Verwaltungsrecht

Erfolglose Berufung – Rückführungsfrage nicht entscheidungserheblich

Aktenzeichen  9 ZB 19.33217

Datum:
1.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27561
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c, § 78 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Nach dem Asylrecht zu prüfende Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG können nur in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. „zielstaatsbezogene“ Abschiebungshindernisse) (Anschluss an BVerwG BeckRS 2013, 49252). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (Bestätigung von VGH München BeckRS 2019, 13880). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 30 K 17.45985 2019-07-08 VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.
Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) gehalten und aus welchen Gründen ihr Bedeutung über den Einzelfall hinaus zugemessen wird (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2019 – 9 ZB 19.30847 – juris Rn. 3 m.w.N). Dem genügt das Zulassungsvorbringen nicht.
Hinsichtlich der aufgeworfenen Fragen, „ob die Rückkehrer tatsächlich in Sierra Leone verbleiben oder bei einer (zwangsweisen) Rückkehr nicht vielmehr versuchen, alsbald das Land wieder zu verlassen, und nachfolgend die rechtliche Frage, ob die vorherrschende Rechtsprechung, dass davon auszugehen ist, dass Rückkehrer eine nicht der EMRK und damit § 60 Abs. 5 AufenthG wiedersprechende Situation vorfinden, noch haltbar ist, wenn die Erfahrung zeigt, dass Rückkehrer alles daran setzen, Sierra Leone zu verlassen, also den vom Verwaltungsgericht bzw. von der Antragsgegnerin in Aussicht gestellten Weg gerade nicht gehen oder ob nicht vielmehr die Rechtsprechung die tatsächlichen Verhältnisse akzeptieren muss, wonach Rückkehrer in der Regel eben nicht den von der Rechtsprechung zugedachten Weg gehen, sondern vielmehr versuchen, das Land alsbald wieder zu verlassen und deshalb diese Rückkehrer nicht mehr darauf verweisen darf, dass es eine Möglichkeit gibt, in Sierra Leone zu überleben, dies auch vor dem Hintergrund, dass durch die vorherrschende Rechtsprechung eben ein anderes Land – welches bleibt oftmals dem Zufall überlassen oder der Willkür der Schlepper- und Schleuserbanden – mit Flüchtlingen belastet wird, welches ohnehin bereits stark durch Fluchtbewegungen belastet ist und dass damit der Druck, dem die dortige Bevölkerung ausgesetzt ist, an die sierra-leonischen Flüchtlinge weitergegeben wird und dort eine der EMRK widersprechende Behandlung droht“, sowie „ob eine Abschiebung überhaupt angedroht werden darf, wenn insbesondere im Freistaat Bayern nicht gewährleistet ist, dass eine Abschiebung nicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen verläuft“ fehlt es bereits an ihrer Entscheidungserheblichkeit. Die Fragen würden sich in einem Berufungsverfahren nicht stellen. Nach dem Asylrecht zu prüfende Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG können nur in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. „zielstaatsbezogene“ Abschiebungshindernisse, vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 35; U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – juris Rn. 10 f.). Dieser Prüfungsmaßstab wird von den gestellten Fragen nicht angesprochen.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen. Die geltend gemachte Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) liegt nicht vor.
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Das Gericht hat sich mit den wesentlichen Argumenten des Klagevortrags zu befassen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann jedoch nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2019 – 9 ZB 19.30847 – juris Rn. 7). Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht schon dann verletzt, wenn der Richter zu einer unrichtigen Tatsachenfeststellung im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Tätigkeit der Sammlung, Feststellung und Bewertung der von den Parteien vorgetragenen Tatsachen gekommen ist. Auch die bloße Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 15.2.2017 – 2 BvR 395/16 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Danach ist mit dem Zulassungsvorbringen, das Verwaltungsgericht sei trotz der erkannten schwierigen medizinischen Versorgungslage in Sierra Leone und der attestierten HIV-Erkrankung, die eine engmaschige Therapiekontrolle erfordere und deshalb regelmäßige Arbeit verhindere, davon ausgegangen, dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt sicherstellen könne, kein Gehörsverstoß dargetan. Die Klägerin kritisiert insoweit die tatrichterliche Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung durch das Verwaltungsgericht. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind nach § 78 Abs. 3 AsylG aber gerade kein Grund für die Zulassung der Berufung (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 ZB 19.32517 – juris Rn. 9).
Die Klägerin kann einen Gehörsverstoß auch nicht mit Erfolg darauf stützen, dass das Verwaltungsgericht keine weitere Aufklärung zur Schwere der HIV-Erkrankung oder ihrer Behandelbarkeit in Sierra Leone betrieben habe. Wie bereits ausgeführt, statuiert Art. 103 Abs. 1 GG eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht nicht (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 ZB 19.32517 – juris Rn. 10). Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 – 9 ZB 19.31904 – juris Rn. 3). Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise zwar dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. BayVGH, B.v. 24.6.2019 – 15 ZB 19.32283 – juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 8.5.2018 – 20 ZB 18.30551 – juris Rn. 2 m.w.N.). Demgemäß kommt eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht, soweit das Gericht eine Beweisanregung nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat oder ihr nicht gefolgt ist, obwohl sich dies hätte aufdrängen müssen (BVerwG, B.v. 4.3.2014 – 3 B 60.13 – juris Rn. 7). Dass ein solcher Mangel vorliegt, zeigt der Zulassungsantrag aber nicht auf, auch nicht, soweit es eine fehlerhafte Interpretation des Erkrankungsstadiums der Klägerin darzulegen versucht und die vom Verwaltungsgericht eingeführte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. März 2019 an das Verwaltungsgericht Regensburg dahingehend versteht, dass eine medikamentöse Versorgung in Sierra Leone nicht sichergestellt sei.
Das Verwaltungsgericht hat im angegriffenen Urteil ausgeführt, dass bei den attestierten Anfangsstadien A1 oder A2, wobei A2 wohl eher als Fehler einzustufen sein dürfe, weil in einem späteren Attest nur die Rede von A1 sei, im Hinblick auf die gesetzliche Vermutung in § 60a Abs. 2c AufenthG nicht hinreichend fachärztlich dargelegt sei, dass und inwieweit ein Abbruch jeglicher Behandlung der Klägerin eine schwerwiegende und alsbaldige Verschlimmerung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Weise nach sich ziehen werde, dass die Abschiebung für die Klägerin bedeuten würde, sie quasi sehenden Auges einer alsbald zu erwartenden nahezu lebensbedrohlichen Situation auszusetzen. Dabei stehe für das Verwaltungsgericht außer Frage, dass eine HIV-Infektion unbehandelt zum Tode und ein Therapieabbruch zu einer stark verkürzten Lebenserwartung führe, ebenso, dass im Endstadium opportunistische Infektionen eine tödliche Folge haben. Weitere Ermittlungen zur HIV-Infektion der Klägerin seien somit nicht veranlasst. Sie könnten aber auch deshalb unterbleiben, weil die Klägerin nach den eingeführten aktuellen Erkenntnismitteln in Sierra Leone eine antiretrovirale Therapie erhalten könne. Soweit die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 28. März 2019 in Bezug auf das Medikament Genvoya oder einem vergleichbaren Medikament eine Versorgung als nicht sichergestellt benenne, bedeute dies für die Klägerin zwar ggf. eine Umstellung von der derzeitigen Kombinationstherapie auf eine „Einzelmedikation“. Das dies zu einer nicht zumutbaren Verschlechterung führe, lasse sich den vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht entnehmen. Eine willkürliche Sachverhaltswürdigung ist danach nicht zu erkennen. Ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – juris Rn. 16) musste sich dem Verwaltungsgericht im Hinblick auf die vorgelegten ärztlichen Unterlagen und die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel auch keine weitere Aufklärung von Amts wegen aufdrängen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 – 9 ZB 19.31904 – juris Rn. 6).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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