Verwaltungsrecht

Einstellung der Klageverfahren im Streit um Anerkennung als Asylberechtigte

Aktenzeichen  Au 6 K 17.33879

Datum:
19.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 16001
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a
AsylG § 3, § 4, § 26
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 92 Abs. 1, Abs. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klageverfahren werden eingestellt, soweit die Klagen hinsichtlich einer Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen worden sind.
II. Unter Aufhebung von Ziffern 1, 3 bis 6 ihres Bescheids vom 28. Juni 2017, soweit er der folgenden Verpflichtung entgegensteht, wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger zu 2 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
III. Die Kläger haben 13/16 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen, die Beklagte hat 3/16 zu tragen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind im noch aufrecht erhaltenen Teil nur für den Kläger zu 2 begründet. Er hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unter Aufhebung des diesem entgegenstehenden Teils ihres Bescheids vom 28. Juni 2017 für seine Person (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger zu 1, 3 und 4 haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 28. Juni 2017 ist daher für sie rechtmäßig und verletzt sie nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Für sie wird Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Für den zurückgenommenen Teilstreitgegenstand des Anspruchs auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG erfolgt die Verfahrenseinstellung nach § 92 VwGO.
2. Der Kläger zu 2 hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG; die Kläger zu 1, 3 und 4 haben keinen solchen Anspruch.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5, 8 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (Lagebericht ebenda S. 8; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 7; Lagebericht ebenda S. 8).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 189.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 117.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter über 53.000 Personen in Untersuchungshaft. Über 154.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; darunter wohl rund 107.000 Personen endgültig entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 9, 15, 31).
Der nach zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand wurde zwar nicht mehr verlängert, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform dauerhaft gesichert, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 8).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 10 f.) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Verfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben die Kläger nicht zu befürchten. Sie gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 24).
Dies gilt auch für die Kläger. Soweit ersichtlich war der Kläger zu 2 nicht wegen seiner Volkszugehörigkeit, sondern wegen seines politischen Engagements und seiner langjährigen Wehrdienstentziehung Ziel staatlicher Maßnahmen; erst recht gilt dies für die Kläger zu 1, 3 und 4 als seine Familienangehörigen.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur DBP oder HDP hat der Kläger zu 2 zu befürchten.
Der Kläger hat im Fall seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen seiner Zurechnung zur DBP zu befürchten, da er glaubhaft eine Vorverfolgung im Zusammenhang mit seiner langjährigen tatsächlichen politischen Tätigkeit für kurdische Belange bis zum Jahr 2016 und damit in Anknüpfung an seine politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal durch den türkischen Staat als Verfolger erlitten hat und in engem sachlichem und zeitlichem Verfolgungszusammenhang hiermit ausgereist ist:
Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5 f., 11 f. – im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 17 m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach – der PKK zugeschriebenen – Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte zum Stand September 2016 bislang fast 5.000 Todesopfer, darunter 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und über 3.700 PKK-Kämpfer (Lagebericht vom 19.2.2017 S. 6; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen (Lagebericht vom 3.8.2018, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 10 a.E.).
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 11 a.E.).
Der nun gewaltsam ausgetragene Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die links-kurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war. In der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen ebenso die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament wie in der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 mit 11,7% der Stimmen und dies trotz Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas (Lagebericht ebenda S. 8, 11 f.), der wegen Äußerungen anlässlich der Newroz-Feiern 2013 zu einer Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt worden ist (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 54). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze verloren 57 der damals 59 HDP-Parlamentsabgeordneten zunächst ihre Immunität und nach rechtskräftiger Verurteilung verloren neun Abgeordnete der HDP auch ihr Parlamentsmandat (Lagebericht ebenda S. 6, 11). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 93 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 11). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 12). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/BDP; seit April 2009 wurden Schätzungen zu Folge in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten über 2.000 Personen verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Bei mehreren Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert sowie 700 Personen wegen kritischer öffentlicher Äußerungen gegen den Militäreinsatz in Afrin (Lagebericht ebenda S. 12). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Während des Wahlkampfes im Jahr 2018 haben türkische Behörden einige Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 55).
Unscharf und Vorwand für die Bandbreite an Repressalien ist der von türkischen Behörden und Gerichten angewandte Begriff des „Terrorismus“. Zwar gewährleistet die türkische Rechtsordnung die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein mit einer unspezifischen Terrorismusdefinition. Seitens der regierenden AKP wird eine Neudefinition des „Terrorismus“-Begriffs im Antiterrorgesetz vorbereitet, wonach auch Personen, die in Medien und sozialen Netzwerken „Terrorpropaganda betreiben sowie Terrororganisationen logistische Unterstützung leisten“, erfasst werden. Ebenso problematisch ist jedoch die sehr weite Auslegung des „Terrorismus“-Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. 482 Verfahren wurden wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten eingeleitet (Lagebericht ebenda S. 13).
aa) Der Kläger zu 2 hat glaubhaft eine Vorverfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger erlitten.
(1) Ausgangspunkt für die Prüfung von Verfolgungsmaßnahmen von einiger Schwere sind die zahlreichen kurzfristigen Festnahmen des Klägers bis zum Jahr 2015. Diese erfolgten möglicherweise auch wegen seines politischen Engagements, waren aber wegen der jeweils kurzfristigen und unbehelligten Freilassung nicht von verfolgungsrelevanter Schwere und für den Kläger auch nicht ausreisebestimmend, so dass es hier auch am Verfolgungszusammenhang fehlt:
Der Kläger führte auf Nachfrage zu seinen Festnahmen bis Juni 2015 und schnellen Freilassung in der mündlichen Verhandlung aus (Protokoll vom 19.6.2019 S. 4 f.), er sei nicht nur einmal, sondern öfter festgenommen worden, der Grund sei, dass er in der kurdischen Partei aktiv gewesen sei, die Jugend mobilisiert habe, den Friedensprozess erklärt habe, dass Soldaten und Polizisten Freunde und Brüder seien. Er sei meist eine Nacht festgenommen und am nächsten Tag freigelassen worden. Sie hätten gewusst, was er mache und wohin er gehe und dass er die humanitäre Hilfe für Kobane mitorganisiere. Er habe keine einfache Tätigkeit gemacht, sondern wesentlich bei der Organisation der Hilfsgüter mitgewirkt und auch beim Bau der Zelte. Auf nochmalige Nachfrage erklärt er, sie hätten ganz genau gewusst, dass er humanitäre Hilfe leiste. Die Festnahmen und Freilassungen seien nur erfolgt, damit sie Angst hätten, das nicht zu tun. Bis Juni 2015 seien sie festgenommen und wieder freigelassen worden, danach nicht mehr. Allerdings hätten ihn sie auch nicht immer erwischt. Er habe sich versteckt.
(2) Anknüpfungspunkt für die Feststellung von Verfolgungsmaßnahmen sind daher die im Jahr 2016 gehäuften und intensiveren Hausdurchsuchungen mit Personensuche nach dem Kläger zu 2:
Hinsichtlich von Hausdurchsuchungen im Jahr 2016 beim Kläger gab er beim Bundesamt an, er sei auch mit Papieren noch ein Wehrdienstverweigerer und die Polizei sei immer zu ihnen nach Hause gekommen und habe die Familie belästigt, er selbst sei nicht zu Hause gewesen, sondern bei der Partei in Syrien und bei seinen Verwandten in … geblieben (ebenda Bl. 121).
Die Beweiserhebung hat ergeben, dass Nachforschungen bei den für den letzten Wohn-/Registrierungsort des Klägers infrage kommenden Strafermittlungs-/Strafverfolgungsbehörden in, … und … zum Ergebnis führten, dass dort keine Ermittlungen gegen den Kläger anhängig sind/waren. Es bestünden keine Hinweise bzw. behördliche Aufzeichnungen, dass im Jahr 2016 Hausdurchsuchungen beim Kläger stattgefunden hätten (VG-Akte Bl. 98).
Der Kläger zu 2 ließ dazu ausführen, dass sich im System e-Devlet und im System UYAP keine Hinweise gegen den Kläger ergäben, sei durchaus möglich, wenn deren Geheimhaltung beschlossen worden sei, dann hätten weder der Beschuldigte noch ein Verteidiger Zugang zu den Vorgängen. Nach Auskunft der Schweizer Flüchtlingshilfe bestehe kein Zugang zu Akten der Staatsanwaltschaft zu abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren mehr. Das gelte auch für Hausdurchsuchungen, die den Beteiligten nicht bekannt gegeben würden. Soweit Betroffenen von Seiten des türkischen Staats die Unterstützung von Terrorismus vorgeworfen werde, gelte diese Geheimhaltung, sodass hierzu keine Ermittlungsergebnisse durch das Auswärtige Amt erzielt werden könnten. Der Kläger zu 2 habe selbst und bestätigt durch seine Ehefrau, den inhaftierten ehemaligen Bürgermeister … und die Abgeordneten, eine Hausdurchsuchung angegeben.
Der Kläger führte in der mündlichen Verhandlung auf Frage des Einzelrichters und Vorhalt, wie er sich erkläre, dass das Auswärtige Amt keine Anhaltspunkte für Hausdurchsuchungen beim Kläger im Jahr 2016 gefunden habe, aus (Protokoll vom 19.6.2019 S. 5 f.), natürlich würden 53 Bürgermeister von Städten gesucht werden und seien auch in Untersuchungshaft und wenn er dagewesen wäre, wäre er festgenommen worden. Es sei jetzt ein diktatorischer Staat und über 10.000 Menschen seien unschuldig und ohne Urteil in Haft. Auf nochmalige Nachfrage erklärt er, das sei keine richtige Auskunft, entweder der Einzelrichter glaube ihm oder der türkischen Regierung, aber seiner Familie, ihnen allen gehe es psychisch sehr schlecht. Der Kläger ergänzt, in der Türkei sei ein System eingeführt worden, gesuchte Leute heimlich festzunehmen. Es würde dann kein offizieller Haftbefehl ergehen, die Information darüber habe niemand und könne auch ein Anwalt nicht erhalten.
Nach der Auskunftslage sind in der Türkei Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Hausdurchsuchungsbefehl nur in begrenzten Fällen möglich, z.B. wenn die Person bereits wegen eines Verbrechens verurteilt oder ein Haftbefehl ausgestellt ist, dann allerdings muss die Hausdurchsuchung gerichtlich bestätigt werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Türkei: Zugang für Familienangehörige zu Hausdurchsuchungs-, Beschlagnahmungs- und Haftbefehlen vom 1.2.2019, S. 4 f.). Der Hausdurchsuchungsbefehl werde dem Betroffenen nicht vorab bekannt gegeben, bei Durchführung dem Betroffenen oder in dessen Abwesenheit dessen in der Wohnung lebenden Familienangehörigen gezeigt, aber in der Regel nicht ausgehändigt (vgl. SFH, ebenda S. 5 f.).
Dies zu Grunde gelegt, kann vorliegend allein daraus, dass keine staatlichen Strafvermittlungsverfahren gegen den Kläger festgestellt worden sind, noch nicht auf das Gegenteil des Behaupteten, dass also keine Hausdurchsuchungen stattgefunden hätten, geschlossen werden. Allerdings ist auch der umgekehrte Schluss, dass für den Kläger eine Geheimhaltung angeordnet sein müsse und die Ermittlungsakten deswegen nicht zugänglich sein könnten, nicht zu ziehen. Letztlich bleibt es dabei, dass aus e-Devlet bzw. UYAP hier keine Erkenntnisse vorliegen, die Hausdurchsuchungen von den Klägern behauptet, aber von Gewährspersonen nicht aus eigener Wahrnehmung bestätigt werden.
Gleichwohl stützen die Angaben der Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung zu den von ihr selbst erlebten Hausdurchsuchungen im Jahr 2016 (Protokoll vom 19.6.2019 S. 8 f.), die Angaben des Klägers zu 2: Die Klägerin zu 1, seine Ehefrau, erklärte, wegen ihres Mannes habe sie ständig unter Druck gestanden. Sie seien immer wieder gekommen, morgens, sieben bis acht Leute, hätten geklopft und seinen gleich einmarschiert. Sie habe sie gefragt, was sie hier suchten, er sei Zivilpolizei gewesen, mancher auch in Uniform. Auf ihre Nachfrage nach dem Grund und der Berechtigung hätten sie verwiesen auf ihre Uniform, das reiche aus. Auf Frage an die Klägerin zu 1, ob die Durchsuchungen auch vor 2015 oder erst danach gewesen seien, erklärt sie, sie sei Analphabetin und könne das Datum nicht sagen. Aber es sei in der letzten Zeit gewesen. Auf Nachfrage, ob die Polizei etwas beschlagnahmt und mitgenommen habe, erklärt die Klägerin zu 1, es sei bei ihnen nichts mitzunehmen gewesen. Sie hätten einen kurdischen Schal mit grüner und gelber Farbe hochgehalten und gesagt, sie seien Terroristen und Verräter. Auf Hinweis der Klägerbevollmächtigten berichtigt die Dolmetscherin ihre Übersetzung dahin, dass der Schal, grün, gelb und rote Farbe gehabt habe.
Diese Schilderung ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts glaubhaft. Die Klägerin zu 1 machte ihre Angaben ruhig und sachlich, erweckte nicht den Eindruck zu übertreiben und das beim Bundesamt nicht erwähnte, im Zusammenhang aber gerade die Glaubwürdigkeit erhöhende Detail des Schals erwähnte sie erst auf gezielte Frage des Einzelrichters, so dass sie nicht den Eindruck erweckte, sich dies vorab zurecht gelegt zu haben, sondern sich des Details erst auf die gezielte Frage hin überhaupt zu erinnern. Gestützt wird dies durch ihre spätere Einlassung, als sie angab, ihr Mann habe sich für die kurdische Partei geopfert, er sei nie für sie dagewesen, aber immer für die kurdische Partei unterwegs gewesen (Protokoll vom 19.6.2019 S. 12). Diese mit einem impliziten Vorwurf an ihren anwesenden Ehemann, sie im Stich gelassen zu haben, verbundene Angabe stützt ihre Glaubwürdigkeit, denn angesichts der jahrelangen Abwesenheiten des Klägers zu 2 erscheint diese familieninterne Spannung plausibel und gerade wegen des Vorwurfs nicht gezielt eingesetzt, um die Angaben des Ehemanns zu untermauern.
Damit ist eine Verfolgungshandlung in der Vergangenheit festzustellen, da die Hausdurchsuchungen nicht nur der Einschüchterung der Familie der Kläger, sondern offenbar der Ergreifung des ortsabwesenden Klägers zu 2 dienten.
bb) Der Kläger hat glaubhaft eine Vorverfolgung in Anknüpfung an seine politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal erlitten.
Vorliegend macht der Kläger als Verfolgungsgrund geltend, 2015 sei er Mitglied des Vorstandes der DBP (Demokratik Bölgeler Partisi) geworden, wozu er Unterlagen über die Parteimitgliedschaft, den Parteivorstand, die Einbürgerung und verschiedene Internet-Artikel zur Situation der DBP in der Türkei, vorlegte (BAMF-Akte Bl. 120). Auf Nachfrage, dass er nach seinen Angaben im Vorstand der Partei gewesen sei, dies aber weder aus dem vorgelegten Dokument noch aus der Darstellung wichtiger Persönlichkeiten der Partei im Internet hervorgehe, erklärte der Kläger, er sei Vorstand für …. Als Parteivorsitzenden kenne er nur Kamuran Yüksek, sonst kenne er niemanden, nannte aber weitere Parteifunktionäre (ebenda Bl. 121 f.). Ein … habe ihm vor dessen Festnahme gesagt, dass sie ihn suchten und festnähmen, wenn sie ihn fänden; er habe ihm geraten, das Land zur verlassen und er sei gezwungenermaßen ausgereist (ebenda Bl. 121). Er sei nicht schon in der Vorläuferpartei der DBP gewesen, habe aber die HEP, DTP, SP und HDP unterstützt (ebenda Bl. 121).
Die Beweiserhebung durch Auskunft des Auswärtigen Amts hat diese Angaben nur teilweise bestätigen können (Fragen aus dem Beschluss vom 30. Juli 2019 mit Antworten aus der Auskunft vom 6. März 2019, VG-Akte Bl. 97 ff.):
Auch an Hand der in Kopie beigefügten Mitgliedsbescheinigung der DBP (Datum 27.1.2017) wurde mitgeteilt, dass der Kläger eingetragenes Mitglied der DBP … ist, Vorstandsmitglied ist er nicht (VG-Akte Bl. 97). Mithin konnte seine Angabe nicht bestätigt werden, dass der Kläger zu 2 nicht nur Mitglied sondern seit dem Jahr 2015 auch Mitglied des Vorstandes der DBP sei.
Der Kläger zu 2 ließ dazu ausführen, er sei Mitglied der DBP, einer Schwesterpartei der HDP und sei deren förmliches Mitglied. Damit sei er nicht bloß ein Sympathisant oder einfaches Mitglied, was auch durch die Bestätigungsschreiben der vormaligen Abgeordneten bestätigt werde. Demnach habe sich der Kläger zu 2 aktiv engagiert.
Hierzu führte der Kläger zu 2 in der mündlichen Verhandlung auf Frage zu der Auskunft des Auswärtigen Amtes, der Kläger sei eingetragenes Mitglied der DBP in, aber nicht Vorstandsmitglied (VG-Akte Bl. 97) aus, er sei offiziell Mitglied der DBP gewesen. Er habe Verantwortung gehabt über alles, habe immer bereit sein müssen und für alles offen. Auf Nachfrage, ob er nur inoffiziell diese Aufgaben gehabt habe oder in offizieller Funktion, erklärt er, er sei Mitglied und auch offiziell Vorstand gewesen. Aber alle Dokumente seien von der Polizei weggenommen worden, alle offiziellen Beweise über die Partei, das sei 2016 gewesen (Protokoll vom 19.6.2019 S. 6).
Damit ist der Widerspruch nach wie vor offen, dass der Kläger behauptet, offizielles Vorstandsmitglied der DBP gewesen zu sein, was die Beweiserhebung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen konnte. Eine Anknüpfung einer staatlichen Verfolgung an eine Vorstandstätigkeit ist daher zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht beachtlich wahrscheinlich.
Ebenso wenig konnte bestätigt werden, dass der Kläger zu 2 Mitglied der HDP ist. Trotz der in Kopie vorgelegten Mitgliedsbescheinigung der HDP (Datum 28.3.2017) haben Nachforschungen bei den lokalen Strukturen der Partei ergeben, dass der Kläger kein eingetragenes Mitglied in der HDP ist (VG-Akte Bl. 97).
Hierzu führte der Kläger zu 2 in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt des Einzelrichters zur vorgelegten Mitgliedsbescheinigung der HDP und der Auskunft des Auswärtigen Amts, Nachforschungen bei den Lokalstrukturen hätten ergeben, dass der Kläger kein eingetragenes Mitglied sei (VG-Akte Bl. 97) aus, in der praktischen Ebene habe er alles gemacht. Er sei offiziell auch Mitglied. Er habe Anmeldungen und Dokumente öfters beantragt und dass sie es auch zurückschickten, habe aber keine Antwort bekommen. Er nennt mehrere Namen von Mit-Vorsitzenden der DBP, unter anderem …. Auf nochmalige Nachfrage zur Mitgliedsbescheinigung der HDP erklärte der Kläger zunächst, er sei Mitglied der DBP, aber nicht von der HDP. Die Klägerbevollmächtigte zeigte dem Kläger die vorgelegte Bescheinigung aus ihren Akten, daraufhin erklärt er, er sei Mitglied bei der HDP und bei der DBP gewesen. Die Parteien würden eng kooperieren, es seien die gleichen Parteien im Westen bzw. im Osten der Türkei (Protokoll vom 19.6.2019 S. 6 f.).
Damit ist auch dieser Widerspruch nach wie vor offen, dass der Kläger behauptet, offizielles Mitglied der HDP gewesen zu sein, was die Beweiserhebung des Verwaltungsgerichts nicht bestätigen konnte. Eine Anknüpfung einer staatlichen Verfolgung an eine HDP-Mitgliedschaft ist daher zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht beachtlich wahrscheinlich.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger in gleicher Weise in Gefahr von Strafverfolgung wäre wie jener, der ihm vor dessen Festnahme gesagt habe, dass sie ihn suchten und festnähmen, wenn sie ihn fänden; er habe ihm geraten, das Land zur verlassen und der Kläger sei gezwungenermaßen ausgereist (ebenda Bl. 121).
Hinsichtlich des Bürgermeisters … ergab die Beweiserhebung, dass dieser während seiner Amtszeit als Bürgermeister von … (Provinz …) am 2. Dezember 2016 inhaftiert wurde, sich seit dem Verhaftungsdatum in Haft befindet und durch das 6. Gericht für Schwere Straftaten … wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation am 17. Dezember 2018 zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 4 Monaten verurteilt (VG-Akte Bl. 98).
Hierzu führte der Kläger zu 2 in der mündlichen Verhandlung zu seinem Verhältnis zum genannten Bürgermeister von … aus, sie hätten Jahre lang in der gleichen Partei gearbeitet und seien Parteifreunde. Auf Nachfrage zum Vorhalt des Bundesamts, sie seien in ihrer Rolle als Amtsperson der Bürgermeister und als einfaches Parteimitglied der Kläger nicht vergleichbar, erklärt er, er würde auch als ganz normales Mitglied verfolgt. Er habe zusammengearbeitet mit dem Bürgermeister bevor und auch nachdem dieser Bürgermeister geworden sei. Dieser habe ihn aufgefordert, seine Familie zu nehmen und das Land zu verlassen. Auf der praktischen Ebene hätten sie die gleichen Sachen gemacht. Auf Nachfrage, warum dann dieser Bürgermeister nicht auch rechtzeitig ausgereist sei, wenn er sich so in Gefahr gewähnt hätte, erklärt der Kläger, dieser habe kein offizielles Verfahren gehabt. Als Bürgermeister verlasse man das Land nicht. Er sei im Amtssitz verhaftet worden (Protokoll vom 19.6.2019 S. 7 f.).
Damit ist eine Anknüpfung einer staatlichen Verfolgung an eine vergleichbare Tätigkeit des Klägers mit jenem Bürgermeister mangels einer Amtsstellung des Klägers zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht beachtlich wahrscheinlich.
Anderes ergibt sich auch nicht aus den Stellungnahmen von Abgeordneten der HDP für … (… und …) vom 10. September 2017 (VG-Akte Bl. 61 ff.). Ob diese nun Gefälligkeitsschreiben sind oder nicht, bestätigen sie eine Mitgliedschaft des Klägers bei der HDP, die so nicht zutrifft (sondern bei der DBP, siehe oben), sowie eine Angabe vom Hörensagen mit dem Kläger und dessen Familie als Quelle in der einen Bestätigung sowie von Nachbarn und der Verwandten in der anderen Bestätigung, wonach die Polizei mehrfach das Haus des Klägers aufgesucht habe. Eine eigene Wahrnehmung hierzu wird von beiden Abgeordneten nicht behauptet. Ihnen kommt daher kein gesteigerter Beweiswert im vorliegenden Verfahren zu.
Anknüpfungspunkt für eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende staatliche Verfolgung durch türkische Sicherheitskräfte ist beim Kläger allein sein Engagement für kurdische Flüchtlinge aus Kobane.
Er hat hierzu in der mündlichen Verhandlung auf Frage nach dem konkreten Ausreiseanlass im Jahr 2016 angegeben, er sei aber weiter sehr aktiv gewesen. Er habe mit anderen zusammen humanitäre Hilfe geleistet, sie hätten zwei Lastwagen mit Lebensmitteln und Hilfsgütern gepackt, er sei auch in der Stadt … gewesen. Es sei die Zeit 2015/2016 gewesen. Dann sei der Anschlag von … gekommen, die Jugendlichen seien ermordet worden, die zuerst Vereine für den Aufbau von Kobane gegründet hatten. Seine Aufgabe sei gewesen, zusammen mit seinen Freunden zusammen in dieser Zeit zu helfen. Bei dem Bombenanschlag sei er nicht dort gewesen, sie hätten die Route nach Kobane gezeichnet und wie man das Material dort hinbringen könne. Die Jugendlichen hätten sich an seinem Kulturzentrum gesammelt, wenn er auch dort gewesen wäre, würde er nicht mehr leben. Das Kulturzentrum heiße … -Kulturzentrum. Er erklärt weiter, es sei die Zeit vor und dann auch nach dem Putsch gewesen, als er vom Bürgermeister von … gerufen worden sei und gewarnt worden sei, er solle weggehen und das Land verlassen. Auch Abgeordnete hätten ihn gewarnt, ergänzt er bei der Rückübersetzung. Er habe allen geholfen vor Ort, auch älteren Müttern, aber die Polizei sei gegen sie gewesen (Protokoll vom 19.6.2019 S. 7).
Diese Angaben ergänzen den bisherigen Vortrag des Kläger vor dem Bundesamt, die Polizei sei immer zu ihnen nach Hause gekommen und habe die Familie belästigt, er selbst sei nicht zu Hause gewesen, sondern bei der Partei in Syrien und bei seinen Verwandten in … geblieben (BAMF-Akte Bl. 121). Seine Familie habe Druck durch die Polizei bekommen, sogar seine Tochter sei in der Schule aufgesucht worden. Ein … habe ihm vor dessen Festnahme gesagt, dass sie ihn suchten und festnähmen, wenn sie ihn fänden; er habe ihm geraten, das Land zur verlassen und er sei gezwungenermaßen ausgereist (ebenda Bl. 121).
Auf Nachfrage seiner Bevollmächtigten erklärte er, als in … der Anschlag gewesen sei, habe er vor und nach dem Anschlag Menschen mobilisiert. Auf Nachfrage seiner Bevollmächtigte, ob er bei dem Anschlag vor Ort gewesen sei, oder nicht, erklärt er, beim Attentat sei er nicht vor Ort aber in der Stadt gewesen und sofort hingegangen (Protokoll vom 19.6.2019 S. 10).
Der Kläger hat sich daher zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts erheblich und nicht nur beiläufig in der Hilfeleistung für Kurden in und aus Kobane engagiert, was von türkischer Seite nicht als rein humanitäres sondern vor allem als kurdisch-politisches Engagement bewertet wird:
Der Kläger betonte noch, er habe humanitäre Hilfe geleistet, aber auch politische Arbeit. Wenn irgendeine Veranstaltung gewesen sei, auch eine Hochzeit, sei er vor Ort gewesen als Vorstand und als Mitglied. Sie seien dagewesen, um die Menschen zu schützen und ihnen zu signalisieren „wir sind bei euch“. Sie hätten gezeigt, dass sie von der HDP seien und nicht von den Sozialdemokraten. Auf Frage nach seiner praktischen Rolle erklärt der Kläger zu 2, als „…“ habe ihn jeder vor Ort gekannt. Bei der Rückübersetzung ergänzt der Kläger, als „…“ kenne ihn niemand. Er habe sehr viel Verantwortung vor Ort gehabt. Er habe auch Volkstänze organisiert und selbst getanzt. Sie hätten als Partei daran teilgenommen, um ein Zeichen zu setzen. Sie hätten viel Verantwortung gehabt und wollten, dass sich die Leute nicht allein fühlten. Auf Frage seiner Bevollmächtigten, was er konkret gemacht habe, erklärt der Kläger zu seiner politischen Arbeit, er habe z.B. an vielen Sitzungen und Kundgebungen teilgenommen. Als drei Frauen in Paris ermordet und in der Türkei beigesetzt worden seien, habe er an der Kundgebung teilgenommen und diese unterstützt. Auf Nachfrage seiner Bevollmächtigten, ob er bei den Versammlungen und Veranstaltungen nur als Zuhörer oder als Mitwirkender dabei gewesen sei, erklärt er, er habe wie Andere Verantwortung gehabt, er habe nicht als einfaches Mitglied teilgenommen, sondern Verantwortung gehabt, bis die Versammlung beendet worden sei. Auf Frage seiner Bevollmächtigten, ob er auch Kontakt zur Bevölkerung gehabt und Werbung für die Parteien in der Bevölkerung gemacht habe, erklärt er, natürlich habe er das gemacht. Auf Frage seiner Bevollmächtigten, wo genau er sich politisch engagiert habe, erklärt er, in, in, in, in, in …. Er sei in allen vier Teilen von Kurdistan unterwegs gewesen. Welche Aufgaben man ihm gegeben habe und was notwendig gewesen sei, habe er gemacht (Protokoll vom 19.6.2019 S. 9 ff.).
Daher ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht wegen eines bloßen humanitären Engagements, sondern wegen der Einbettung dieses humanitären Engagements in eine langjährige politische Tätigkeit für die kurdische Bevölkerung beidseits der türkischen Staatsgrenze im Südosten von staatlicher türkischer Seite her kurdisch-politischen bis kurdisch-separatistischen Strömungen zugerechnet wird. Es handelt sich um ein Verfolgungsmerkmal im Sinne des § 3 AsylG, das ihm vom türkischen Staat zugeschrieben wird.
cc) Dem Kläger droht wegen der erlittenen Vorverfolgung auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Verfolgung im Fall seiner Rückkehr; insofern ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hier reduziert.
Die o.g. Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn – wie hier -frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend gemacht werden, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25).
Eine solche Verfolgung ist auch im Fall einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für den Kläger zu 2 zu befürchten:
Auf Nachfrage seiner Bevollmächtigten, ob ihm bekannt geworden sei, dass man nach seiner Ausreise aus der Türkei dort nach ihm gefragt habe, erklärte er, die Jandarma habe beim Dorfvorsteher nachgefragt, der Kläger habe es vom Dorfvorsteher erfahren. Auf Nachfrage, wann, erklärte er, zuletzt bei der Bürgermeisterwahl, aber sie seien auch noch bei seinem Vater gewesen und hätten ihn gefragt, wo sein Sohn sei. Der Vater habe geantwortet, sein Sohn habe das Land verlassen, obwohl sie das Land gerettet hätten. Sie hätten veranlasst, dass er das Land verlassen habe. Auf Nachfrage wann, gibt der Kläger an, Dezember 2017, Anfang 2018, nachdem er hierhergekommen sei. Unter Nachfrage seiner Bevollmächtigten wiederholt er, zuletzt bei der Bürgermeisterwahl. Auf Nachfrage bestätigt er, er meine die letzte im Frühjahr 2019 (Protokoll vom 19.6.2019 S. 11).
Damit steht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts fest, dass türkische Sicherheitsorgane weiter Anlass sehen, nach dem Kläger zu 2 zu fragen, um sich seiner zu bemächtigen. Eine Verhaftung wegen seines politischen Engagements, so sie wohl nicht mehr mit kurzfristiger Freilassung endete sondern länger andauerte mit dem Ziel, die kurdisch-politisch Aktiven handlungsunfähig zu machen, bedeutet eine Verfolgungshandlung, die ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Daher ist auch die Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund gegeben.
Die vorgenannte Vermutung ist auch nicht durch die Beklagte widerlegt worden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Daran fehlt es hier, denn die Beklagte hat insoweit nur geltend gemacht, eine Gefahr weiterer Verfolgung durch wiederholte Verhaftung sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen:
Die Beklagte führte u.a. aus, der Kläger zu 2 hebe sich aus der Masse der Sympathisanten und einfachen Mitglieder der DBP nicht durch eine spezielle Aufgabe oder sonstiger Art hervor, dass eine Verfolgung durch den türkischen Staat alleine deswegen anzunehmen wäre; Vorstandsmitglied der DBP sei er nicht gewesen. Gegen ihn seien auch keine strafrechtlichen Ermittlungen anhängig. Haftbefehle oder Gerichtsverfahren seien ebenfalls nicht nachgewiesen, auch nicht durch Auszug aus e-Devlet.
Dem gegenüber kann – wie ausgeführt – aus der Unerweislichkeit amtlicher Haftbefehle oder Hausdurchsuchungsbeschlüsse nicht darauf geschlossen werden, dass diese nicht stattgefunden hätten (vgl. oben). Dass der Kläger nicht nachweislich Vorstandsmitglied, aber kurdisch-politisch jahrelang aktiv gewesen ist, stellt auch die Beklagte nicht in Abrede. Ihre Bewertung des Klägers als eines bloßen Sympathisanten oder einfachen Parteimitglieds aber kann so keinen Bestand haben:
Der Kläger hat zum zeitlichen und sachlichen Engagement bereits die o.g. Angaben gemacht. Zum regionalen Engagement gab er in der mündlichen Verhandlung auf Frage seiner Bevollmächtigten, wo genau er sich politisch engagiert habe, an, in, in, in, in, in …. Er sei in allen vier Teilen von Kurdistan unterwegs gewesen (Protokoll vom 19.6.2019 S. 11).
Die Beklagte hatte die Möglichkeit, durch Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und Fragen an den Kläger zu 2 ihren Zweifeln nachzugehen. Dies hat sie aber nicht getan.
Für den Einzelrichter hingegen ist zu seiner richterlichen Überzeugung die beachtliche Wahrscheinlichkeit künftiger Verfolgung des Klägers zu 2 im Falle von dessen Rückkehr in die Türkei gegeben.
cc) Ihm steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da derart politisch aktive Kurden wie er bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit seiner Tätigkeit auch ohne Nachweis aus e-Devlet oder UYAP von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist. Er war glaubhaft nicht bloß Sympathisant oder Teilnehmer an Kundgebungen oder Hilfsgütersammlungen, sondern aktiv und in verantwortlicher Funktion in deren Organisation eingebunden, auch wenn eine förmliche verantwortliche Position durch die Beweiserhebung nicht bestätigt werden konnte. Dies hat er durch detaillierte Angaben in der mündlichen Verhandlung untermauert.
dd) Der Kläger zu 2 ist auch im sachlichen und zeitlichen Verfolgungszusammenhang mit den letzten Hausdurchsuchungen im Jahr 2016 ausgereist.
ee) Auf etwaige Maßnahmen gegen den Kläger zu 2 wegen Wehrdienstentziehung kommt es flüchtlingsrelevant nicht mehr an, da er selbst eingeräumt hat, dass insoweit die Akten wohl „unter den Tisch fallen“ gelassen wurden und der Kläger aus seiner Sicht wegen anderer Aktivitäten gesucht werde (Protokoll vom 19.6.2019 S. 4, 6).
ff) Da dem Kläger zu 2 ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
d) Eine solche Verfolgung haben die Kläger zu 1, 3 und 4 nicht zu befürchten.
Wie bereits vom Bundesamt zutreffend gewürdigt, erreichten die staatlichen Maßnahmen gegen die übrigen Kläger nicht eine flüchtlingsrelevante Schwere. Die Hausdurchsuchungen und auch die Befragung der Klägerin zu 3 in der Schule bzw. auf dem Schulweg richteten sich zwar an ihre Person, knüpften aber nicht an ein ihnen staatlicherseits vorgeworfenes politisches Engagement an, sondern an die Person und das Engagement des Klägers zu 2, von dessen Folgen sie letztlich reflexhaft ebenfalls betroffen wurden.
Eine Gruppenverfolgung ist nicht gegeben, da die Familie der Kläger von außen nicht als abgegrenzte soziale Gruppe sondern schlicht als untereinander verwandte Familie wahrgenommen wird, der sonst kein sie kennzeichnendes und von anderen Personen unterscheidendes Merkmal zugeschrieben wird.
Soweit die Flüchtlingszuerkennung des Klägers zu 2 bestandskräftig wird, was als Anspruchsgrundlage im Zeitpunkt dieses Urteils noch nicht erfüllt ist und die gleichzeitige Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz durch das Verwaltungsgericht daher ausschließt, können die Kläger zu 1, zu 3 sowie zu 4 Familienflüchtlingsschutz bei der Beklagten nach § 26 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG beantragen.
3. Die Kläger zu 1, zu 3 sowie zu 4 haben auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Die Kläger zu 1, zu 3 sowie zu 4 haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 26 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
b) Die Kläger zu 1, zu 3 sowie zu 4 haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Türkei unterliegt als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention dem Folterverbot ebenso wie den Mindeststandards für die Ausgestaltung von Haftbedingungen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte näher beschrieben worden sind (EGMR, U.v. 20.10.2016 – 7334/13 – juris; unter Bezugnahme hierauf BVerwG, B.v. 9.11.2017 – 1 VR 9.17 – InfAuslR 2018, 88 f.): Danach stellt die Unterbringung eines Häftlings in einer überbelegten Gefängniszelle, in der dem Häftling lediglich ein Platz von 3 m² bis 4 m² zur Verfügung steht, eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der räumliche Faktor mit anderen Aspekten ungeeigneter physischer Haftbedingungen verbunden ist, die insbesondere den Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht, Verfügbarkeit von Belüftung, Angemessenheit der Raumtemperatur, Möglichkeit zur privaten Toilettenbenützung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Erfordernisse betreffen.
Eine beachtliche Gefahr von Folter besteht hier indes nicht. Die Kläger zu 1, zu 3 sowie zu 4 haben bisher keine solche Misshandlung erlebt bzw. glaubhaft vorgetragen; auch die von der Klägerin zu 3 erwähnten Übergriffe stellen sich nach Aktenlage – auf ihre nähere Befragung wurde in der mündlichen Verhandlung hin auf ihre Bitte verzichtet – nicht als Misshandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf die Begründung im Bescheid des Bundesamts wird hierzu Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG – mangels noch stärker zu berücksichtigender schutzwürdiger Belange der Kläger zu 1, 3 und 4 unter Berücksichtigung des noch nicht erfüllten Anspruchs auf Familienflüchtlingsschutz – als rechtmäßig erweist, war die Klage für sie mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen und der Klage des Klägers zu 2 im noch aufrechterhaltenen Umfang mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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