Verwaltungsrecht

Einstweilige Anordnung auf Gewährung einer Schulbegleitung

Aktenzeichen  12 CE 18.1899

Datum:
7.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 23720
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 35a
VwGO § 123 Abs. 1, Abs. 3
ZPO § 920 Abs. 2

 

Leitsatz

Hat bei der Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung der Antragsgegner die notwendige Feststellung über das Vorliegen einer mit der Einschulung zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung nicht getroffen, ist das Verwaltungsgericht gehalten, über den Erlass der einstweiligen Anordnung auf Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Schulbegleitung im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei zu beachten ist, dass die beantragte Schulbegleitung nicht rückwirkend erbracht werden kann.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 3 E 18.1105 2018-09-03 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 3. September 2018 – B 3 E 18.1105 – wird aufgehoben.
II. Der Antragsgegner wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die beantragte Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung an der Grundschule K. für die Zeit ab dem 11. September 2018 bis zum 28. September 2018 zu bewilligen bzw. soweit aus tatsächlichen Gründen ein Einsatz fremder Kräfte nicht mehr in Betracht kommt, durch eigene Kräfte zu gewähren.
III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Eilverfahrens in beiden Rechtszügen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
IV. Der Vollzug von Ziffer II. ist dem Senat bis spätestens Montag, den 10. September 2018, 14.00 Uhr schriftlich anzuzeigen.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO, durch die der Antragsgegner unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 3. September 2018 verpflichtet werden soll, dem Antragsteller für die Zeit vom 11. September 2018 bis 28. September 2018 Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form einer Schulbegleitung zu bewilligen, hat Erfolg.
2. Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann der Senat auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Ferner sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist in beiden Fällen (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dass einerseits ein Anspruch glaubhaft gemacht wird, dessen vorläufiger Sicherung die begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und dass andererseits die Gründe glaubhaft gemacht werden, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund).
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung allein der vorläufigen Sicherung eines Anspruchs bzw. der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Nimmt sie die Hauptsache jedoch bereits (ganz oder teilweise) vorweg, unterliegt ihr Erlass qualifiziert hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4). Indes liegt im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts aufgrund der Beschränkung der beantragten Schulbegleitung auf einen Zeitraum von ca. 3 Wochen keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache vor. Denn der Antragsteller erstrebt ersichtlich eine vorläufige Zwischenregelung für den Zeitraum bis zur Entscheidung des Antragsgegners in der Hauptsache.
3. Nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO ist der Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig der vom Antragsteller glaubhaft gemachte Sachverhalt zugrunde zu legen. Führte jedoch die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes zu schweren und unzumutbaren Nachteilen des Antragstellers, die nicht oder nicht effektiv rückgängig gemacht werden können, gebietet dieser Umstand eine eingehende Prüfung auch der entscheidungserheblichen Tatsachen durch das Gericht. Ist indes die erforderliche Tatsachenermittlung aufgrund der Dringlichkeit oder Komplexität der Sache im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich, erfordert es das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG, über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden, vorausgesetzt der Hauptsacheantrag ist nicht von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet anzusehen (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833 – juris Rn. 25; B.v. 23.1.2017 – 10 CE 16.1398 – juris Rn. 16; ferner BVerfG, Beschlüsse vom 25.7.1996 – 1 BvR 638/96 -, NVwZ 1997, 479 f.; vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07 – NVwZ 2008, 880 f.; vom 25.2.2009 – 1 BvR 120/09 -, NVwZ 2009, 715 f.; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl., § 123 Rn. 79, 100, m.w.N.; Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 6. Aufl. 2011 Rn. 200; Saurenhaus, in: Wysk, VwGO, § 123 Rn. 18). Erweist sich demgegenüber der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber später Erfolg hätte, den Nachteilen gegenüberzustellen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag in der Hauptsache aber später erfolglos bliebe (vgl. Dombert in: Finkelnburg/Dombert/ Külpmann, a.a.O., Rn. 203 ff.). Dabei gilt es insbesondere im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass die beantragte Schulbegleitung grundsätzlich nicht rückwirkend erbracht werden kann und sie daher zeitlich nicht mehr nachholbar ist.
4. Hiervon ausgehend sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfüllt.
4.1 Das in der Hauptsache verfolgte Begehren der Bewilligung einer Schulbegleitung für das Schuljahr 2018/2019 ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Denn der Antragsteller rechnet unstrittig zum grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII. Auch zählt die Bewilligung einer Schulbegleitung im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGB XII, § 12 Nr. 2 der Eingliederungshilfeverordnung – EinglHVO – zu den Leistungen der Eingliederungshilfe (Stähr in: Hauck/Noftz, SGB, Stand Mai 2015, § 35 SGB VIII). Ob der Antragsteller darüber hinaus nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aktuell beeinträchtigt oder eine derartige Beeinträchtigung zu erwarten ist, hat der Antragsgegner durch die sozialpädagogischen Fachkräfte des Jugendamts bislang nicht untersucht.
4.2 Das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung ist regelmäßig auf der Basis der Stellungnahmen nach § 35a Abs. 1a SGB VIII im Rahmen eines fachlichen Zusammenwirkens von ärztlichen, psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Fachkräften unter Federführung des Jugendamtes zu beurteilen und unterliegt den Grundsätzen sozialpädagogischer Fachlichkeit (Stähr, in: Hauck, Noftz, SGB, 05/15, § 35a SGB VIII unter Hinweis auf OVG NRW, B.v. 15.10.2010 – 12 B 870/14, juris). Demgemäß müssen die Fachkräfte des Jugendamts aufgrund einer Bündelung unterschiedlichster Informationen, z.B. aus der Schule, aus dem Freizeitbereich, aus dem Elternhaus, von Ärzten, aber insbesondere auch von den Betroffenen selbst, zu einer Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung im Einzelfall gelangen (Wiesner u.a., SGB VIII, 4. Aufl., § 35a Rn. 25). Was den Besuch der Kindertagesstätte durch den Antragsteller anlangt, hat der Antragsgegner bereits am 6. April 2018 eine mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Teilhabebeeinträchtigung festgestellt. In der Folge hat er es jedoch unterlassen, trotz eines bereits im Januar 2018 gestellten Antrags auf Bewilligung eines Schulbegleiters für weitere Lebensbereiche, insbesondere den Lebensbereich Schule, unter Berücksichtigung der oben genannten Anforderungen rechtzeitig vor der Einschulung des Antragstellers eine Entscheidung über das Vorliegen einer drohenden Teilhabebeeinträchtigung zu treffen. Die Einschätzung des Antragsgegners wie auch des Verwaltungsgerichts, erst der tatsächliche Schulbesuch eröffne aufgrund der konkreten Klassensituation die Möglichkeit, das Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung zu beurteilen, geht indes fehl, zumal dann, wenn die Beeinträchtigung des Antragstellers gerade aus dem Wechsel von der Kindertagesstätte in die Schule resultiert. Der pauschale Verweis auf das übliche, standardisierte Vorgehen des Antragsgegners wird dem naturgemäß notwendigen Einzelfallbezug der Einschätzung nicht gerecht, jedenfalls dann nicht, wenn – wie in vorliegendem Fall – gerade bei der fachärztlich geschilderten verschärften Problematik zu Beginn einer neuen Lebenssituation, wie hier der Einschulung, gewichtige Argumente für eine vor der Einschulung liegende Beurteilung sprechen.
4.3 Hat der Antragsgegner die notwendige Feststellung über das Vorliegen einer mit der Einschulung zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung des Antragstellers nicht getroffen, muss angesichts der vorliegenden Unterlagen das Ergebnis dieser Beurteilung nach gegenwärtigem Kenntnisstand als offen angesehen werden, weshalb das Verwaltungsgericht gehalten gewesen wäre, über den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden. Stellte sich nach dem Erlass der einstweiligen Anordnung heraus, dass dem Antragsteller der geltend gemachte Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung endgültig nicht zusteht, wäre diese zu Unrecht und damit überflüssigerweise für einen Zeitraum von ca. 3 Wochen bewilligt worden. Demgegenüber wäre ein dem Antragsteller bei Verweigerung einer Schulbegleitung bereits ab Schuljahresbeginn entstehender Schaden ungleich größer, sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass dem Begehren vollumfänglich hätte stattgegeben werden müssen. Die Gewährung von Eingliederungshilfe könnte, wie bereits ausgeführt, auch nicht mehr nachgeholt werden. Zugleich bestünde das Risiko, dass sich, worauf der Antragstellerbevollmächtigte hinweist, die aus dem Autismus des Antragstellers resultierende Problematik zu Beginn seiner neuen Lebenssituation verschärfen und damit gegebenenfalls ein erhöhter Hilfebedarf auftreten würde.
4.4 Angesichts dessen überwiegt das persönliche Interesse des Antragstellers am Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung die möglicherweise entgegenstehenden öffentlichen Belange. Letzteren wird durch den eng gefassten Zeitraum der Bewilligung eines Schulbegleiters angemessen Rechnung getragen. Hinzu kommt, dass der Antragsgegner den Antragsteller bereits für eine Schulbegleitung vorgesehen hatte, sodass diese bereits zu Beginn des Schuljahres hätte einsetzen können, auch wenn sich später herausstellen sollte, dass sie eventuell gar nicht oder in geringerem Umfang benötigt wird.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 1, Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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