Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage eines Afghanen

Aktenzeichen  AN 18 K 17.31944

Datum:
26.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 16688
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a Abs. 2
EMRK Art. 3
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter, die keine besonderen Gefährdungsfaktoren aufweisen, können grundsätzlich ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staats stehen. (Rn. 41-43) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Einzelrichter konnte die Verwaltungsstreitsache gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten, die unter Hinweis auf diese Möglichkeit ordnungsgemäß geladen worden war, verhandeln und entscheiden.
I.
Die zulässige Klage ist in der Sache unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. März 2017 erweist sich als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Insbesondere steht dem Kläger zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 25. Mai 2020 weder ein Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a GG bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG zu. Zu Recht ergangen sind außerdem die in Ziffer 5 des Bescheids enthaltene Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung sowie das in Ziffer 6 enthaltene Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird an dieser Stelle gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen. Im Hinblick auf das klägerische Vorbringen in der mündlichen Verhandlung und die sich zu diesem Zeitpunkt ergebende aktuelle Auskunftslage für Afg. ist ergänzend wie folgt auszuführen:
1. Auf das Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG kann sich der Kläger bereits deshalb nicht berufen, weil er eigenen Angaben zufolge über den Landweg – also über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder die Schweizerische Eidgenossenschaft – und mithin über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik D. eingereist ist, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Alt. 1 AsylG.
Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG als Flüchtling anzuerkennen, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 19). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 32; U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16).
Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt auch dann, wenn der Betroffene bereits Verfolgung erlitten hat. Ein materiell-rechtliches Konzept unterschiedlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe für die Verfolgungsprognose ist den insoweit maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts fremd. Stattdessen werden Vorverfolgte über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert; danach ist die Tatsache, dass ein Schutzsuchender bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass dem Schutzsuchenden erneut eine derartige Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 17; ebenso zur Vorgängerregelung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG: BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 Rn. 23). Diese Beurteilung obliegt im Rahmen freier Beweiswürdigung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Es kann hier dahinstehen, ob in dem klägerischen Vorbringen, er sei vor seiner Ausreise im Jahr 2015 durch seinen Vater aufgrund von Spielschulden an einen von dessen Mitspielern weggeben und durch letzteren vor einer Gruppe von Männern zum Tanz in Frauenkleidern gezwungen sowie zu sexuellen Handlungen genötigt worden, eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung als sog. Tanzjunge („Bacha Bazi“) erblickt werden kann. Zwar stellt der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die als sog. Tanzjungen sexuellem Missbrauch und dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind, in weiten Teilen Afg.s nach wie vor ein großes Problem dar (Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 345). Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost (Lagebericht des Auswärtigen Amts, 31.5.2018, S. 13). Zur Überzeugung des Einzelrichters kann deshalb aber – selbst bei Wahrunterstellung einer derartigen Vorverfolgung – für den Fall einer Rückkehr nicht (mehr) auf die beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer erneuten Verfolgung des inzwischen volljährigen Klägers als Tanzjunge geschlossen werden (s. dazu auch VG München, U.v. 27.3.2013 – M 12 K 12.30368 – juris Rn. 30). Der zum Zeitpunkt der geschilderten Vorfälle etwa 15 bis 16 Jahre alte Kläger hat nunmehr ein Lebensalter von 21 Jahren erreicht und verfügt – wie sich in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat – zudem über ein männliches Erscheinungsbild, so dass er nicht mehr der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen angehört und damit unter Berücksichtigung der Auskunftsklage nicht mehr dem Opferkreis der „Bacha Bazi“-Praxis unterfällt. So sind die betreffenden Knaben üblicherweise zwischen zehn und 18 Jahren alt und werden weggegeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartwuchses aufweisen (Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 345). Die vom Kläger angemeldeten Bedenken, sein Vater werde ihn bei einer Rückkehr in das Heimatdorf erneut an den ehemaligen Peiniger verkaufen, teilt das Gericht nach alledem nicht. In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass das neue afghanische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 2018 sowohl die Gepflogenheit des „Bacha Bazi“ als auch die Teilnahme an derartigen Tanzveranstaltungen kriminalisiert; den Tätern drohen Freiheitsstrafen von bis zu sieben Jahren bzw., soweit mehrere Tanzjungen unter zwölf Jahren gehalten werden, sogar lebenslange Haft (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 31.5.2018, S. 13; Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 345).
Auch im Hinblick auf die vom Kläger befürchtete soziale Stigmatisierung als ehemaliger Tanzjunge vermag das Gericht keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Gefahr zu erkennen. Den Erkenntnismitteln ist zwar zu entnehmen, dass (ehemalige) Tanzjungen und ihre Familien oftmals von ihrer sozialen Umgebung verstoßen werden (vgl. Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 345). Es wird hierin aber in der Regel schon keine Verfolgungshandlung erblickt werden können, weil damit allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG einhergehen wird. Eine derartige soziale Ausgrenzung hat der Kläger aber ohnehin nicht zu befürchten; dass die Rekrutierung des Klägers als Tanzjunge in seinem Heimatdorf publik geworden wäre, kann seinen Angaben gerade nicht entnommen werden. So will sich der Kläger unmittelbar nach seiner Flucht aus der Wohnung des Entführers seiner Mutter anvertraut haben, welche daraufhin noch am selben Tag mithilfe eines Nachbarn die Ausreise des Klägers organisiert habe. Weiterer Anlass, gegenüber den Dorfbewohnern vom Schicksal des Klägers zu berichten, bestand damit weder für die Mutter noch für den Nachbarn, da sich diese andernfalls wohl selbst der Gefahr einer sozialen Isolierung ausgesetzt hätten. Aus denselben Gründen dürfte auch der Vater kein Interesse am Bekanntwerden des Verkaufs seines Sohnes gehabt haben, zumal der Kläger selbst davon ausgeht, der Vater werde ihn aufgrund dieser Vorfälle als „Schande“ ansehen.
Aus der klägerischen Annahme, der Vater könne ihn bei einer Rückkehr in das Heimatdorf umbringen, kann ebenfalls nicht auf eine begründete Furcht vor Verfolgung geschlossen werden. Das diesbezügliche Vorbringen ist nach der Überzeugung des Gerichts schon deshalb nicht dazu geeignet, bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen eine Verfolgungsangst hervorzurufen, weil es sich gerade nicht auf eine belastbare Tatsachengrundlage stützt, sondern vielmehr auf bloßen Mutmaßungen des Klägers beruht. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass der Vater jemals eine ernstlich gemeinte Todesdrohung gegenüber dem Kläger geäußert hätte. Die im Zuge der Anhörung durch das Bundesamt zunächst vorgebrachte Behauptung, der Vater habe eine derartige Todesdrohung gegenüber dem Kläger selbst ausgesprochen („Er sagt zu mir, wenn ich dich kriege, dann bringe ich dich um.“), hat dieser auf Nachfrage dahingehend berichtigt, er habe dies lediglich mitbekommen, als er seine Mutter aufsuchen wollte. Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung führte der Kläger lediglich aus, er habe Angst, sein Vater könne ihn umbringen, weil er Sex mit Männern gehabt habe und deshalb eine Schande darstellen könnte. Warum der Vater allerdings, trotz des Umstands, dass dieser selbst den Kläger als Tanzjungen an seinen Mitspieler verkauft hat, zu derart drastischen Mitteln greifen sollte, vermochte der Kläger nicht zu begründen. Zwar erscheint es – bei Wahrunterstellung der klägerischen Verfolgungsgeschichte – unter Zugrundelegung der sich aus den Auskunftsmitteln ergebenden Erkenntnisse durchaus glaubhaft, dass es deswegen zu einem Zerwürfnis zwischen dem Kläger und seinem Vater gekommen ist und dieser den Kläger im Fall von dessen Rückkehr in das Heimatdorf verstoßen und nicht mehr bei sich aufnehmen würde. Dass der Vater darüber hinaus aber einen derartigen Groll bzw. Zorn gegen den Kläger hegen würde, der ihn zu einer Tötung seines eigenen Sohnes veranlassen könnte, vermag das Gericht nicht zu ersehen. Dis gilt umso mehr, als der Kläger nach eigenen Angaben seit seiner Ausreise im Frühjahr 2015 keinen Kontakt mehr zu seinem Vater gehabt haben will.
3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, weil es ihm nicht gelungen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme vorzubringen, dass ihm in Afg. ein ernsthafter Schaden droht.
a) Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden durch die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe drohen würde, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG.
b) Auch droht dem Kläger kein ernsthafter Schaden durch Folter bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat; sie ist erniedrigend, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt, sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, ihren moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – NVwZ 2011, 413 Rn. 220). Aufgrund des in § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG enthaltenen Verweises auf § 3c AsylG muss die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung außerdem von einem der dort genannten Akteure ausgehen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6).
Individuelle Umstände, die im Fall einer Rückkehr nach Afg. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers nahelegen würden, sind nicht ersichtlich. Zwar mag der Kläger im Hinblick auf den von ihm geschilderten Missbrauch als Tanzjunge eine flüchtlingsrechtlich relevante Vorverfolgung erlitten haben; aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit des Klägers liegen aber nunmehr stichhaltige Gründe vor, die die Wiederholungsträchtigkeit der erlittenen Verfolgung entkräften, s.o. Auch im Übrigen ergeben sich daraus keine beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsrisiken für den Kläger. Darüber hinaus vermögen ferner die in Afg. herrschenden schlechten humanitären Bedingungen als solche keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung des Klägers im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG zu begründen, weil es insoweit jedenfalls an einem nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG erforderlichen Akteur im Sinne des § 3c AsylG fehlt. Die schlechte Versorgungslage wird vielmehr durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung Afg.s, die dort herrschenden Umweltbedingungen sowie maßgeblich durch die volatile Sicherheitslage negativ beeinflusst und bestimmt. Insofern ist nicht festzustellen, dass einem der Akteure des § 3c AsylG ein wesentlicher Beitrag direkt oder indirekt anzulasten wäre und eine Verhaltensänderung zu einer unmittelbaren Verbesserung der Situation führen könnte; insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten, noch werden all diese Umstände gezielt herbeigeführt (ebenso VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 73; U.v. 24.1.2018 – A 11 S 1265/17 – juris Rn. 103).
c) Zuletzt bestehen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass dem Kläger in Afg. ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts drohen würde, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.
Individuell im Sinne der Vorschrift sind schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung für Leben und Unversehrtheit ausgesetzt zu sein (EuGH, U.v. 30.1.2014 – C-285/12 – juris Rn. 30; U.v. 17.2.2009 – C-465/07 – juris Rn. 35, 43). Der notwendige Grad willkürlicher Gewalt wird dabei umso geringer sein, je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07 – juris Rn. 39; VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 193). Solche Umstände können sich beispielsweise aus dem Beruf des Schutzsuchenden – etwa als Arzt oder Journalist – sowie aus dessen religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit ergeben. Für die Person des Klägers sind keine derartigen gefahrerhöhenden Umstände ersichtlich; auch unter Berücksichtigung der geltend gemachten Vorverfolgung durch den Missbrauch als Tanzjunge ist gegenwärtig nicht mehr von einer individuell erhöhten Gefährdungslage auszugehen, s.o.
Liegen – wie im Fall des Klägers – keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist für die nach der Vorschrift notwendige Individualisierung der allgemeinen Gefahrenlage ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 19; U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09 – BVerwGE 136, 360 Rn. 33). Dieses wird durch eine quantitative Ermittlung der verletzten getöteten Zivilpersonen in Verhältnis zur Einwohnerzahl sowie eine wertende Gesamtbetrachtung des statistischen Materials bestimmt (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.). In diesem Zusammenhang geht die Rechtsprechung allerdings davon aus, dass – bezogen auf die Zahl der Opfer von willkürlicher Gewalt eines Jahres – ein Risiko von 1:800 (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.) bzw. von 1:1.000 (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 11.10 – juris Rn. 20 f.), verletzt oder getötet zu werden, so weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt liegt, dass sich eine im Übrigen unterbliebene wertende Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht mehr auszuwirken vermag. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist dabei der tatsächliche Zielort des Ausländers bei der Rückkehr, für dessen Bestimmung in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird, maßgeblich ist (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 13). Denn für die Frage, welche Region als Zielort der Rückkehr eines Ausländers anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 100; U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 202).
Als Herkunftsregion des Klägers kommt einerseits die Provinz Faryab in Betracht. Dort hat der Kläger bis zu seiner Ausreise zusammen mit seiner Familie – dem Vater, der Mutter sowie einem jüngeren Bruder – in dem Dorf … gelebt und verfügt insoweit über eine gewisse persönliche Bindung dorthin. Verdeutlicht wird dies zudem über die Aussage des Klägers, er würde sich, um ein Dach über dem Kopf zu haben, im Fall einer Rückkehr nach Afg. wohl dort niederlassen. Andererseits sprechen hier gewisse Umstände für eine nachlassende Bindung des Klägers an die Provinz Faryab. So hat der Kläger angegeben, seine Mutter und der Bruder hätten das Heimatdorf inzwischen verlassen und seien in den Iran geflohen. Ob sein Vater noch immer dort lebe, wisse er nicht, weil er keinen Kontakt mehr zu diesem pflege. Die Beziehung zum Vater sei zerrüttet, seitdem dieser den Kläger als Tanzjungen verkauft habe. In einem solchen Fall der nachlassenden Bedeutung der ursprünglichen Heimatprovinz wird als „Herkunftsregion“ des Ausländers regelmäßig – zumal im Fall des Klägers keinerlei persönliche Beziehungen in eine andere Provinz ersichtlich sind – die Provinz Kabul von Bedeutung sein, wo derzeit sämtliche der aus D. veranlassten Abschiebeflüge enden.
Im Ergebnis kann aber dahingestellt bleiben, ob als Herkunftsregion für den Kläger die Provinz Faryab oder die Provinz Kabul maßgeblich ist; das jeweils vorherrschende Gewaltausmaß reicht nämlich in keiner der beiden Provinzen für die Annahme einer tatsächlichen Gefahr für den Kläger, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, aus. Auch wenn Faryab allgemein als volatile Provinz gilt (vgl. Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 124 ff.), ist die Sicherheitslage dennoch nicht derart angespannt, dass damit für jede dort aufhältige Zivilperson automatisch eine ernsthafte und individuelle Bedrohung von Leben bzw. körperlicher Unversehrtheit einherginge. Die Gesamteinwohnerzahl wird gegenwärtig auf 1.069.540 geschätzt (EASO, Afg. Security Situation, Juni 2019, S. 120). Im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 registrierte UNAMA in der Provinz insgesamt 665 zivile Opfer, davon 199 Getötete und 466 Verletzte, wobei im Vergleich zum Vorjahr ein leichter Anstieg um 3% zu verzeichnen war (UNAMA, Afg. – Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94). Das Gesamtrisiko, verletzt oder getötet zu werden, lag demnach im Jahr 2019 bei rund 0,062% und damit noch immer deutlich unterhalb des Risikobereichs von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1.000 (0,1%), der nach der Rechtsprechung derart weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt liegt, dass selbst bei einer im Übrigen unterbliebenen wertungsmäßigen Gesamtbetrachtung nicht mehr von einer individuellen Gefährdungslage im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgegangen werden kann. Nichts anderes gilt im Hinblick auf die Provinz Kabul, deren Einwohnerzahl gegenwärtig auf rund 4 bis 6 Mio. geschätzt wird (EASO, Afg. Security Situation, Juni 2019, S. 67). Im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 31. Dezember 2019 registrierte UNAMA dort 1.563 zivile Opfer, davon 261 Getötete und 1.302 Verletzte, was im Vergleich zum Vorjahr einem Rückgang von 16% entspricht (UNAMA, Afg. – Protection of Civilians in an Armed Conflict, Februar 2020, S. 94). Das Gesamtrisiko, in der Provinz Kabul verletzt oder getötet zu werden, lag demnach im Jahr 2019 – selbst unter Zugrundelegung der geringsten Einwohnerzahl von 4 Mio. Menschen – bei etwa 0,039%.
Mitunter aufgrund einer darin nicht abgebildeten Dunkelziffer erhobene Bedenken gegen die Aussagekraft des – auch hier zugrunde gelegten – Datenmaterials der UNAMA teilt das Gericht nicht. Zwar trifft es im Ausganspunkt zu, dass sich aufgrund der methodischen Vorgehensweise der UNAMA, die für die Aufnahme von Toten und Verletzten in die Statistik drei unabhängige und überprüfbare Quellen verlangt, zwangsläufig eine gewisse Dunkelziffer ergibt (vgl. dazu Stahlmann, ZAR 2017, 189/192 sowie Gutachten an das VG Wiesbaden v. 28.3.2018, S. 177). Für sich genommen führt diese Unschärfe aber weder zur Unbrauchbarkeit des von UNAMA ermittelten Zahlenmaterials, noch kann daraus auf ein signifikant erhöhtes Gewaltniveau in den betreffenden Provinzen geschlossen werden. Das anhand dieser Zahlen für die Provinzen Faryab und Kabul ermittelte Tötungs- und Verletzungsrisiko ist mit 0,062% bzw. 0,039% noch immer vergleichsweise niedrig, so dass der durch die Rechtsprechung aufgestellte Grenzwert von 1:800 (0,125%) bzw. 1:1.000 (0,1%) auch unter Berücksichtigung eines angemessenen Sicherheitszuschlags noch nicht erreicht würde. Im Übrigen liegen wohl die tatsächlichen Einwohnerzahlen der betreffenden Provinzen ebenfalls höher, als sie den Erkenntnismitteln angegeben sind, was im Rahmen der Vergleichsberechnung wiederum zu einer Relativierung der hinsichtlich der Opferzahlen bestehenden Dunkelziffer führt.
4. Schließlich hat der Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Ein solches ergibt sich in der hier zu entscheidenden Fallkonstellation weder aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK noch aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a) Es fehlt an den Voraussetzungen für die Zuerkennung eines nationalen Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Einer Abschiebung des Klägers nach Afg. stehen weder besondere, in seiner Person liegende Umstände noch die im Abschiebungszielstaat vorherrschende Sicherheitslage entgegen, s.o. Ein Abschiebungsverbot ergibt sich überdies nicht aufgrund der dort vorzufindenden schlechten humanitären Bedingungen.
Zwar können auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat grundsätzlich eine unmenschliche Behandlung des Klägers im Sinne des Art. 3 EMRK begründen. Fehlt es aber – wie hier – an einem verantwortlichen Akteur, so ist ein außergewöhnlicher Fall notwendig, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind; dafür reicht es noch nicht, wenn im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde (EGMR, U.v. 25.5.2008 – 26565/05 – NVwZ 2008, 1334 Rn. 42; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 23). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 Rn. 22; B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6). Für die Prüfung der humanitären Verhältnisse ist dabei grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen, wobei zunächst die Umstände an dem Ort maßgeblich sind, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 26).
Das Gericht verkennt nicht, dass sich die humanitäre Lage sowohl in Afg. generell als auch in Kabul als regelmäßigem Endort der Abschiebung als durchaus besorgniserregend darstellt. So zählt Afg. zu den ärmsten Ländern der Welt und belegte im Jahr 2018 Platz 168 von 189 beim Index der menschlichen Entwicklung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, 2.9.2019, S. 27). Der Bevölkerungsanteil derjenigen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, stieg im Vergleich zu den Jahren 2011/2012 von 38,3% auf etwa 55% in den Jahren 2016/2017 (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 20). Die Arbeitslosenquote wird in den Quellen unterschiedlich eingestuft (Lagebericht des Auswärtigen Amts, 2.9.2019, S. 28: 11,2% im Jahr 2017; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 20: 24% im Jahr 2016/2017; Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt Afg., Gesamtaktualisierung 29.6.2018, letzte Kurzinformation v. 4.6.2019, S. 358: über 40% erwerbslos oder unterbeschäftigt). Besonders Kabul ist durch eine große Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern stark überlaufen (s. dazu ACCORD, Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mezar-e-Sharif und Kabul, 7.12.2018, S. 15 ff.). Aller Voraussicht nach wird Afg. zudem durch die derzeit weltweit vorherrschende COVID-19-Pandemie besonders hart getroffen werden, was zum einen auf den allgemein schlechten Gesundheitszustand in weiten Teilen der Bevölkerung und zum anderen auf die nur unzureichend vorhandenen Behandlungskapazitäten zurückzuführen ist (vgl. Republik Österreich – BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID-19 Afg., 9.4.2020, S. 1). Indessen versucht die Regierung, dieser Entwicklung durch Präventions- und Sensibilisierungsmaßnahmen in der Bevölkerung sowie eine bessere Steuerung der Rückkehrerströme aus dem Iran und Pakistan entgegenzutreten und wird in diesen Bemühungen auch durch den UNHCR unterstützt (vgl. UNHCR, COVID-19: Mehr Unterstützung für Afg. und seine Nachbarländer benötigt, 14.4.2020, abrufbar unter https://www.unhcr.org/dach/de/42159-covid-19-mehr-unterstuetzung-fuer-afghanistan-und-seine-nachbarlaender-benoetigt.html).
Gleichwohl geht das Gericht davon aus, dass für alleinstehende, erwerbsfähige und gesunde junge Männer im Fall der Rückkehr nach Afg. selbst dann keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung besteht, wenn diese weder über ein soziales Netzwerk in Afg. noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder nennenswertes Vermögen verfügen. Der Einzelrichter schließt sich insoweit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung an (aus neuer Zeit etwa: BayVGH, B.v. 16.3.2020 – 15 ZB 20.30526 – juris Rn. 10; B.v. 3.9.2019 – 13a ZB 19.33043 – juris Rn. 6; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 6; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 34; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 55; OVG NRW, B.v. 17.9.2018 – 13 A 2914/18.A – juris Rn. 23; VGH BW, U.v. 11.4.2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 336 ff.). Auch nach Einschätzung des UNHCR können alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter, die keine besonderen Gefährdungsfaktoren aufweisen, grundsätzlich ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staats stehen (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 25).
Gerade auch unter Einbeziehung der in der Person des Klägers begründeten Einzelfallumstände sowie des im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass es diesem bei einer Rückkehr nach Afg. gelingen wird, sein Existenzminimum zumindest durch die Übernahme einfacher Hilfstätigkeiten – etwa auf dem Bau oder in der Landwirtschaft – sicherzustellen. In Afg. hat der Kläger nach eigenen Angaben die Schule bis zur zweiten Klasse besucht und kann daher lesen und schreiben. Er hat dort außerdem bei der Beaufsichtigung von Tieren erste berufliche Erfahrungen in der Landwirtschaft gesammelt. Während des Aufenthalts in D. hat der Kläger nach Absolvieren eines Sprachkurses für die Dauer von etwa einem Jahr zunächst eine Ausbildung als Fachlagerist aufgenommen, welche jedoch auf Veranlassung der Ausländerbehörde unterbrochen worden sei. Es ist ihm außerdem gelungen, den Hauptschulabschluss mit der Note 1,1 zu absolvieren. Gegenwärtig ist der Kläger als Arbeiter in einer Getränkefirma tätig. Nach alledem verfügt der Kläger – vor allem im Hinblick auf seine Schulbildung und seine berufspraktischen Erfahrungen – auf dem afghanischen Arbeitsmarkt über eine vergleichsweise privilegierte Stellung. Hinzu kommt, dass der Kläger bereits im jugendlichen Alter von etwa 16 Jahren den Fluchtweg von Afg. nach D. eigenständig und ohne die Begleitung von Angehörigen bewältigen konnte und damit ein nicht unerhebliches Maß an Selbständigkeit bewiesen hat.
Die somit für den Kläger bestehende Existenzsicherungsmöglichkeit wird auch durch die derzeit in Afg. festzustellende Ausbreitung des Corona-Virus keine dauerhafte Beeinträchtigung erfahren. Bedingt durch die staatlich angeordneten Einschränkungen für das öffentliche Leben durch Ausgangsbeschränkungen (u.a. in Kabul und Herat, vgl. Republik Österreich – BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID-19 Afg., 9.4.2020, S. 2) und Geschäftsschließungen gehen damit zwar neue Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche einher. Als Folge der Pandemie war außerdem ein merklicher Anstieg der Lebensmittelpreise u.a. für Weizenmehl, Hülsenfrüchte, Zucker, Speiseöl und Reis zu verzeichnen (vgl. OCHA, Afg.: COVID-19 Multi-Sectoral Response – Operational Situation Report, 13.5.2020, S. 1 f.). Gleichwohl wird die Unterhaltssicherung des Klägers dadurch nicht nachhaltig in Frage gestellt werden. So war namentlich der landesweit seit dem 2. Mai 2020 gültige Lockdown bis zum 24. Mai 2020 beschränkt, wobei einige Provinzen bereits zuvor verschiedene Lockerungen wie eine Aufhebung der Bewegungsbeschränkungen oder Geschäftsöffnungen zu bestimmten Tageszeiten zugelassen haben (vgl. BAMF, Briefing Notes, 14.5.2020, S. 2). Soweit bestimmte Einschränkungen weiterhin aufrechterhalten werden sollten, bestehen jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass diese im Zeitpunkt der Rückkehr des Klägers, die – bedingt durch die derzeitigen Einschränkungen des Flugverkehrs – unter Umständen erst in mehreren Monaten zu erwarten steht, noch immer fortgelten werden.
Ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wird im Übrigen nicht etwa deshalb anzunehmen sein, weil verschiedene Quellen von einer ablehnenden Haltung gegenüber Rückkehrern aus Europa, etwa in Form von Misstrauen seitens der örtlichen Gemeinschaft oder durch Behörden sowie Übergriffen durch regierungsfeindliche Gruppierungen berichten (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 51 f.). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch der Kläger als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland erkannt und ihm deshalb zwangsläufige Nachteile – etwa bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Arbeitsstelle – entstehen würden, vermag das Gericht jedoch nicht festzustellen (im Ergebnis ebenso: VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 484). Gegenteiliges ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts auch nicht aus der jüngst von Stahlmann durchgeführten Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen (Asylmagazin 2019, 276 ff.). Zum einen begegnet diese Studie durchgreifenden Bedenken hinsichtlich der Repräsentativität, des methodischen Vorgehens sowie der Validität, Reliabilität und Objektivität der erhobenen Daten; zum anderen lassen die beschriebenen Fallbeispiele schon aufgrund ihrer geringen Zahl nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass jeder Rückkehrer oder auch nur eine weit überwiegende Zahl der vielen Rückkehrer von schwerwiegenden Folgen betroffen wäre (BayVGH, B.v. 6.12.2019 – 13a ZB 19.34056 – juris Rn. 15). So konnten hinsichtlich der 547 Männer, die zwischen Dezember 2016 und April 2019 aus D. abgeschoben wurden, lediglich Informationen zu 55 Betroffenen dokumentiert werden (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2019, 276/277). Betrachtet man die in der Studie ermittelten Zahlen im Verhältnis zur Gesamtzahl der im oben genannten Zeitraum abgeschobenen Männer, so beläuft sich die Anzahl derjenigen, die erwiesenermaßen von speziell gegen Rückkehrende gerichteter Gewalt betroffen waren, auf rund 3,1% (von den in diesem Zusammenhang 31 Befragten hatten 17 entsprechende Gewalterfahrungen gemacht, vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2019, 276/278) und die Anzahl derjenigen, die erwiesenermaßen von Obdachlosigkeit betroffen waren, auf rund 1,6% (von den in diesem Zusammenhang 49 Befragten waren neun von Obdachlosigkeit betroffen, vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2019, 276/284).
b) Zuletzt muss im konkreten Fall des Klägers ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausscheiden. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei vor allem existenzielle Gefahren durch Tötung, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie insbesondere Krankheit erfasst werden, die dem Ausländer aufgrund seiner persönlichen Situation drohen.
Eine in diesem Sinne erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr und in der Folge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergeben sich für den Kläger insbesondere nicht aufgrund der gegenwärtig global und mithin auch in Afg. um sich greifenden COVID-19-Pandemie. Es handelt sich hierbei um eine allgemeine Gefahr, die im Ausgangspunkt allen Menschen in bzw. allen Rückkehrern nach Afg. droht und die damit grundsätzlich nur bei Anordnungen zur vorübergehenden Aussetzung von Abschiebungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen ist (ebenso VG Gelsenkirchen, U.v. 11.5.2020 – 5a K 12498/17.A – juris Rn. 88; VG Bayreuth, Gb. v. 21.4.2020 – B 8 K 17.32211 – Abdr. S. 21 f.). Nach der Rechtsprechung kann in diesen Fällen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise dann in Anspruch genommen werden, wenn der Ausländer aufgrund der im Abschiebungszielstaat herrschenden Lebensbedingungen – namentlich der dortigen wirtschaftlichen Existenzbedingungen und der damit zusammenhängenden Versorgungslage – mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Diese Gefahren müssen im konkreten Einzelfall nach Art, Ausmaß und Intensität von solchem Gewicht sein, dass sich daraus für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, wobei ein im Vergleich zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhter Maßstab anzulegen ist und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren müssen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 38; U.v. 8.9.2011 – 10 C 10.14 – BVerwGE 140, 319 Rn. 22 f.).
Dass der Kläger bei einer Rückkehr durch das Corona-Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein wird, vermag das Gericht indessen nicht zu erkennen. Besondere persönliche Umstände, aufgrund derer er in besonderem Maße durch eine Infektion mit COVID-19 gefährdet wäre, sind nicht ersichtlich. Weder leidet der Kläger an Vorerkrankungen, noch zählt er zur Altersgruppe der 40- bis 69-Jährigen, die in Afg. mehr als die Hälfte der durch COVID-19 bedingten Todesfälle ausmachen (vgl. dazu OCHA, Afg. – Brief COVID-19 Nr. 44, 14.5.2020, S. 1). Eine besondere Vulnerabilität des Klägers in Bezug auf eine Ansteckung mit dem Corona-Virus kann schließlich nicht deshalb angenommen werden, weil dieser zur Gruppe der Rückkehrer aus Europa zählt; die gegenteilige Stellungnahme Stahlmanns (Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankung an Covid-19 in Afg., besondere Lage Abgeschobener, 27.3.2020) entbehrt einer hinreichenden fachlichen Unterlegung und ist darüber hinaus in der Sache nicht nachzuvollziehen. Im Gegenteil erscheinen gerade solche Personen, die in Afg. seit Jahren ein Dasein unterhalb des Existenzminimums fristen müssen und durch Krankheit sowie Mangelernährung gezeichnet sind, besonders anfällig für eine Corona-Infektion (vgl. Republik Österreich – BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation – COVID-19 Afg., 9.4.2020, S. 1). Rückkehrer aus Europa, die sich im Allgemeinen eines guten Gesundheits- und Ernährungszustands erfreuen, erscheinen demgegenüber nicht in besonderem Maße gefährdet. Eine Infektionsgefahr für den Kläger bestünde damit letztlich in vergleichbarem Umfang, wie sie aktuell in gleicher Weise in der Bundesrepublik D. gegeben ist (im Ergebnis ebenso VG Bayreuth, Gb. v. 21.4.2020 – B 8 K 17.32211 – Abdr. S. 22).
5. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auch die in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Abschiebungsandrohung einschließlich der damit verbundenen Zielstaatsbestimmung zu Recht ergangen. Die Abschiebungsandrohung hat ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Nach § 38 Abs. 1 AsylG hatte die Beklagte dem Kläger eine Ausreisefrist von 30 Tagen zu setzen.
6. In rechtlicher Hinsicht ebenfalls nicht zu beanstanden ist das in Ziffer 6 des Bescheids auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Zwar geht die Rechtsprechung davon aus, dass ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach den Vorschriften der RL 2008/115/EG jedenfalls, soweit es an eine Abschiebung anknüpft, nicht aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung – wie sie in der zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses gültigen Regelung des § 11 Abs. 1 AufenthG a.F. enthalten war – eintreten kann, sondern es hierfür vielmehr einer behördlichen Entscheidung bedarf (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 71). Auf diese unionsrechtlichen Vorgaben hat inzwischen auch der Gesetzgeber mit einer Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch Gesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I, 1294) reagiert und darin festgelegt, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot einer gesonderten Anordnung bedarf, zu der nach § 75 Nr. 12 AufenthG im Zusammenhang mit einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berufen ist.
Die damit geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer wird in unionsrechtskonformer Auslegung aber regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gesehen werden können (BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72). Eine solche hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid wirksam getroffen und in Ausübung des ihr nach § 11 Abs. 3 Satz 1
AufenthG eingeräumten Ermessens eine Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung vorgesehen. Spezifische Ermessensfehler, auf deren Überprüfung das Gericht an dieser Stelle gemäß § 114 Satz 1 VwGO beschränkt ist, sind insoweit nicht zu ersehen.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.


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