Verwaltungsrecht

Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen faktischen Inländers

Aktenzeichen  10 ZB 19.2012

Datum:
30.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9461
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 53 Abs. 2
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Eine Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen Ausländers ist mit Art. 8 EMRK vereinbar, wenn eine persönliche und wirtschaftliche Integration im Bundesgebiet nicht gelungen und dem Ausländer im Hinblick auf die von ihm ausgehende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter eine Rückkehr in sein Heimatland zumutbar ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 18.1942 2019-09-17 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein serbischer und kosovarischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 19. Oktober 2018 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf vier Jahre befristet wurde. Anlass der Ausweisung war eine Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht Kempten vom 17. Mai 2018 wegen mehrerer Körperverletzungsdelikte und Vergewaltigung zu Lasten seiner damaligen Lebensgefährtin zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Es kann dabei offenbleiben, ob der Antrag auf Zulassung der Berufung bereits unzulässig ist, weil er sich nicht hinreichend mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt, wie die Beklagte geltend macht.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist jedenfalls unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Ausführungen in der Begründung des Zulassungsantrags enthalten im Wesentlichen Tatsachenvortrag und allgemeine Rechtsausführungen, die sich nur in Ansätzen mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzen.
a) Das Verwaltungsgericht hat bei der im Rahmen der Ausweisung (§ 53 Abs. 1 AufenthG) zu treffenden Gefahrenprognose vom Kläger weiterhin ausgehende Gefahren für die hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Integrität bejaht. Er sei zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden, nachdem er seine Lebensgefährtin mehrfach geschlagen und zum oralen Geschlechtsverkehr genötigt habe. Die Tat offenbare ein hohes Maß an Rücksichtslosigkeit des Klägers bei der Durchsetzung der eigenen Vorstellungen und völlige Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit gegenüber dem entgegenstehenden Willen des Opfers und dessen Selbstbestimmungsrecht. Er habe seine Lebensgefährtin in unwürdiger Weise als „Leibeigene“ behandelt und dies mit Familientradition gerechtfertigt. Die Befindlichkeit seines Opfers und die Gefahr einer nachhaltigen Schädigung hätten ihn dabei nicht interessiert. Trotz der strafgerichtlichen Verurteilung habe eine kritische Selbstreflexion des Klägers bis heute nicht stattgefunden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht habe er seine Tat sogar geleugnet und angegeben, sein Geständnis habe er nur auf Drängen seines damaligen Rechtsanwalts und der Eltern des Opfers abgegeben. Vor dem Hintergrund dieses Verhaltens fehle jeglicher Ansatzpunkt für die Annahme einer persönlichen Entwicklung des Klägers in eine positive Richtung, nach der das Rückfallrisiko als gering eingestuft werden könnte. Eine Aufarbeitung der Tat, welche zunächst ein Eingeständnis eigenen Fehlverhaltens erfordere und die ein positiver Aspekt bei der zu treffenden Gefahrenprognose wäre, habe bisher offensichtlich nicht stattgefunden. Auch während der Untersuchungshaft habe er nach einem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt nicht an den wöchentlich stattfindenden sozialpädagogischen Gruppengesprächen teilgenommen. Im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht müsse daher, auch angesichts des dabei gewonnenen persönlichen Eindrucks, von einer beachtlichen, sich aus der Begehung der Straftat ergebenden und unverändert hohen Wiederholungsgefahr ausgegangen werden.
Aus dem Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags lassen sich nur wenige Aspekte entnehmen, die wohl gegen diese Gefahrenprognose eingewendet werden sollen. Er trägt vor, dass er zum Zeitpunkt der Tatbegehung erst 16 Jahre alt gewesen sei und es sich um die erste und bis heute einzige strafrechtliche Verurteilung gehandelt habe; zudem habe er vier Monate in Untersuchungshaft verbracht. Seit der Tat seien zwei Jahre verstrichen, und er sei weder erneut straffällig geworden noch durch aggressives Verhalten aufgefallen. Er bemühe sich nunmehr ernsthaft darum, seine schulische Ausbildung abzuschließen und einen interessengerechten Ausbildungsberuf zu ergreifen; dieser Prozess sei noch nicht abgeschlossen. Im Rahmen der Bewährungshilfe habe er ein – noch nicht vollständig abgeschlossenes – Antigewalttraining absolviert.
Damit kann der Kläger die vom Verwaltungsgericht getroffene Gefahrenprognose nicht in Frage stellen. Dass er unter dem Druck der offenen Bewährungsstrafe und der streitgegenständlichen Ausweisung bisher nicht mehr strafrechtlich auffällig geworden ist, hat insoweit kein ausschlaggebendes Gewicht, ebenso seine „Bemühungen“ um einen Schulabschluss und einen Ausbildungsplatz. Auf die entscheidende Erwägung des Verwaltungsgerichts, dass bei ihm keine Ansätze für eine Einsicht in seine Tat und für einen Einstellungswandel erkennbar seien, geht er nicht ein. Sein Geständnis vor dem Strafgericht, das dem Tatopfer auch eine umfangreichere Aussage erspart hat, hat sich dort „erheblich strafmildernd“ ausgewirkt und auch dazu geführt, dass die ausgesprochene Strafe „ausnahmsweise aufgrund der besonderen Umstände“ im Rahmen einer Verständigung noch zur Bewährung ausgesetzt wurde (siehe S. 7 des Strafurteils, Bl. 131 der Behördenakte). Diesen positiven Wirkungen seines Geständnisses hat der Kläger nun wieder die Grundlage entzogen, indem er in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht behauptet hat, dass sein Geständnis nur aufgrund des Wunsches Dritter erfolgt sei.
b) Auch die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass die Ausweisung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt ist, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiege (§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG), begegnet keinen ernsthaften Zweifeln an der Richtigkeit. Das Verwaltungsgericht hat alle vorgetragenen und erkennbaren Gesichtspunkte ausführlich gewürdigt und gegeneinander abgewogen. Ferner hat es die Ausweisung auch an Art. 8 EMRK gemessen und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger zwar faktischer Inländer ist, dem allerdings seine persönliche und wirtschaftliche Integration im Bundesgebiet nicht gelungen sei; trotz der festen Verwurzelung im Bundesgebiet und der Einbindung in seine Familie sei ihm bei Abwägung der Gesamtumstände und insbesondere im Hinblick auf die von ihm ausgehende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter eine Rückkehr in den Kosovo oder nach Serbien zumutbar.
Die Gesichtspunkte, die der Kläger gegen die Einschätzung, er habe keine wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet, anführt, lagen im Wesentlichen bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vor und wurden von diesem bewertet. Wenn er ausführt, dass er sich ernsthaft darum bemühe, seine schulische Ausbildung abzuschließen und einen „interessengerechten“ Ausbildungsberuf zu ergreifen, legt er eben keine wirtschaftliche Integration dar. Er gibt selbst an, dieser Prozess sei noch nicht abgeschlossen. Gleiches zeigt auch sein Vortrag, er habe eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter getroffen, deren Ziele die Aktivierung, Stabilisierung und „schrittweise Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt“ seien.
Keine Einwendung bringt der Kläger in Bezug auf die gewichtigen Darlegungen des Verwaltungsgerichts vor, dass bei ihm trotz des Aufenthalts seit seiner Geburt eine Integration in die deutsche Gesellschaft nicht oder nur rudimentär stattgefunden habe. Er sei völlig auf die Familie bezogen und habe außerhalb dieser kaum Freunde oder Bekannte. Er und seine Familie seien in ihrer kulturellen Tradition „vollkommen gefangen“. Dieser Eindruck habe sich noch in der mündlichen Verhandlung bestätigt, insbesondere weil der Kläger mehrfach von „uns“ (seinem Kulturkreis) und „euch“ gesprochen habe.
Seine starken Bindungen an seine Familie (Eltern und Geschwister) hat das Verwaltungsgericht gesehen und entsprechend gewichtet. In Bezug auf seine Eltern hat es darauf hingewiesen, dass besondere Umstände einer gegenseitigen Abhängigkeit nicht ersichtlich seien. Soweit nunmehr vorgetragen wird, dass seine schwerbehinderte und pflegebedürftige Mutter auf ihn angewiesen und von seiner Unterstützung und Hilfe abhängig sei, wird diese Behauptung nicht belegt und nicht einmal näher substantiiert. Auch wird an anderer Stelle der Begründung des Zulassungsantrags dargelegt, sein Vater betreue die Mutter und „die beiden noch im Haushalt lebenden Kinder“ (also auch den Kläger).
Der Umstand, dass der Kläger von Geburt an nur eine Niere besitzt und dass er im Jahr 2019 an einer Erkrankung (Nierensteine) gelitten hat, was das Verwaltungsgericht in seinem Urteil nicht erörtert hat, führt ebenfalls nicht zu Zweifeln an der Abwägungsentscheidung. Soweit ersichtlich, hat er seine Erkrankung an Nierensteinen beim Verwaltungsgericht lediglich in der mündlichen Verhandlung und als Grund, weshalb er noch keinen Ausbildungsplatz gefunden habe, erwähnt. Auch die nunmehr vorgelegten Unterlagen legen nicht dar, warum der Kläger nach überstandener Erkrankung weiterhin einer besonderen medizinischen Versorgung bedürfte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren unter Beiordnung seines Bevollmächtigten war mangels hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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