Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  RN 16 K 18.31689

Datum:
29.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 28455
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund mündlicher Verhandlung am 10.6. und am 21.6.2021 trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten entschieden werden, denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde jeweils darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige, insbesondere innerhalb der Frist des § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG erhobene Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 1.6.2018 ist – soweit er angefochten wurde – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) erfüllt der Kläger nicht die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes oder die Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse. Nicht zu beanstanden sind schließlich Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung (vgl. § 3a Abs. 3 AsylG) an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die soeben genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG), und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
Die Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften hat in Übereinstimmung mit den Vorgaben der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.) zu erfolgen. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 22). Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt aber durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie. Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 – 14 A 2316/16.A – juris Rn. 24). Gem. Art. 4 Abs. 1, 2 und 5 der Qualifikationsrichtlinie kann entsprechend der überkommenen Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 22.3.1983 – 9 C 68/81 – juris Rn. 5 m.w.N.) von dem schutzsuchenden Ausländer erwartet werden, dass er sich nach Möglichkeit unter Vorlage entsprechender Urkunden bemüht, seine Identität und persönlichen Umstände sowie die geltend gemachte Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr nachzuweisen oder jedenfalls substantiiert glaubhaft zu machen. Die üblichen Beweismittel stehen ihm jedoch häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 16 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt daher voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris Rn. 16; U.v. 1.10.1985 – 9 C 19.85 – juris Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris Rn. 3).
b) Legt man diese Anforderungen zugrunde, so hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG. Ihm droht in Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus einem in § 3b AsylG genannten Grund eine Verfolgung gemäß § 3a AsylG durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure. Der Kläger konnte eine individuelle flüchtlingsrelevante Einzelverfolgung nicht substantiiert und glaubhaft geltend machen.
Gemessen an diesen Maßstäben ist das Gericht aufgrund der Angaben des Klägers bei der Anhörung beim Bundesamt und den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass dem Kläger die geltend gemachte Verfolgung bei seiner Ausreise tatsächlich gedroht hat oder ihm eine solche bei seiner Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich drohen wird. Seine Schilderung bleibt auch auf vielfache Nachfrage relativ pauschal, oberflächlich und detailarm. Dem Vortrag fehlt es an einer realitätsnahen Schilderung, die plausible, konkrete Details enthalten würde. So berichtet der Kläger in wenigen Worten („eines Nachts kamen sie zu uns und haben uns angegriffen und haben uns drei Brüder festgenommen und mitgenommen“) von dem angeblich fluchtauslösenden Ereignis, nämlich seiner Entführung. Auch die Zeit seiner Gefangenschaft und insbesondere seine Flucht aus dieser Gefangenschaft konnte er trotz Nachfragen nicht mit anschaulichen Details berichten, wie es bei echt erlebten Geschehnissen, zumal dramatischen, zu erwarten wäre. Weiter sind einige seiner Angaben nicht ganz nachvollziehbar. Dies betrifft insbesondere auch die Angaben des Klägers zu seiner Flucht vor den Taliban. Diese hätten sie zu einem Kampf (erstmals) mitgenommen und ihnen Waffen gegeben. In einem unbeobachteten Moment seien sie davon gelaufen und schließlich zu Hause angekommen. Für das Gericht ist nicht nachvollziehbar, dass die Taliban drei neu Hinzugekommene mit Waffen ausstatten und dann sich selbst überlassen bzw. diese nicht weiter kontrollieren, auch in einer Kampfsituation. Hier konnte der Kläger auch auf Nachfrage nicht genau berichten, wie dieser Kampf abgelaufen sein soll, wie er mit seinen Brüdern kommuniziert haben will und wie sie dann letztendlich Abstand aus der Situation gewinnen konnten. Nicht ganz nachvollziehbar ist auch, wie die Brüder den Heimweg gefunden haben wollen. Zunächst hatte der Kläger angegeben, sie seien mehrere Stunden mit verbundenen Augen im Auto an einen unbekannten Ort gebracht worden. Wie und wo der Kampf stattgefunden haben soll, wie er dorthin gebracht wurde etc., hat der Kläger nicht ausgeführt. Unklar ist jedenfalls, wie die Brüder es schaffen konnten, dass sie – in der Nacht – losgelaufen sind und dann irgendwann der älteste Bruder den Heimweg erkannt haben soll. Hier fehlt es an plausiblen Erklärungen und Ausführungen des Klägers. Weiter bleibt unklar, warum der Kläger zunächst angibt, den ganzen Weg gelaufen zu sein und sich dann – auf die Ausführungen seines Bruders in dessen Verfahren angesprochen – dahin verbessert, dass sie das letzte Stück mit der Rikscha gefahren seien. Die Erklärung, es sei nur ein kurzes Stück gewesen, welches sie gemacht hätten, um nicht aufzufallen, überzeugt an der Stelle nicht, da hier zu erwarten gewesen wäre, dass er dies – als wichtige Einzelheit – bereits vorab berichtet hätte und jedenfalls nicht auf die explizite Nachfrage, ob sie die ganze Strecke gelaufen seien, mit „ja“ geantwortet hätte. Insgesamt erweckten die Angaben des Klägers den Eindruck eines asyltaktisch motivierten Vortrags, der nicht der Wahrheit entspricht.
Ohne dass es noch darauf ankommt, ist weiter darauf hinzuweisen, dass dem Kläger auch eine inländische Fluchtalternative offensteht, er kann sich hierbei sogar seiner Familie anschließen, die seinen Angaben nach mittlerweile in Kabul lebt.
Insgesamt ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass dem Kläger eine individuelle flüchtlingsrelevante Verfolgung bei seiner Ausreise tatsächlich gedroht hat oder ihm eine solche bei seiner Rückkehr nach Afghanistan tatsächlich drohen wird. Dem Kläger ist die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.
2. Dem Kläger steht auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG zu.
Für § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) sind keine Anhaltspunkte ersichtlich (vgl. dazu unter 1.), so dass vorliegend allein die Schutzregelung des § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG der Erörterung bedarf.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG steht einem Ausländer subsidiärer Schutz zu, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Die geforderte „individuelle“ Bedrohung muss dabei nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückzuführen sein. Der betreffende subsidiäre Schutzanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07 – juris, Rn. 43). Die Bestimmung der Gefahrendichte erfordert nach der Rechtsprechung des BVerwG eine quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl (Gewaltniveau). Außerdem muss eine wertende Gesamtbetrachtung erfolgen (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris; BVerwG, U.v. 23.7.2014 – 10 C 6.13 – juris). Der EuGH fordert eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Klägers kennzeichnenden Umstände (EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19, juris Rn. 46). Hierbei kann die Gefahrendichte als relevantes Kriterium für die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohungslage herangezogen werden, jedoch nicht als einzig ausschlaggebendes Kriterium (EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19, juris Rn. 31 ff.).
Unter umfassender Berücksichtigung aller relevanten Umstände ist der Kläger keiner ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt.
a) Nach den vorliegenden Erkenntnissen spricht das Niveau der Gefahrendichte in Afghanistan als einer der relevanten Aspekte für die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung nicht dafür, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vorliegen. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 AsylG ist zunächst die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Nachdem aber auch der subsidiäre Schutzstatus nur zuerkannt wird, wenn die Gefahr landesweit besteht und keine interne Schutzmöglichkeit besteht (§§ 4 Abs. 3 i.V.m. 3 e AsylG), sind auch die landesweiten Opferzahlen in den Blick zu nehmen. Hierbei ist davon auszugehen, dass der Kläger zunächst nach Kabul als Zielort einer Abschiebung, wo momentan seine Familie lebt und dann ggf. in seine Heimatprovinz Kunduz zurückkehrt.
Zwar besteht nach wie vor in Afghanistan landesweit ein bewaffneter Konflikt zwischen den von den internationalen Kräften unterstützten Regierungseinheiten und den pauschal als Taliban bezeichneten Oppositionskräften. Insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2018 3.804 zivile Todesopfer und 7.189 verletzte Zivilpersonen zu beklagen, wobei sich die Opferzahlen auf dem Vorjahresniveau bewegten (UNAMA, Annual Report 2018, Februar 2019, S. 1). Im Jahr 2019 waren die Zahlen mit 3.403 Todesopfern und 6.989 Verletzten insgesamt leicht (um 5%) rückläufig, wobei sich jedoch deutliche Unterschiede innerhalb des Jahresverlaufs ergeben (UNAMA, Annual Report 2019, Februar 2020, S. 5). Ein deutlicher Rückgang der zivilen Opferzahlen um 15% gegenüber dem Vorjahr mit insgesamt 3.035 Todesopfern und 5.785 Verletzten wurde für das Jahr 2020 verzeichnet. Dies ist die niedrigste Zahl an zivilen Opfern seit 2013, wobei jedoch im letzten Vierteljahr ein Anstieg um 45% gegenüber dem letzten Vierteljahr des Vorjahres (2019) zu verzeichnen war (UNAMA, Annual Report 2010, Februar 2021, S. 11). Dieser Trend setzte sich im ersten Vierteljahr 2021 fort, in dem die Zahl der zivilen Opfer um 29% gegenüber dem ersten Vierteljahr 2020 angestiegen ist und 573 Todesopfer sowie 1.210 Verletzte zu beklagen waren (UNAMA, First Quarter Update, 1. Jan. bis 31. März, S. 1).
Aus diesen Zahlen allein kann jedoch weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete bereits allgemein auf eine Extremgefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL geschlossen werden. Dass nicht gleichsam jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt bereits aus einem Vergleich der genannten Opferzahlen mit der geschätzten Einwohnerzahl für ganz Afghanistan von knapp 30 Millionen Personen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres ein Risiko von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1000 (0,1%) verletzt oder getötet zu werden, als weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt angesehen (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris).
In die Betrachtung sind jedoch alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, also alle Umstände, die sich spezifisch auf den Kläger, also auch generell auf das Herkunftsland beziehen, quantitative sowie qualitative Umstände (VG Hamburg, U.v. 11.6.2021, Az. 1 A 1132/19 – juris, Rn. 34).
Die Einzelbetrachtung von Kabul als wahrscheinlicher Zielregion des Klägers anhand der vorliegenden Erkenntnismittel (z.B. EASO, Afghanistan Security Situation, Sept. 2020; ACCORD, Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, veröffentlicht am 6.5.2021) führt nicht zu der Feststellung, dass die Sicherheitslage derzeit so schlecht wäre, dass bereits die bloße Anwesenheit ausreichen würde, um die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens zu begründen. Auch die zivilen Opferzahlen für die Provinz Kabul verdeutlichen dies, unabhängig von den Medienberichten über einzelne Anschläge. Dies gilt auch für die Herkunftsregion des Klägers Kunduz. Auch für die Provinzen Kunduz und Kabul, welche im Jahr 2020 mit 444 (Kunduz) bzw. 817 (Kabul) Toten und Verletzten einen Rückgang von 11% (Kunduz) bzw. einen deutlichen Rückgang von 48% (Kabul) erfahren haben (vgl. UNAMA, Annual Report 2020, Seite 110, Februar 2021), liegt das Risiko für Verletzung oder Tötung weit unterhalb der Schwellen von 1:800 bzw. 0,1% (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 -10 C 13.10 – juris; BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris – Rn. 24). Aus weiteren vorhandenen Erkenntnismitteln ergibt sich kein abweichendes Bild der allgemeinen Sicherheitslage: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 26 ff; Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Die aktuelle Sicherheitslage, September 2020. Die Sicherheitslage ist dennoch insbesondere angesichts des stattfindenden Truppenabzugs und der Friedensverhandlungen volatil. Allerdings lässt sich daraus keine belastbare Prognose für die Entwicklung der Situation in naher Zukunft ableiten (so auch BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris).
Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG hat auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für keine der Regionen Afghanistans angenommen und die Lage in Afghanistan nicht derart eingeschätzt, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG anzunehmen wäre (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris; BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris; BayVGH, B.v. 5.8.2019 – 13a ZB 19.32217 – juris; BayVGH, B.v. 28.3.2019 – 13a ZB 18.33210 -, juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 25.2.2019 – 13a ZB 18.32487 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 30.1.2019 – 13a ZB 17.31111 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.2.2018 – 13a ZB 17.30801 – juris).
b) Auch die Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers ändert hieran nichts. Denn es ist auch nicht zu erwarten, dass dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus dem westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit spezifische Sicherheitsrisiken drohen. Das Auswärtige Amt weist in seinem Lagebericht vom Juni 2020 (S. 24 f.) zwar daraufhin, dass Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden, jedoch keine Fälle bekannt seien, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten gewesen seien. Der UNHCR berichtet zwar von einzelnen Fällen, in denen Rückkehrer gewaltsamen Angriffen ausgesetzt waren (UNHCR – Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 52). Auch EASO berichtet von einzelnen, kaum dokumentierten Vorfällen, stellt aber fest, dass diese jedenfalls nicht von staatlichen Akteuren ausgehen, schwer zu verifizieren und zu quantifizieren sind und häufig unklar ist, ob Grund hierfür wirklich allein ein Aufenthalt im Ausland war (EASO Informationsbericht über das Herkunftsland. Afghanistan. Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 103 ff.). Nichts substanziell anderes ist auch dem Stahlmann-Gutachten vom 28.3.2018 (S. 312 ff.) oder der Studie von Stahlmann (Asylmagazin 2019, S. 276 ff.) zu entnehmen. Diese allenfalls wenigen dokumentierten Fälle von Rechtsgutsbeeinträchtigungen weisen jedoch – auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer – keine solche Häufigkeit auf, dass jeder einzelne Asylrückkehrer daraus die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden, sich somit jeder von ihnen ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sehen kann. An dieser Einschätzung ändert auch die Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen“, hrsg. Juni 2021 nichts. Die Einschätzung basiert auf der Befragung von 113 abgeschobenen Personen und lässt daher angesichts der deutlich höheren Zahl von Abgeschobenen und auch freiwilligen Rückkehrern keinen Rückschluss auf die Allgemeinheit zu. Weiter spricht Stahlmann selbst davon, dass ein großer Teil der von ihr untersuchten Fälle auf private finanzielle Unterstützung zurückgreifen konnte (dort S. 38). Daher sind die Erhebungen nicht generalisierbar und es kann erst Recht nicht der Schluss daraus gezogen werden, dass es für eine Person ohne private finanzielle Unterstützung typischerweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer relevanten Gefährdung kommen wird.
Weitere besondere in der Person des Klägers liegende erschwerende Umstände wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.
Damit ist nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG auszugehen.
Dem Kläger steht demzufolge auch nicht der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG zu.
3. Zuletzt liegen auch Abschiebungsverbote im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C.15.12 – juris = BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – juris = BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489; EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Zu berücksichtigen seien dabei auch seine Verletzbarkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung seiner Lage in angemessener Zeit. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergebe, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK annehmen zu können. Denn die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Anderes gilt nur in besonderen Ausnahmefällen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris, Rn. 6 m.w.N. und Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR). Da eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden kann, ist nach dem Bundesverwaltungsgericht ein sehr hohes Gefährdungsniveau zu fordern. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind (so BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris, Rn. 10).
aa) Die humanitäre Lage und die Lebensbedingungen, die der Kläger in Afghanistan zu erwarten hat, sind nicht derart schlecht, dass davon ausgegangen werden müsste, der Kläger habe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu befürchten. Trotz der sich aus den verwerteten Erkenntnisquellen (vgl. unter anderem Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16.7.2020, Seite 22 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 326ff.; EASO, Country of Origin Information Report, Key socio-economic indicators, August 2017, Seite 19 ff.; EASO, Afghanistan Security Situation, Country of Origin Information Report, September 2020, Seite 43 ff; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update, 30.9.2020, Seite 15 ff.; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, Seite 21ff.) ergebenden desolaten Sicherheits- und Versorgungslage kann nämlich nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer in Afghanistan alsbald in existenzielle Gefahr gerät. Zwar weist der UNHCR darauf hin, dass die traditionell erweiterten Familien- und Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft – insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen die Infrastruktur nicht so entwickelt ist – weiterhin den vorwiegenden Schutzmechanismus bieten und insbesondere rückkehrende Familien ohne männlichen Familienvorstand auf diese familiären Strukturen und Verbindungen zum Zweck der Sicherheit, des Zugangs zur Unterkunft und eines angemessenen Niveaus des Lebensunterhalts angewiesen seien. Alleinstehende Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter haben aber nach Einschätzung des UNHCR auch ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft insbesondere in städtischen Gebieten mit entwickelter Infrastruktur und unter effektiver Kontrolle der Regierung die Chance ihr Auskommen zu finden (vgl. zum Ganzen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, S. 99). Daran hat sich auch durch die Neufassung der UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018 nichts geändert. Zwar mag sich die Situation in Kabul sowie in anderen Provinzen der Nord- und Ostregion auch im Hinblick auf die große Zahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern insbesondere aus Pakistan oder dem Iran in letzter Zeit zugespitzt haben; dem stehen aber auch Gebiete gegenüber, die vom jüngsten Anstieg der Rückkehrbewegung wenig bis kaum betroffen waren (vgl. UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des Deutschen Bundesministeriums des Innern, Dezember 2016).
bb) Es ist auch nicht zu erwarten, dass dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus dem westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht, weil ihm durch seine Rückkehr aus Europa spezifische Sicherheitsrisiken drohen oder es dem Kläger allein aufgrund seiner Rückkehr aus Europa und der damit verbundenen Besonderheiten nicht möglich ist, seine Existenz zu sichern.
Auch wenn die humanitäre Lage in Afghanistan insbesondere auch für Rückkehrer prekär ist, so lässt sich dennoch nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostizieren, dass ein Rückkehrer, wie der Kläger, in absehbarer Zeit in existenzielle Gefahr gerät (ausführlich und m.w.N. zu den spezifischen Schwierigkeiten, aber auch der Unterstützung von Rückkehrern VGH BaWü, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 -, juris Rn. 62 ff., Rn. 89ff; VGH BaWü, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 149 ff., 331 ff.). An dieser Einschätzung ändert auch die aktuelle Studie von Stahlmann (Asylmagazin 2019, S. 276 ff.) nichts. Die Studie stützt sich auf eine Befragung von weniger als 50 Personen und damit auf eine geringe Anzahl von dokumentierten Einzelfällen angesichts der hohen Zahl der Rückkehrer aus dem Westen. Daraus kann nicht der Schluss gezogen werden, dass typischerweise Rückkehrer aus Europa von existenzieller Not betroffen wären, weil sie etwa stets von sozialen Netzwerken und damit Zugang zu Unterkunft und Arbeit ausgeschlossen wären.
Ebenso wenig kann anhand der geschilderten Einzelbeispiele in relativ geringer Anzahl darauf geschlossen werden, dass Rückkehrer aus Europa typischerweise einem höheren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind, s.o.
cc) Dies gilt auch unter Berücksichtigung der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie (vgl. hierzu auch BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris; BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 13a B 20.30957 – juris; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087, juris, Rn. 42ff; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004, juris, Rn. 43 ff; VG Würzburg, U.v. 26.11.2020 – W 1 K 20.31152 – juris; VG Würzburg, U.v. 2.9.2020 – W 1 K 20.30872 – juris; VG München, B.v. 7.8.2020 – M 26a S 20.30506 – juris; a.A. für bestimmte Gruppen VGH BaWü, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris; OVG Bremen, U. v. 24.11.2020 – 1 LB 351/20 – juris), auch wenn sich die SARS-CoV-2-Pandemie in Afghanistan zusehends ausbreitet und mittlerweile die Neuinfektionen den Höhepunkt der ersten und zweiten Welle übersteigen (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 99, 17.6.2021, S. 1). Zum 17.6.2021 waren in Afghanistan bereits 96.531 Personen bestätigt infiziert und sind 3.842 Personen an Covid-19 verstorben (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 99, 17.6.2021, S. 1). Für aktuelle Daten vgl. https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports. Von einer hohen bis sehr hohen Dunkelziffer ist auszugehen, da die Testkapazitäten gering sind und viele sich aus Angst vor Stigmatisierung oder anderen Nachteilen außerdem nicht testen lassen (Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht. Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische L…, Juli 2020; OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 99, 17.6.2021, S. 1).
Infolge der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben sich die Lebensverhältnisse insbesondere in Kabul als Zielort der Abschiebung im Vergleich zur Lage vor Beginn der Pandemie nochmals verschlechtert. Die Folgen für die Lebensmittelversorgung haben zwischenzeitlich ein Ausmaß angenommen, das mit dem während der Dürre von 2018 verglichen wurde (OCHA, Operational Situation Report 14.1.2021, S. 2, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 15). Aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise und des gleichzeitig sinkenden Einkommens stieg die durchschnittliche Verschuldung von Haushalten deutlich an. Mehr als die Hälfte der Binnenvertriebenen nennen den Kauf von Lebensmitteln als Grund für die Schuldenaufnahme (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 86, 3.12.2020, BAMF, Briefing Notes, 16.11.2020, S. 2).
Trotz der (schon vor der Pandemie desolaten) Versorgungslage, hat sich die Ernährungslage aber auf niedrigem Niveau stabilisiert. So konnten Nahrungsmittel und Versorgungsgüter nach Erweiterung der Grenzöffnungen zu Pakistan wieder verstärkt nach Afghanistan geliefert werden (OCHA, Afghanistan Brief COVID-19, Nr. 46, 21.5.2020, S. 3; so auch OCHA, Afghanistan Brief COVID-19, Nr. 52, 11.6.2020, S. 3). Die Grenzübergänge zu Pakistan und in den Iran sind für den Güterverkehr weiterhin offen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.20213). Die Lebensmittelpreise haben sich auf hohem Niveau stabilisiert. Allerdings waren die Auswirkungen von Covid-19 auf den landwirtschaftlichen Sektor bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 16). Zusätzlich gibt es zur Linderung der akuten Not Zuteilung von Nahrungsmitteln etwa durch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, durch das zwischen dem 1.3.2020 und dem 11.10.2020 mehr als 5 Millionen Menschen versorgt wurden (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 15.10.2020, S. 7; weitere Beispiele bei VG Würzburg, U.v. 26.11.2020 – W 1 K 20.31152 – juris, Rn. 47).
In Afghanistan kam es v.a. während der ersten Welle zu Einschränkungen und Begrenzungen der täglichen Aktivitäten, des Geschäftslebens und des gesellschaftlichen Lebens. Berichten zufolge wurden aber die Vorgaben der Regierung nicht befolgt, und die Durchsetzung war nachsichtig. (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan, 21.7.2020, OCHA 16.7.2020). Ein großer Teil der Bevölkerung ist darauf angewiesen, als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt zu verdienen, was durch die Maßnahmen erheblich erschwert oder unmöglich gemacht wurde. Dem Lockdown Folge zu leisten, „social distancing“ zu betreiben und zuhause zu bleiben ist daher für viele keine Option, da viele Afghan/innen arbeiten müssen, um ihre Familien versorgen zu können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 14 f.). Tatsächlich wurden die Auflagen und Empfehlungen zur Eindämmung des Virus oft nicht befolgt und ihre Einhaltung nicht mehr kontrolliert (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 71, 31.8.2020, S. 3). In den meisten Städten haben Läden und Restaurants geöffnet (OCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, Nr. 65, 26.7.2020, S. 1; BAMF, Briefing Notes, 27.7.2020, S. 2). Auch die Teehäuser, in denen einzelne Rückkehrer unterkommen können, haben geöffnet (Schwörer, Gutachten, Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30.11.2020, S. 12). Faktisch können Rückkehrer nach der Erkenntnismittellage dort unterkommen, auch wenn sie sich manchen Quellen zufolge hierfür als Geschäftsreisende ausgeben müssen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 13).
Die großen Reisebeschränkungen wurden zwischenzeitlich aufgehoben; die Bevölkerung kann in alle Provinzen reisen. Zwischen den Städten Afghanistans verkehren Busse (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 15). Bestimmte öffentliche Verkehrsmittel wie Busse, die mehr als vier Passagiere befördern, dürfen nicht verkehren. Der Verkehr in den Städten hat sich wieder normalisiert, und Restaurants und Parks sind wieder geöffnet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, letzte Information eingefügt am 21.7.2020, S. 11). Inlandsflüge und internationale Flugverbindungen werden bedient (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, generiert am 9.4.2021, S. 17). Ab dem 29.5.2021 wurden Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen aufgrund steigender Zahlen zunächst für zwei Wochen geschlossen (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 98, 3.6.2021, S. 1), die Schließungen wurden verlängert, große Versammlungen und Hochzeiten wurden verboten. Darüber hinaus gibt es keine landesweiten Lockdown-Maßnahmen (OCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 99, 17.6.2021, S. 1). .
Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ist keine Änderung der oben beschriebenen Situation ersichtlich.
Auch die Stellungnahme von Frau Stahlmann mit dem Titel „Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener“ vom 27.3.2020 führt zu keiner anderen Einschätzung. Zum einen ist nicht erkennbar, dass die von Frau Stahlmann wiedergegebenen Eindrücke repräsentativ und belastbar sind (vgl. dazu auch VG München U.v. 21.4.2020 – M 16 K 17.41340). Weiter stammt die Einschätzung Stahlmanns von einem Zeitpunkt zu Beginn der Pandemie und ist damit mittlerweile nicht mehr aktuell. Gleiches gilt letztlich für die Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen“ von Frau Stahlmann, herausgegeben im Juni 2021. Zum einen bestehen bereits Bedenken hinsichtlich der Repräsentativität, des methodischen Vorgehens sowie der Validität, Belastbarkeit und Objektivität der erhobenen Daten (s. auch oben). Weiter lässt sich daraus nicht der belastbare Schluss ziehen, dass es einem Rückkehrer typischerweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, sein Existenzminimum zu sichern.
Etwas anderes ergibt sich für die Situation des hiesigen Klägers auch nicht aus dem Gutachten von Frau Schwörer mit dem Titel „Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan“ vom 30.11.2020. In Bezug auf die desaströse Situation der Nahrungsmittelversorgung ergeben sich hieraus keine neuen Erkenntnisse. Soweit die Autorin des Gutachtens davon ausgeht, dass es aufgrund der wirtschaftlichen Lage und den eingeschränkten Ressourcen unmöglich sei ohne Netzwerk eine Anstellung zu finden (Schwörer, S. 16), so handelt es sich dabei um eine Einschätzung der Autorin selbst, die sie durch die gleichlautende Einschätzung einer Portfoliomanagerin stützt. Demgegenüber steht jedoch die Einschätzung der Autorin selbst, dass im Jahr 2020 bereits ca. 750.000 Afghanen aus dem Iran zurückgekehrt seien, 99% davon seien arbeitslose junge Männer. Über eine Verelendung einer Vielzahl dieser Gruppe berichtet sie allerdings nicht. Das Gericht kann aktuell nicht erkennen, dass die wiedergegebenen Eindrücke repräsentativ und belastbar sind. Weiter ist auch nicht ersichtlich, dass die abstrakt beschriebenen Gefahren auf die individuelle Situation des Klägers übertragen werden können.
Das vom Bundesverwaltungsgericht geforderte sehr hohe Gefährdungsniveau, das einen außergewöhnlichen Fall begründen würde, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind (so BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris, Rn. 10), ist nach Ansicht des Gerichts insgesamt jedoch weiterhin nicht erkennbar. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass auch bei der Rückkehr eines leistungsfähigen jungen Mannes diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK droht, sind aus den – wenn auch desaströsen – Lageberichten nicht erkennbar. Berichte, dass solche Rückkehrer in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit und Verelendung betroffen sind, sind zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht ersichtlich, obwohl es eine große Zahl von Rückkehrern, insbesondere aus dem Iran gibt. Bis Ende August sind allein im Jahr 2020 486.000 Personen aus dem Iran zurückgekehrt, weitere ca. 5.300 aus anderen Staaten. 71% aller Rückkehrer kehren infolge einer Abschiebung zurück (SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile vom 30.9.2020, S. 19). Die Ernährungsmittellage wird mit der Lage nach der Dürre im Jahr 2018 verglichen, von der sich der landwirtschaftliche Sektor zwischenzeitlich wieder erholt hatte (Schwörer, Gutachten, Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30.11.2020, S. 15). Insgesamt lässt sich aus den Erkenntnismitteln ersehen, dass die Gründe für den wirtschaftlichen Einbruch, also insbesondere die Maßnahmen gegen die Pandemie wie Grenzschließungen, Lockdown etc., zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits weggefallen sind.
dd) Insgesamt kann das Gericht nicht erkennen, dass für den Kläger ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die seiner Rückkehr entgegenstehen. Auch unter Betrachtung seiner individuellen Lebensumstände liegt kein außergewöhnlicher Fall vor, in dem allein aufgrund der humanitären Umstände eine Verletzung des Art. 3 EMRK droht und ein Abschiebungsverbot damit zwingend anzuordnen wäre.
Denn der Kläger kann auf die Unterstützung seiner Familie zurückgreifen. In Kabul leben nach seinen Angaben bei der mündlichen Verhandlung am 10.6.2021 seine Eltern sowie eine Schwester und ein Bruder. Dort kann der Kläger eine Unterkunft finden. Auch wenn der Vater und Bruder des Klägers nach seinen Angaben derzeit nicht arbeiten, so wird die Familie von einem weiteren Bruder in Dubai finanziell unterstützt. Darüber hinaus leben zwei weitere Brüder des Klägers in Deutschland. Auch diese können die Familie von Deutschland aus finanziell unterstützen oder, wenn sie ihrer Ausreiseverpflichtung nachkommen, in Afghanistan zum Familieneinkommen beitragen. In Folge der technologischen Entwicklungen ist es nicht (mehr) erforderlich, dass die Familie, um Unterstützung leisten zu können, geographisch in der Nähe sein muss. Internationale Geldtransfers sind in Afghanistan über ein Bankkonto oder einen der weit verbreiteten Geldtransferanbieter wie Western Union (IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2018, S. 10) oder das informelle Überweisungssystem „hawala“ auch über Ländergrenzen hinweg (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Afghanistan, generiert am 9.4.2021, S. 342 ff; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 30) möglich. Zudem hat der Kläger in der Anhörung vor dem Bundesamt am 2.2.2018 vorgetragen, die Familie sei wohlhabend, sie hätten viele Grundstücke. Es sei kein Problem gewesen, die Kosten der Ausreise i.H.v. 7.000 € pro Person für die drei Brüder zu bezahlen. Nach afghanischer Tradition ist es nicht vorstellbar, einem nahen Verwandten nicht zu helfen, wenn die Alternative ein Leben auf der Straße ist (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan Networks, Januar 2018, S. 13). Daher ist davon auszugehen, dass der Kläger im Bedarfsfall von seinem familiären Netzwerk unterstützt wird.
Ohne dass es noch darauf ankäme und selbständig tragend, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger außerdem in der Lage ist, selbst für sein Auskommen zu sorgen. Der Kläger ist ein junger, arbeitsfähiger Mann, der 12 Jahre zur Schule gegangen ist. Auch hat er nach eigenen Angaben in Afghanistan bereits praktische berufliche Erfahrungen gesammelt, indem er seinem Vater im Supermarkt geholfen hat. In Deutschland besucht der Kläger die Berufsschule und hat als Verkäufer gearbeitet.
Aus den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen ergibt sich nicht, dass der Kläger arbeitsunfähig oder durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit chancenlos auf dem afghanischen Arbeitsmarkt ist.
Für die Anforderungen an ärztliche Stellungnahmen zur Beurteilung von krankheitsbedingten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit ist die Wertung des § 60a Abs. 2c AufenthG heranzuziehen, auch wenn ein ausdrücklicher Verweis in § 60 Abs. 5 AufenthG fehlt (BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris, Rn. 72).
Die behauptete Erkrankung ist nicht im Ansatz substantiiert worden. Die vorgelegten Stellungnahmen entsprechen nicht den Anforderungen, die ein ärztliches Attest oder Gutachten erfüllen muss, um die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG substantiiert darzutun. Aus diesen muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Die ärztlichen Stellungnahmen vom 13.6.2017, 18.4.2018, 20.11.2018 sind nicht aktuell und damit nicht geeignet eine Aussage über den derzeitigen Gesundheitszustand des Klägers zu treffen. Die Stellungnahme vom 30.1.2018 wurde von keinem Arzt erstellt. Das vorgelegte nervenärztliche Attest vom 7.6.2021 beschränkt sich auf die Behauptung der Erkrankung („chronifizierte depressive Störung“), die entgegen der Anforderungen aus § 60a Abs. 2c AufenthG auch nicht mit ihrem lateinischen Namen oder der Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 aufgeführt wird. Auch unter Heranziehung der beigelegten älteren Atteste wird dies nicht ganz aufgeklärt, denn dort ist (ebenfalls ohne weitere Kennzeichnung) die Rede von einer „schweren depressiven Störung“ (18.4.2018, 20.11.2018), einem „Symptom der schweren Depression“ (18.4.2018) und einer „schweren Depression“ (20.11.2018). Im Attest vom 13.6.2017 wird eine „schwere depressive Störung (ICD 10: F 32.2) benannt. Damit ist unklar, welche Diagnose genau gestellt wird. Auch der Schweregrad der Erkrankung geht aus der aktuellen Stellungnahme vom 7.6.2021 nicht hervor. Weiter ist eine eigene Exploration der Symptome dort nicht erkennbar. Bei den älteren Stellungnahmen ist nicht nachvollziehbar, ob die Feststellungen auf eigenen Beobachtungen oder auf den (nicht überprüften) Behauptungen des Bruders des Klägers und diesem selbst beruhen. Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen führen nicht dazu, dass eine weitere Beweiserhebung veranlasst wäre.
Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger grundsätzlich von seiner Gesundheit her in ausreichendem Maß arbeitsfähig ist, um einer Arbeit nachzugehen.
Bei dieser Ausgangslage ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr ausreichende Möglichkeiten hat, sein Existenzminimum zumindest so weit zu sichern, dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht zu erwarten ist. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung (sogar) davon aus, dass es aus dem europäischen Ausland zurückkehrenden, alleinstehenden, männlichen, arbeitsfähigen, afghanischen Staatsangehörigen auch ohne nennenswertes Vermögen, ohne abgeschlossene Berufsausbildung und ohne familiären Rückhalt möglich ist, sich durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu sichern und sich allmählich (wieder) in die afghanische Gesellschaft zu integrieren (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris; BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 13a B 20.30957 – juris; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087, juris; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004, juris; BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris; BayVGH, U.v. 14.11.2019 – Az. 13a B 19.33359 – juris; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris; BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309; so auch VGH BW, U.v. 26.6.2019 – A 11 S 2108/18 -, juris; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris; U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17, Rn. 470 – juris).
b) Ferner besteht auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Die Gewährung von Abschiebeschutz nach dieser Bestimmung setzt grundsätzlich das Bestehen individueller Gefahren voraus.
aa) Eine derartige Gefahr für Leib oder Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann sich auch aufgrund einer Erkrankung ergeben. Nach § 60 Abs. 7 Sätze 2 bis 4 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen jedoch nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine derartige Gefahr besteht nicht unter Berücksichtigung der SARS-CoV-2-Pandemie. Denn der Kläger ist aktuell ersichtlich nicht erkrankt und leidet auch nicht unter relevanten Vorerkrankungen oder gehört den besonders von einem schweren Verlauf betroffenen Alterskohorten an. Auch für Afghanistan ergibt die Erkenntnislage, dass die Kriterien fortgeschrittenes Alter und Vorerkrankungen entscheidend für das individuelle Risiko eines schweren bzw. tödlichen Verlaufs einer Covid-19 Erkrankung sind. Von den bis zum 04.05.2020 dokumentierten 104 an Covid-19 Verstorbenen in Afghanistan litten 74 an mindestens einer Vorerkrankung (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 6.5.2020, S. 1). Weiter ereignete sich bisher der Großteil der Todesfälle in der Altersgruppe 50-79 Jahre (OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 15.10.2020, S. 1), der der Kläger nicht angehört.
Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Konkret ist eine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn die Verschlechterung der lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung alsbald nach der Abschiebung des Betroffenen einträte (BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – juris Rn. 34).
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 -, juris). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD-10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Hiervon ausgehend ist vorliegend bereits nicht nachgewiesen, dass der Kläger an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Zur Bewertung der vorgelegten Stellungnahmen, vgl. bereits die obigen Ausführungen. Darüber hinaus ist eine schwerwiegenden Verschlechterung bzw. Suizidalität des Klägers bei einer Rückführung auch durch die vorgelegten Stellungnahmen nicht substantiiert worden. Auch bei Zugrundelegung der aktuellen ärztlichen Stellungnahme vom 7.6.2021 ergibt sich nicht, dass eine wesentliche Verschlechterung aus herkunftslandsbezogenen Gründen eintreten würde. Denn die ärztliche Stellungnahme vom 7.6.2021 stellt vornehmlich auf die Folgen einer Trennung des Klägers von dessen Bruder sowie auf den Verbleib des Klägers in Deutschland ab: So hält diese „eine Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland gemäß der Dublin-II-Verordnung“ für nicht möglich und bittet um den „weiteren Verbleib [des Klägers] in der Bundesrepublik Deutschland“. Dabei handelt es sich jedoch um inlandsspezifische Fragestellungen, die im Asylverfahren keine Berücksichtigung finden und ggf. von der Ausländerbehörde zu prüfen sind. Eine weitere Beweiserhebung war daher nicht veranlasst.
bb) Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Auch die Gefahren, die durch die SARS-CoV-2-Pandemie verursacht werden, erfüllen nicht die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Sie sind, da sie unterschiedslos alle Bewohner Afghanistans betreffen, gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG gebieten danach die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn einer extremen Lebensgefahr oder einer extremen Gefahr der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit entgegen gewirkt werden muss, was dann der Fall ist, wenn der Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod ausgeliefert oder erheblichen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt sein würde (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9.95 – juris, Rn. 14 = BVerwGE 99, 324, U.v. 19.11.1996 – 1 C 6.95 – juris, Rn. 34 = BVerwGE 102, 249 sowie U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris, Rn. 16 = BVerwGE 115, 1). Eine derartige Gefahrensituation kann sich grundsätzlich auch aus den harten Existenzbedingungen und der Versorgungslage im Herkunftsstaat ergeben.
Eine derartige Gefahr besteht jedoch nicht, was bereits oben unter 3a) dargestellt wurde.
4. Die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Sie beruht auf den §§ 34 Abs. 1 AsylG, 59 AufenthG. Die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen beruht auf § 38 Abs. 1 AsylG.
5. Die in Ziffer 6 des angegriffenen Bescheids ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 30 Monate ist gleichfalls rechtmäßig. Die Beklagte musste nach den §§ 11 Abs. 2 Sätze 1 und 4, 75 Nr. 12 AufenthG eine Entscheidung über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1
AufenthG treffen. Über die Länge der Frist wird gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Ermessensfehler sind hier nicht ersichtlich. Grundsätzlich darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Hier hat das Bundesamt diese maximale Frist zur Hälfte ausgeschöpft, was nicht zu beanstanden ist. Besonderer Umstände, die eine kürzere Frist gebieten würden, sind vom Kläger weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.


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