsgemäße Reisepapiere gekümmert. Ebenso hätte der Vater des Klägers auf Nachfrage durch die Polizeiinspektion Mühldorf a. Inn am 25. April 2015 den Wehrdienst als Grund angeben können und auch angegeben, wenn dies tatsächlich Grund der Ausreise im Januar 2015 gewesen wäre. Es liegen nach Aktenlage keine tatsächlichen Hinweise dafür vor, dass der Kläger bereits zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte, den Wehrdienst abzuleisten, und dass er gerade aus diesem Grund ausgereist ist. Auch der Umstand, dass der Kläger nach der endgültigen Befreiung vom Wehrdienst durch die türkischen Behörden noch für knapp zwei Jahre in der Türkei verblieb, und die gesamte Dauer seines Auslandsaufenthalts von mehr als vier Jahren sprechen dafür, dass er nicht lediglich zur Ableistung seines Wehrdienstes aus Deutschland ausgereist ist.
Aus der Gesamtschau dieser Umstände ist das Gericht überzeugt, dass der Kläger am 17. Januar 2015 aus einem nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist ist, sondern vielmehr zu diesem Zeitpunkt seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat, so dass gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG die Niederlassungserlaubnis erloschen ist.
3.1.1.1.3. Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus den assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln des Art. 13 ARB 1/80 und des Art. 41 ZP, die betroffene türkische Staatsangehörige davor bewahren sollen, ungünstigeren Regelungen unterworfen zu werden als zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der assoziationsrechtlichen Regelungen. Insoweit ist ein Vergleich mit den früher geltenden ausländerrechtlichen Regelungen vorzunehmen.
Das Ausländergesetz 1965 enthielt zwar keinen Verlusttatbestand für eine Aufenthaltserlaubnis, der allein an den Ablauf einer zeitlich bestimmten Frist für die Wiedereinreise anknüpfte (wie heute § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG). Das ist aber hier unerheblich; denn der Auslandsaufenthalt des Klägers hätte den Tatbestand des § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 erfüllt. Danach erlosch eine Aufenthaltserlaubnis, wenn der Ausländer das Bundesgebiet aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde verließ. Diese Vorschrift, der die Neufassung in § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990 entsprach (heute § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG), greift nicht nur dann, wenn der seiner Natur nach nicht vorübergehende Grund bereits im Zeitpunkt der Ausreise vorlag, sondern auch dann, wenn er erst während des Aufenthalts des Ausländers im Ausland eintrat. Wesentlich ist auch die Dauer der Abwesenheit: Je länger sie währt und je deutlicher sie über einen bloßen Besuchs- und Erholungsaufenthalt im Ausland hinausgeht, desto mehr spricht dafür, dass der Auslandsaufenthalt nicht nur vorübergehender Natur ist. Für die Beurteilung ist nicht allein auf den inneren Willen des Ausländers abzustellen; maßgebend sind vielmehr die gesamten Umstände des Einzelfalls (BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 6/08 – juris Rn 16ff. 21). Nach diesen Grundsätzen ergibt sich aber vorliegend kein anderes Ergebnis als das bereits unter 3.1.1.1.2. festgehaltene: Der Kläger ist nach den objektiven Umständen des Einzelfalles und insbesondere unter Berücksichtigung der langen Dauer seines Aufenthalts in der Türkei von mehr als vier Jahren zur Überzeugung des Gerichts am 17. Januar 2015 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund im Sinn von § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 ausgereist.
3.1.1.2. Führt somit auch die Anwendung des § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 zum Erlöschen der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis des Klägers, wirkt sich die Einführung des § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 bzw. des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nicht zu seinem Nachteil aus. Das Erlöschen der Niederlassungserlaubnis ergibt sich somit auch aus § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, denn der Kläger ist von 2015 bis 2019 in der Türkei geblieben und damit nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Ausreise wieder eingereist, ein längerer Zeitraum war von der Ausländerbehörde nicht bestimmt.
3.1.1.3. Der Ausnahmetatbestand des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG greift vorliegend nicht zu Gunsten des Klägers ein. Nach § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erlischt die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens fünfzehn Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 AufenthG, wenn sein Lebensunterhalt gesichert ist und kein in der Vorschrift im einzelnen genannter Ausweisungsgrund vorliegt.
Der Kläger besaß zwar in dem maßgeblichen Zeitpunkt noch eine Niederlassungserlaubnis und hielt sich seit mehr als fünfzehn Jahren in Deutschland auf. Auch lagen in seiner Person die in der Vorschrift genannten Ausweisungsgründe nicht vor. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Deutschland konnte jedoch keine positive Prognose gestellt werden, dass sein Lebensunterhalt im Sinne der Vorschrift gesichert war.
Maßgeblicher Prognosezeitpunkt ist hierbei der Zeitpunkt der Ausreise und nicht der Zeitpunkt der beabsichtigten Wiedereinreise (BVerwG, U.v. 23.3.2017 – 1 C 14.16 – juris Rn. 14ff.). Im Rahmen der Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist mithin die Prognose im Zeitpunkt der Erfüllung der Erlöschensvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder 7 AufenthG anzustellen. Von diesem Zeitpunkt ausgehend ist die Prognose zu stellen, ob der Lebensunterhalt des Klägers in Zukunft auf Dauer oder zumindest auf absehbare Zeit im Falle eines erneuten Aufenthalts in Deutschland gesichert ist. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dabei bleiben die in § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufgeführten öffentlichen Mittel außer Betracht.
Das Landratsamt hat insofern vom zutreffenden Prognosezeitpunkt der Ausreise des Klägers in die Türkei im Januar 2015 aus festgestellt, dass sein Lebensunterhalt für den Fall einer zukünftigen Wiedereinreise nicht gesichert sein würde. Das Landratsamt hat dies in rechtlich nicht zu beanstandender Weise aus den Umständen des Einzelfalles geschlossen und insbesondere auch berücksichtigt, dass keinerlei Belege vorgelegt wurden, dass tatsächlich Geld von seinem Vater an den Kläger geflossen ist.
Die materielle Beweislast für die Sicherung des Lebensunterhalts liegt bei dem Kläger. Nur er ist in der Lage, Unterlagen beizubringen, die Auskunft über seine finanzielle Situation geben (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2016, § 51 AufenthG Rn. 38). Zwar ist es nicht erforderlich, dass der Kläger der Behörde bereits zum Zeitpunkt der Ausreise seine finanzielle Situation nachweist. Der Kläger kann diese vielmehr auch im Nachhinein belegen. Zweifel gehen dabei zu Lasten des ausreisenden Ausländers. Je unsicherer der Zeitpunkt einer möglichen Wiedereinreise ist, umso schwieriger ist es, eine positive Prognose zu stellen, es sei denn der Betreffende verfügt über feste wiederkehrende Einkünfte, etwa in Gestalt einer Altersrente, oder über ein ausreichendes, auch im Bestand gesichertes Vermögen. Im vorliegenden Fall kann der Lebensunterhalt des Klägers zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht als gesichert angesehen werden.
Insoweit wird zunächst angemerkt, dass sich angesichts der Volljährigkeit des Klägers und der völligen Ungewissheit der Dauer seines Auslandsaufenthalts die Prognose einer dauerhaften Lebensunterhaltssicherung im Sinne von § 51 Abs. 2 Satz 1, § 2 Abs. 3 AufenthG nicht alleine auf eine allgemein vorhandene Bereitschaft innerhalb türkischstämmiger Familien zur gegenseitigen Hilfe stützen lässt.
Der Umstand, dass der Kläger vor seiner Ausreise nie Sozialleistungen bezogen hat, ist zwar in die Prognoseentscheidung einzustellen. Die Ausländerbehörde hat insoweit aber zu Recht darauf hingewiesen, dass der vorher offenbar alleine für den Unterhalt des Klägers aufkommende Vater den Aufenthaltsort des Sohnes im April 2015 nicht benennen konnte. Eine positive Prognose der dauerhaften Sicherung des Lebensunterhalts durch den Vater war daher nicht möglich. Auch das Gericht erachtet zudem die Darstellung, die Zahlungen zur Sicherung des Lebensunterhalts seien bar erfolgt, als unglaubwürdig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Vater des Klägers selbst gegenüber der Polizei erklärt hat, er kenne den Aufenthaltsort seines Sohnes nicht. Es erschließt sich auch unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers nicht, auf welchem Weg diese Zahlungen erfolgt sein sollen.
Es müssten für eine positive Prognose daher weitere Umstände hinzutreten, die für eine Sicherung des Lebensunterhalts sprechen würden. Solche sind für das Gericht nicht erkennbar. Insbesondere spricht vorliegend die Erwerbsbiografie des erwachsenen Klägers selbst jedenfalls nicht für eine positive Prognoseentscheidung.
3.1.2. Der Kläger besitzt auch kein supranationales assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 mehr.
3.1.2.1. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs(EuGH) erlischt ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur dann, wenn es gemäß Art. 14 ARB 1/80 rechtmäßig aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt wurde oder wenn der Rechtsinhaber das Gebiet des aufnehmenden EU-Mitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum und ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl. EuGH, U.v. 16.3.2000 – Ergat, C-329/97 – juris Rn. 45 ff.; EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – juris Rn. 49). Ob ein türkischer Staatsangehöriger das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen und dadurch sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht verloren hat, richtet sich danach, ob er seinen Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat. Je länger der Auslandsaufenthalt des Betroffenen andauert, desto eher kann von der Aufgabe seines Lebensmittelpunktes in Deutschland ausgegangen werden. Ab einem Auslandsaufenthalt von ungefähr einem Jahr müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sein Lebensmittelpunkt noch im Bundesgebiet ist (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – BVerwGE 151, 377ff.; LS 1 und 2 in Fortentwicklung von BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 6.08 – BVerwGE 134, 27).
3.1.2.2. Dies zu Grunde gelegt hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) mit seiner Ausreise am 17. Januar 2015 seinen Lebensmittelpunkt in die Türkei verlagert. Das supranationale Aufenthaltsrecht des Klägers ist damit mit der Ausreise im April 2015 erloschen.
Das Gericht verweist auch insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid (§ 117 Abs. 5 VwGO) und merkt ergänzend an:
Maßgeblich ist für das Gericht insoweit, dass sich der Kläger nach den objektiven Umständen des Einzelfalles vor allem der Ahndung seiner Straftaten entziehen wollte (s.o. 3.1.1.1.2.). Außerdem spricht für eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes, dass der Kläger auch nach dem Wehrdienst noch für knapp zwei Jahre in der Türkei geblieben ist, ohne dass der für diesen Umstand vorgetragene Grund, nämlich die Behandlung einer Depression, für mehr als jeweils kurze Zeiträume nachgewiesen wäre.
3.2. Auch die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom … September 2019 ist unbegründet. Der Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Der Kläger ist ausreisepflichtig nach § 50 Abs. 1 AufenthG. Er besitzt keine Niederlassungserlaubnis und kein supranationales Aufenthaltsrecht aus Art. 7 ARB 1/80 mehr (s.o. 3.1.). Die Ausreisepflicht ist auch vollziehbar (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Die Anforderungen des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sind hinsichtlich der dem Kläger in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids gesetzten Frist erfüllt.
4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).


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