Verwaltungsrecht

Ausweisung, Im Bundesgebiet aufgewachsener irakischer Staatsangehöriger

Aktenzeichen  M 4 K 18.2315

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22110
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG §§ 53 ff.
§ 88 JGG.

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, weil sie unbegründet ist.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids, weil dieser im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO).
I.
Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig, weil dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (1.) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorgenommene Abwägung (2.) der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung des Bescheids und sieht insofern von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Lediglich ergänzend gilt Folgendes:
1. Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gefährdet zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung haben die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei dieser Gefahrenprognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 21.11.2017 – 10 B 17.818, BeckRS 2017, 134588; BayVGH, B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 6.6.2017 – 10 ZB 17.588 – juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 9.5.2017 – 10 ZB 16.57 – juris Rn. 15).
Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers vom 12. Juli 2017 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und acht Monaten unter Einbeziehung des Urteils vom 29. November 2016 wegen räuberischer Erpressung und Bedrohung. Das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und das Eigentum aus Art. 14 GG sind hohe Rechtsgüter, deren Verletzung schwer ins Gewicht fällt. Dabei wurde der Kläger in noch offener Bewährung rückfällig. Eine Wiederholungsgefahr besteht insbesondere, da der Kläger bereits eine Vielzahl von einschlägigen Straftaten begangen hat (1.1.), strafrechtliche Sanktionen und Bewährungsauflagen ihn nicht von weiteren Straftaten abhalten konnten (1.2.), nach Auffassung des Gerichts – abweichend vom Strafaussetzungsbeschluss vom 15. Mai 2018 – vom Aufenthalt des Klägers weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht (1.3.).
1.1. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten, ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe.
Der Kläger hat seit dem Jahr 2013 eine Vielzahl von Straftaten, vor allem Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte, begangen, wobei er sich bis zur Verurteilung vom 12. Juli 2017 in seiner Straffälligkeit kontinuierlich gesteigert hat. Insbesondere wurde der Kläger bereits mit Urteil des Amtsgerichts München vom 29. November 2016 wegen einer räuberischen Erpressung verurteilt, bei welcher der Kläger den Geschädigten unter Einsatz von Gewalt nötigte, das Handy herauszugeben. Jegliche Unterstützung von Seiten der Jugendhilfe oder des Bewährungshelfers beeinflussten den Kläger nicht nachhaltig im positiven Sinne. Zu weitergehenden Maßnahmen der Jugendhilfe, wie einer Internatsunterbringung, war der Kläger nicht bereit. Dieser zeigt, dass er weder gewillt noch in der Lage ist, in Zukunft straffrei in der Bundesrepublik zu leben.
1.2. Der Kläger ändert sein Verhalten auch nicht unter dem Eindruck von strafrechtlichen Sanktionen. Weder ein zweiwöchiger Arrest aufgrund des Urteils vom 9. April 2015, die erlittene Untersuchungshaft vom 8. Juni 2016 bis zum 8. Juli 2016, noch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung mit Urteil vom 29. November 2016 haben den Kläger von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten. Der Kläger wurde trotz allem in offener Bewährung innerhalb von vier Monaten nach der letzten Verurteilung am 28. März 2017 erneut straffällig. Dies geschah trotz engmaschiger Bewährungsauflagen und der Betreuung durch seinen Weisungsbetreuer sowie seinem Bewährungshelfer, die ihm ein positives Verhalten attestierten.
Das Verhalten während der Haft steht der Annahme eine Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Das klägerische Verhalten in vorangegangener Untersuchungshaft und Untersuchungshaftvermeidung gab keinen Anlass zu Tadel, was jedoch nicht zu einer dauerhaften Verhaltensänderung beim Kläger führte. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, war der Kläger während der Haft naturgemäß nicht in der Lage, weitere derartige Straftaten zu begehen. Nach Entlassung aus der Haft erfüllte der Kläger bereits die Weisung Nr. 3, Punkt 4 aus dem Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018 nicht, da er nach Haftentlassung die geforderten 20 Sozialstunden pro Woche nicht ableistete. Es zeigt sich, dass der Kläger ohne strenge Beaufsichtigung in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Eine dauerhafte Änderung seines Verhaltens ist nicht zu erwarten.
1.3. Vor dem dargestellten Hintergrund sieht das Gericht – abweichend vom Beschluss des Amtsgerichts Neuburg a.d. Donau vom 15. Mai 2018, den Rest der Einheitsjugendstrafe gemäß § 88 JGG zur Bewährung auszusetzen, da dies im Hinblick auf die Entwicklung des Klägers und des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne – weiterhin eine vom Aufenthalt des Klägers ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Insbesondere besteht die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum weiter fort.
Das Gericht ist bei der Gefahrenprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht Neuburg a.d. Donau bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung getroffene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB, der im Wesentlichen dem § 88 JGG entspricht, von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris). Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – NVwZ-RR 2013, 435; BayVGH, U. v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 34; BeckOK MigrR/Katzer, AufenthG, § 53 Rn. 22). Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgewichen wird (BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 19.1781 – juris Rn. 11). Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB (bzw. § 88 JGG) geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Betroffenen während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – NVwZ-RR 2013, 435).
Vorliegend kann auch unter Beachtung der Entscheidung des Gerichts Neuburg a.d. Donau nicht der Schluss gezogen werden, dass der Kläger keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundespublik darstellt. Unter Berücksichtigung des längeren Prognosezeitraums über die Bewährungszeit hinaus und des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes des § 88 JGG, der beinhaltet auch ein gewisses Restrisiko zuzulassen (BeckOK JGG/Kilian, JGG § 88 Rn. 14.1), ergibt sich ausländerrechtlich eine abweichende Prognose, dahingehend, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr nicht entfallen ist. Die Beklagte hat zutreffend angenommen, dass der Kläger, der strafrechtlich erstmals 2014 in Erscheinung in Erscheinung getreten ist, über eine verfestigte kriminelle Persönlichkeit verfügt. Die hohe Anzahl an bereits begangenen Straftaten (s.o.) und die ausbleibende Verhaltensänderung unter Eindruck von strafrechtlichen Sanktionen (s.o.) streiten für ein Fortbestehen der Gefahr durch den Kläger.
Über dies kommt einer Aussetzungsentscheidung hinsichtlich der Reststrafe nur vermindertes Gewicht zu, wenn sie nur rudimentär erkennen lässt, auf welcher Tatsachengrundlage sie beruht und ihre Begründung sich in einer pauschalen Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB erschöpft (OVG NRW, B.v.14.8.2019 – 18 A 1127/16 – juris). Das Amtsgericht Neuburg a.d. Donau macht im Beschluss vom 18. Mai 2018 keine weiteren Angaben, sondern begründet die Entscheidung ausschließlich mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 88 JGG. Objektiv nachprüfbare Gründe sind im Beschluss nicht enthalten. Eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Gesichtspunkten fehlt. Schon daher ist diese Entscheidung nur mit verminderter Bedeutung zu berücksichtigen. Außerdem trifft das Gericht seine Entscheidung auf einer aktuelleren und breiteren Tatsachengrundlage.
Entgegen der Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2021, wurde dem Kläger im Rahmen seiner erst zum 1. Februar 2021 begonnenen Ausbildungsstelle zum Verkäufer bei einer Tankstelle bereits gekündigt. Der Kläger verschwieg dies, als er auf Nachfrage des Beklagtenvertreters, wie seine Ausbildung laufe, antwortete, diese laufe „sehr gut“. Auch bei seiner vorigen Ausbildungsstelle, der Fa. …, … … 8.M, blieb der Kläger nicht für die vorgesehene Ausbildungszeit von 24 Monaten, sondern schied nach zwölf Monaten aus. Dort kam es zu einem Konflikt mit einem Kollegen, weswegen die Staatsanwaltschaft u.a. Anklage wegen Bedrohung gemäß § 241 StGB erhob (Az.: 1034 Ls 461 Js 147184/20 jug). Im Rahmen der polizeilichen Zeugenvernehmung vom 7. April 2020 gab der damalige Kollege des Klägers an, der Kläger habe ihn am Kragen gepackt und mit der anderen Hand ein Cutter-Messer mehrmals auf- und wieder zugemacht.
2. Die Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Zu Lasten des Klägers spricht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (2.1.), zu seinen Gunsten ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse (2.2.). Insgesamt überwiegt im Rahmen der Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausweisung gegenüber dem Interesse des Klägers an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet, § 53 Abs. 1 AufenthG (2.3.).
2.1. Im Falle des Klägers wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, da er zum einen wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten mit Urteil vom 12. Juli 2017 rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und er zum anderen, durch dieselbe Verurteilung, zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit verurteilt worden ist (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG).
Ferner wiegt das Ausweisungsinteresse auch schwer, da der Kläger durch Urteil vom 12. Juli 2017 zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde, (§ 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) und zudem mit gleichem Urteil zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wurde, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde (§ 54 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
2.2. Demgegenüber wiegt auch das persönliche Bleibeinteresse des Klägers besonders schwer, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich schon seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
Der Kläger weist auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf, da er als Minderjähriger in das Bundesgebiet einreiste und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Zudem wiegt das klägerische Bleibeinteresse schwer, da der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält (§ 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG).
2.3. Unter Berücksichtigung der weiteren relevanten Umstände fällt die Abwägung im Rahmen einer Gesamtwürdigung letztlich zulasten des Klägers aus
2.3.1. Das klägerische Bleibeinteresse wird dadurch abgeschwächt, dass eine gelungene Integration des Klägers in die Rechts- und Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht stattgefunden hat. Indem der Kläger wiederholt straffällig wurde und damit letztlich zum Ausdruck brachte, dass er sich an die hiesige Vorstellung von Recht und Ordnung nicht zu halten vermag, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er vorhat, sich in Zukunft rechtstreu zu verhalten. Besonders negativ ins Gewicht fallen die hohe Rückfallgeschwindigkeit des Klägers und, dass selbst die Strafaussetzung zur Bewährung diesen nicht davon abhalten konnte, weitere schwere Straftaten zu begehen.
2.3.2. Auch wirtschaftlich hat sich der Kläger nicht nachhaltig in der Bundesrepublik integriert. Abgesehen von einem Mittelschulabschluss hat er keine abgeschlossene Ausbildung vorzuweisen, die ihn für den Arbeitsmarkt qualifiziert. Der Kläger konnte nicht nachweisen, dass er in der Lage ist, über eine längere Zeit einer geregelten Tätigkeit nachzugehen, um das Ziel der Ausbildung zu erreichen. So beendete er zunächst vorzeitig seine außerbetriebliche Ausbildung bei der bfz im September 2019. Daraufhin begann er eine Ausbildung als Verkäufer bei der Firma … am 1. September 2019, die er wiederum nach ca. einem Jahr beendete. Zum 1. Februar 2021 nahm der Kläger eine neue Ausbildung bei einer Tankstelle auf, bei der ihm im Mai 2021 gekündigt wurde. Die Abbrüche lassen auf eine unstete Erwerbsbiographie schließen. Sie vermitteln nicht das Bild einer nachhaltigen wirtschaftlichen Integration. Der Kläger vermag es nicht, unter Beachtung der entsprechenden Regeln, über längere Zeit einer geordneten Tätigkeit nachzugehen. Negativ fällt hier auch ins Gewicht, dass es selbst im Rahmen seiner Ausbildung bei der Fa. … Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen wegen Bedrohung gab (Az.: 461 Js 147184/20 1034 Ls).
2.3.3. Die Bindung des inzwischen volljährigen Klägers zu seinen Eltern, bei denen er nach wie vor lebt, und sein durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschütztes Recht auf Privatleben streiten für einen weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet. Weiter fließt zu dessen Gunsten ein, dass er einen Mittelschulabschluss besitzt. Vor allem spricht für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet bei dieser Abwägung, dass dieser sich seit 2000 im Bundesgebiet aufhält und sein Herkunftsland bereits im Alter von sieben Monaten zusammen mit seiner Familie verließ. Auch die Eltern und Geschwister des Klägers leben seitdem in der Bundesrepublik. Damit ist er als faktischer Inländer einzustufen. Faktische Inländer sind Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind. Sie sind nur noch über das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbunden (BeckOK AuslR/Fleuß AufenthG, § 53 Rn. 87). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener beziehungsweise als Kleinkinder in das Bundesgebiet eingereister Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessener Weise Rechnung zu tragen (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 Trabelsi – 41548/06 – NJOZ 2012, 830; BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – NVwZ 2017, 230, Rn. 19).
2.3.4. Die Verletzungen am Halsbereich des Klägers samt der notwendigen medizinischen Behandlung führen nicht dazu, dass die privaten Bleibeinteressen des Klägers überwiegen. Nach dem Arztbrief des behandelnden Arztes vom … … … ist bereits eine deutliche Besserung der Befunde erreicht worden. Er empfahl eine weitere Behandlung über ein bis zwei Jahre, welche zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits verstrichen sind. Der Kläger entschied sich nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung gegen die Durchführung der angeratenen Operationen im Jahr 2019, sodass eine dringende Behandlungsnotwendigkeit nicht anzunehmen ist. Eine psychische Beeinträchtigung des Klägers, die dessen Fähigkeit zur Integration im Arbeitsleben beeinträchtigen könnte, ist vorliegend nicht erkennbar. Nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung war der Kläger mit 14 bis 15 Jahren in psychologischer Behandlung, seitdem aber nicht mehr.
2.3.5. Es ist dem Kläger zumutbar, aus dem Irak Kontakt zu seiner Familie über Telefon, Briefe und Internet zu halten. Zu Personen in seinem Heimatland Irak hat der Kläger nach seinen Angaben zwar keine relevanten Beziehungen mehr, jedoch spricht er nach eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung Kurdisch. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger keine eigene Kernfamilie hat und nunmehr volljährig ist, sodass er nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist.
2.3.6. Vor diesem Hintergrund fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung, selbst wenn man zu Gunsten des Klägers davon ausgeht, dass er faktischer Inländer ist, zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher zur Wahrung des mit ihr verfolgten Zwecks verhältnismäßig.
II.
Die von der Beklagten verfügte Befristung der Ausweisung auf fünf Jahre unter der Bedingung des Nachweises der Straffreiheit und auf sieben Jahre im Übrigen ist rechtlich nicht zu beanstanden, da Ermessensfehler nicht ersichtlich sind, § 114 VwGO.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG. Über die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist hat die Beklagte gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Sie hat dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu tun und darf hierbei fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, § 11 Abs. 5 AufenthG. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes sowie der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Hierbei bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 2 C 19.11 – juris Rn. 42). Die Befristung kann zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer Straf- oder Drogenfreiheit, § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.
Gemessen an diesen Vorgaben erweist sich die durch den Nachweis der Straffreiheit bedingte Befristung auf fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise als ermessensfehlerfrei. Die Befristung auf fünf Jahre ist angemessen. Auch liegen die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG vor.
Auch die bei Nichterfüllung der Bedingung festgesetzte Frist von sieben Jahren ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch diesbezüglich erweist sich die Befristung als ermessensfehlerfrei.
III.
Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 59 Abs. 1 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
IV.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
V.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung.


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