Verwaltungsrecht

Ausweisung eines Ausländers mit familiären Bindungen im Bundesgebiet (Straftat, Alkohol- und Drogenproblematik)

Aktenzeichen  Au 6 K 17.1539

Datum:
11.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20583
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1, 2, 3, § 53 Abs. 1, 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 2 Nr. 3, 5
GG Art. 6
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei der Bemessung der Frist für ein Einreise- und Aufenthaltsverbot sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich jedoch an höherrangigem Recht messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid vom 6. September 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung und -anordnung ist auch für die Anfechtungsklage die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325, juris Rn. 18).
1. Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
a) Die Ausweisung setzt als gebundene und gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325, juris Rn. 22) tatbestandlich voraus, dass der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der vorgenannten Schutzgüter eintreten wird (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325, juris Rn. 23). Dies ist hier der Fall.
aa) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung, weil er eine schwere Straftat begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
Maßgeblicher Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung (LG, U.v. 21.12.2016 – …). Das Körperverletzungs- und Gewaltdelikt des Klägers gefährdet das Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit (s. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes – GG). Die Gesundheit der Bürger nimmt aber in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein; ihr Schutz ist daher ein Grundinteresse der Gesellschaft, das durch eine Straftat, wie sie der Kläger begangen hat, erheblich beeinträchtigt wird (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 57). Nach den Darlegungen des Strafgerichts ist zwar die vertikal über Brust und Hals verlaufende 25 cm lange, nicht sehr tiefe Schnittwunde des Geschädigten folgenlos verheilt, das Handeln des Klägers war aber jedenfalls abstrakt geeignet, das Leben des Geschädigten zu gefährden; das Strafgericht teilte die Einschätzung des Sachverständigen, dass es in der gegebenen Situation, in welcher der Kläger seinem Kontrahenten ein stabiles scharfes Messer mit einer Klingenlänge von 10 cm an den Hals hielt, letztlich einer glücklichen Fügung zu verdanken war, dass der Geschädigte lediglich eine oberflächliche Schnittverletzung davontrug. Zudem ging das Strafgericht von einem strafbefreienden Rücktritt vom unvollendeten Mordversuch aus und berücksichtigte u.a. zu Gunsten des Klägers, dass die Tat durch Alkoholkonsum erheblich begünstigt wurde. Während des Strafverfahrens bestritt der Kläger die Tatbegehung. Der Tatvorwurf wurde jedoch nach Überzeugung des Strafgerichts durch die glaubhaften Angaben des Geschädigten belegt, dessen Angaben darüber hinaus erhebliche Unterstützung durch ihre Verflechtung mit den Aussagen anderer Zeugen fanden (s. LG, U.v. 21.12.2016 –, S. 25). Zwar sind die Ausländerbehörde – und auch das Verwaltungsgericht – an die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts und an die Beurteilung des Strafrichters nicht gebunden, in der Regel ist jedoch von der Richtigkeit der strafrechtlichen Entscheidung auszugehen (vgl. BayVGH, U.v. 22.2.2012 – 19 ZB 11.2850, 19 CS 11.2715 – juris Rn. 15). Die Kammer hat vorliegend keinerlei Zweifel an dem vom Landgericht … festgestellten Sachverhalt und dem darauf beruhenden strafrechtlichen Schuldspruch. Das Strafgericht setzte sich dabei eingehend mit der Aussage des Geschädigten auseinander, dessen Schilderung des Tatgeschehens sich widerspruchslos mit der objektiven Spurenlage, insbesondere dem Verlauf der Verletzungen und den Ergebnissen der DNA-Analyse in Einklang bringen ließe. In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger mit Blick auf sein Schreiben an die Ausländerbehörde vom 19. Juli 2017, seine Straftaten zutiefst zu bereuen (s. Bl. 502 der Behördenakte), man habe Streit gehabt, das Ganze sei ein Versehen gewesen; er habe keine Absicht gehabt, jemanden zu töten. Nach Auswertung des Strafurteils und der beigezogenen Strafakten hat die Kammer am strafrechtlichen Schuldspruch nicht die geringsten Zweifel. Der Kläger hat eine gefährliche Körperverletzung in einem mittelgradigen Rauschzustand verübt und stellt aufgrund dieses Verhaltens eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
bb) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
Bei der Frage, ob vom Kläger weiterhin eine Wiederholungsgefahr ausgeht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände (vgl. BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 10). Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung – wie hier im Falle der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit – gelten für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr eher geringere Anforderungen. Denn bei der Gefahrenprognose sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (stRspr; vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277, juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34).
Die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob der Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, führt unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17) hier zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr. Dies ergibt sich aus der konkreten Tatbegehung, der Persönlichkeitsstruktur des Klägers und der mangelnden therapeutischen Aufarbeitung seines tatbegünstigenden erheblichen Alkoholkonsums; es ist zwar nicht von einem Hang, im Übermaß Rauschmittel zu sich zu nehmen, auszugehen, doch war der Kläger zum Tatzeitpunkt erheblich alkoholisiert. Zumal er bereits wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Geldstrafe verurteilt worden war und auch bei Haftantritt die Zugangsurinkontrolle am 23. Februar 2018 im Hinblick auf THC positiv gewesen sei (s. Führungsbericht vom 24.7.2017). Der Kläger ist zwar nicht einschlägig vorbestraft, hat aber eine gefährliche Körperverletzung mittels eines Messers in einem mittelgradigen Rauschzustand begangen. Er hat den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung in zwei Tatbestandsalternativen verwirklicht (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB); zum einen handelte es sich bei dem Küchenmesser um ein gefährliches Werkzeug, zum anderen stellte die von hinten erfolgte Tatausführung zumindest eine abstrakt lebensgefährliche Behandlung dar. Zumal nach dem angeforderten Führungsbericht der JVA … vom 14. Juni 2018 eine sozialtherapeutische Behandlung für Gewaltstraftäter nicht erfolgt ist und die Eignung zur Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training erst geprüft werde. Zwar wirkt der Kläger nach der vorgelegten Stellungnahme der Drogenhilfe vom 9. März 2018 aus Sicht der Drogenberatung krankheitseinsichtig und motiviert, eine Entwöhnungsbehandlung aufzunehmen, eine Therapie hatte er jedoch auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht begonnen; es liegt vielmehr bislang keine Kostenzusage vor. Dass der Kläger derzeit eine externe Drogenberatung in Anspruch nimmt und seit September 2017 bereits mehrere Gespräche durchgeführt wurden, ist zwar ein Hoffnungsschimmer, dass der Kläger sich seinen Persönlichkeitsproblemen stellt. Allerdings ist unter dem Druck der ausländerbehördlichen Maßnahme gezeigtes Wohlverhalten vorsichtig zu bewerten, denn insbesondere ist noch keine Therapie begonnen, geschweige denn erfolgreich abgeschlossen worden. Auch unter Würdigung des Vorbringens des Klägers und seiner nunmehr entwickelten Therapiebereitschaft ist bislang kein grundlegender und seine Gesamtpersönlichkeit erfassender Wandel ersichtlich, so dass die Aussagekraft und Aktualität der strafgerichtlichen und strafvollzugsbehördlichen Feststellungen nicht zu bezweifeln ist. Wegen des hohen Rangs des von ihm verletzten und bei einem Rückfall erneut bedrohten Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit ist aufgrund dieser Feststellungen vorliegend eine erhebliche und gegenwärtige Wiederholungsgefahr anzunehmen. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit seiner Ausweisung ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor nicht hinsichtlich seiner Drogen- bzw. Alkoholdelinquenz therapiert ist. Sind aber die Ursachen seiner früheren Straftat nicht beseitigt, ist weiter von einer konkreten Rückfallgefahr auszugehen.
b) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 53 Abs. 2 i.V.m. § 55 AufenthG deutlich überwiegt.
Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ (Absatz 1) oder als „schwerwiegend“ (Absatz 2). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sind neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49). Die Katalogisierung schließt demnach die Berücksichtigung weiterer Umstände im Rahmen der nach § 53 Abs. 2 AufenthG zu treffenden Abwägungsentscheidung nicht aus (vgl. zum Ganzen: BVerwG, vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325, juris Rn. 24).
Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat sich bei diesem Kriterienkatalog an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht („Boultif/Üner-Kriterien“; vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – a.a.O.). Die o.g. Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen.
aa) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist (LG, U.v. 21.12.2016 – …). Ob daneben durch die begangenen Körperverletzungen und Sachbeschädigungen auch § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG einschlägig ist, wie vom Beklagten geltend gemacht wird, kann dahingestellt bleiben, da sich eine rein quantitative Gegenüberstellung der im Rahmen der Prüfung nach §§ 54, 55 AufenthG verwirklichten typisierten Interessen verbietet (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 40).
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten und kann die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat in atypischen Fällen insgesamt weniger schwer erscheinen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 57), doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren Delikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Zur Schuldfähigkeit des Klägers stellte das Landgericht fest, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt nicht erheblich vermindert oder gar aufgehoben gewesen sei und er auch nicht an einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder schweren anderen seelischen Abartigkeit leide (LG, U.v. 21.12.2016 –, S. 38 ff.).
bb) Das Bleibeinteresse wiegt demgegenüber nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 3 und 5 AufenthG schwer, weil der Kläger in der Vergangenheit sein Umgangsrecht mit seinem minderjährigen Sohn, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nach Angabe des Klägers die russische Staatsangehörigkeit besitzt, ausgeübt hat. Zumal der Kläger geltend macht, nach der Haftentlassung mit diesem wieder persönlichen Kontakt aufnehmen zu wollen.
cc) In der nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner überwiegt vorliegend das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
Der Aufenthalt des im Irak aufgewachsenen Klägers dauert seit seiner Einreise im Jahr 2002 ununterbrochen an; auch ist er hier einige Jahre (s. Versicherungsverlauf der Rentenversicherung vom 26.5.2017, Bl. 508 der Behördenakte) berufstätig gewesen, seit dem Jahr 2011 jedoch nur noch zeitweise. Der Kläger hat wesentliche persönliche Bindungen im Bundesgebiet, wo sein minderjähriger Sohn und sein Bruder leben; seine sozialen Beziehungen und Bindungen in den Irak sind demgegenüber gering, aber vorhanden (dazu sogleich). Zu seinem hier aufenthaltsberechtigten Sohn, für den der Kläger kein Sorgerecht hat, bestand ein Näheverhältnis und der Kläger hat in der Vergangenheit für diesen zunächst auch einen Unterhaltsbeitrag geleistet. Zumindest der Kläger ist auch an einem weiteren Kontakt mit seinem Sohn interessiert, auch wenn dieser während der Haft derzeit nur durch wenige Briefe bzw. über seinen Bruder aufrechterhalten wird.
Massiv gegen den Kläger spricht jedoch der hohe Rang des durch den weiteren Verbleib des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland gefährdeten Schutzgutes. Denn das betroffene Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit weist in der Werteordnung des Grundgesetzes einen hohen Stellenwert auf (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 57), ihr Schutz ist daher ein Grundinteresse der Gesellschaft, das durch eine Straftat, wie sie der Kläger begangen hat, erheblich beeinträchtigt wird.
Das Gewicht der sozialen Bindung zu seinem hier lebenden Sohn wird dadurch etwas gemindert, dass (auch) nach den Angaben des Klägers, die Mutter des Kindes mit diesem bereits 2011 oder 2012 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen sei und er bis zum Umzug nach … das Kind nur einmal gesehen habe; über das Jugendamt habe er dann einen Umgang beantragt, der ab dem Jahr 2015 auch stattgefunden habe. Zumal im Übrigen für den Auszug (alkoholbedingte) Tätlichkeiten des damals arbeitslosen Klägers gegenüber der Kindsmutter zumindest mitursächlich gewesen sein dürften (s. Strafanzeige bzw. Zeugenvernehmung vom 17.7.2012 und Erklärung vom 20.7.2012, daran nicht festzuhalten, Bl. 269 ff. und 284 der Behördenakte). Aufgrund des Alters des Kindes (geb. … 2008) hat dieses auch bereits eine gewisse Eigenständigkeit erlangt, sodass es eine Anwesenheit und Beistandschaft des Vaters nicht zwingend erfordert. Das Kind hat während der Haft des Klägers nicht wirklich den Kontakt zu diesem gesucht. Anhaltspunkte, dass das Kindeswohl die Anwesenheit des Klägers zwingend erfordert und deshalb auch einer vorübergehenden Aufenthaltsbeendigung entgegensteht (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 4.9.2007 – 1 C 43.06 – juris), sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hinzu kommt, dass der Kläger nach Abschluss des Ausweisungsverfahrens jederzeit einen Antrag auf Fristverkürzung stellen kann, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Tatsachen nachträglich ändern sollten (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – juris Rn. 34, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – juris Rn. 42). Darüber hinaus spricht der Kläger arabisch, ist im Irak aufgewachsen, hat einige Jahre eine Schule besucht und war dort auch bereits berufstätig. Er hat dort zwei Schwestern (zu weiteren Verwandten besteht nach seinen Angaben kein Kontakt), do dass er auch Anknüpfungspunkte in seinem Herkunftsstaat hat und dort nicht vollständig entwurzelt ist.
Unabhängig vom Ergebnis der typisierten Abwägung der gegenläufigen Interessen gemäß §§ 54, 55 AufenthG ergibt demnach auch die nach § 53 Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Gesamtabwägung sämtlicher einzelfallbezogener Umstände ein Überwiegen des Ausweisungsinteresses, ohne dass hieran die vom Kläger vorgebrachten Argumente etwas ändern würden. Die Verhältnisse im Irak erschweren zwar den Aufbau eines neuen Lebens (vgl. BayVGH, B.v. 16.11.2016 – 10 ZB 16.81 – juris), führen allerdings nach Auffassung der Kammer vorliegend nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung. Zumal der Kläger auch hier keine Grundlage (z.B. in Form einer Berufsausbildung) für eine berufliche Integration in Deutschland gelegt hat.
c) Die Ausweisung des Klägers verstößt auch nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. Unter Berücksichtigung der dargelegten rechtlichen Vorgaben und der persönlichen Umstände des Klägers kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist; dies gilt auch mit Blick auf den minderjährigen Sohn des Klägers und die faktische Trennung bei einem Vollzug der Ausweisung durch eine Abschiebung des Klägers aus der Strafhaft oder nach Haftentlassung trotz bzw. im Falle der Aufhebung des derzeit bestehenden generellen Abschiebestopps (vgl. Bayerische Staatsministerium des Innern, Rundschreiben vom 10.8.2012, Gz. IA2-2081.13-15, in der Fassung vom 3.3.2014). Die Familie steht zwar nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung; gleichwohl ist die Ausweisung als verhältnismäßig anzusehen, wenn man die andernfalls bei Verbleiben im Bundesgebiet fortbestehende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter dritter Personen gegenüberstellt. Dies gilt – unabhängig davon, dass der Kläger nicht als sog. faktischer Inländer anzusehen ist – auch mit Blick auf das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Privatleben. Demgegenüber ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privatleben dann zu bejahen, wenn ein Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm (und seinen Familienangehörigen) wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2017 – 10 B 17.818 – juris). Vorliegend ist der Kläger aber nach den gegebenen Gesamtumständen bereits kein sog. faktischer Inländer, vielmehr ist er erst im Alter von 25 Jahren hier eingereist. Auch hat er, wie dargelegt, noch soziale Beziehungen und Bindungen, damit einen Bezug zum Irak.
2. Die in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids verfügte Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf fünf Jahre, gerechnet ab dem Zeitpunkt der nachgewiesenen Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots steht dabei nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen des Beklagten. Die vom Beklagten angestellten Ermessenserwägungen sind rechtlich im Rahmen des durch § 114 Satz 1 VwGO vorgegebenen Prüfungsrahmens nicht zu beanstanden.
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten soll. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 66). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid des Beklagten festgesetzte Frist, welche die Fünfjahresgrenze nicht überschreitet, nicht zu lang und daher rechtmäßig. Durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht. Im vorliegenden Einzelfall trägt das bisherige Verhalten des Klägers, das der auch zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mindestens auf fünf Jahre, da die bisherige Entwicklung des Klägers nicht von einer tiefen Einsichtsfähigkeit, einem deutlichem Bewusstseinswandel und dem Bemühen um Aufarbeitung im Interesse eines künftig straffreien Lebens geprägt ist. Wegen der Einzelheiten wird ergänzend auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO); die obigen Erwägungen dieses Urteils gelten entsprechend (vgl. oben).
3. Die Abschiebungsanordnung ist nach § 58 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wegen seiner Inhaftierung gerechtfertigt. Die hilfsweise Abschiebungsandrohung ist ebenso nicht zu beanstanden; sie entspricht den gesetzlichen Vorschriften (§§ 58, 59 AufenthG).
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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