Verwaltungsrecht

Erfolgloses, auf die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen gerichtetes Beschwerdeverfahren eines griechischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  19 CE 21.243

Datum:
5.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4203
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 4, § 60a Abs. 2
FreizügG/EU § 7 Abs. 2
EMRK Art. 8
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Eine Abschiebung kann einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn sich ein seit langem oder schon immer in Deutschland lebender Ausländer persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat, hier verwurzelt, in seinem Herkunftsland entwurzelt und nach alledem zum “faktischen Inländer” geworden ist. (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Es kann dahinstehen, ob aus Gründen der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG die einstweilige Sicherung eines Aufenthaltsrechts durch eine Verfahrensduldung in Betracht zu ziehen ist, wenn der Ausländer eine Verkürzung oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auch nach der Ausreise weiterverfolgen kann. (Rn. 11) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Maßgeblich für eine beschleunigte Überprüfung der Frist des § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU kann sein, dass offenkundig die Gründe für eine Aufrechterhaltung des Wiedereinreiseverbots entfallen sind oder erhebliche Anhaltspunkte für eine Änderung derjenigen Umstände vorliegen, die die Festlegung des Wiedereinreiseverbots ursprünglich gerechtfertigt haben. (Rn. 13) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Ist der von einem Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU Betroffene noch nicht ausgereist oder noch nicht abgeschoben worden, kann eine nachträgliche Befristung auf Null nur dann erfolgen, wenn von ihm gar keine Gefahr mehr ausgeht. Besteht eine Gefahr zum Entscheidungszeitpunkt fort, ist ein Antrag auf Fristverkürzung abzulehnen. (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Im Rahmen der ausländerrechtlichen Sicherheitsprognose kommt Aussetzungsentscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB bzw. § 36 Abs. 1 S. 3 BtMG, bei denen es maßgeblich darauf ankommt, ob die vorzeitige Entlassung verantwortet werden kann, eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus und sie führen auch nicht per se zum Entfallen der Wiederholungsgefahr.; es bedarf einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (vgl. BVerfG BeckRS 2016, 53810). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

AN 5 E 20.2706, AN 5 S 20.2707 2020-12-21 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein griechischer Staatsangehöriger, für den nach strafrechtlicher Verurteilung vom 26. Februar 2016 wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren der Verlust seines Freizügigkeitsrechts durch Bescheid vom 26. Juli 2017 bestandskräftig festgestellt wurde (vgl. Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung durch Senatsbeschluss vom 15.10.2019, 19 ZB 19.914), sein erstinstanzlich erfolgloses Begehren unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids der Antragsgegnerin vom 20. November 2020 die Erteilung einer Duldung bzw. die Aussetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen weiter. Mit diesem Bescheid hat die Antragsgegnerin die am 15. Juli 2020 beantragte Aufhebung bzw. Verkürzung des auf 8 Jahre festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. insoweit Beschwerdeverfahren Az.: 19 CS 21.245) und die Erteilung einer Duldung abgelehnt. Der Antragsteller befand sich vom 30. Januar 2017 bis zum 18. Mai 2020 im Maßregelvollzug (Unterbringung in der Entziehungsanstalt); mit Beschluss des Landgerichts A. vom 20. April 2020 wurde mit Wirkung zum 18. Mai 2020 der weitere Vollzug der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und die weitere Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung unter Festsetzung einer Bewährungsfrist und Führungsaufsicht von jeweils 5 Jahren sowie mehreren Weisungen (u.a. Abstinenzgebot und regelmäßige ambulante Vorstellungen im Bezirksklinikum alle 14 Tage) ausgesetzt.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage sowohl hinsichtlich der Ablehnung einer Verkürzung bzw. Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots als auch hinsichtlich der Ablehnung einer Duldung als unstatthaft abgelehnt (vgl. Az.: 19 CS 21.245). Der Antrag auf Untersagung der Abschiebung im Wege der einstweiligen Anordnung wurde mit der Begründung abgelehnt, ein Anordnungsanspruch sei mangels eines Abschiebungshindernisses nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller sei vollziehbar ausreisepflichtig.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren, auf dessen Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt keine Abänderung oder Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2020.
Der Antragsteller trägt vor, er habe glaubhaft gemacht, dass die bisherige Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht aufgrund erfolgreicher Therapie und Strafvollstreckungsentscheidung und damit aufgrund neuer Tatsachen neu entschieden werden müsse. Wie sich aus § 11 Abs. 4 AufenthG, welcher auf EU-Bürger ebenfalls sinngemäß anwendbar sei, ergebe, könne das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers verkürzt werden und die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots sogar aufgehoben werden. Damit könne dem Ausländer wieder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, ohne dass dieser ausreisen müsste. Als griechischer Staatsangehöriger benötige der Antragsteller keine Aufenthaltserlaubnis. Werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot verkürzt bzw. aufgehoben, was durch die erfolgreiche Therapie und die Aussetzung von Strafrest und Maßregelvollzug erreicht sei, sei eine Ausreise für EU-Bürger ebenfalls nicht erforderlich. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die strafvollstreckungsrechtliche Aussetzungsentscheidung insoweit bindend. Der Annahme, dass § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU sinngemäß § 11 Abs. 4 AufenthG ausschließe, werde entgegengetreten. Dies würde die rechtliche Stellung von EU-Bürgern gegenüber Drittstaatsangehörigen verschlechtern, was vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt gewesen sei. Bei einer Veränderung der Prognosegrundlagen sei eine Verkürzung der Frist gerechtfertigt. Die Berechtigung des Einreise- und Aufenthaltsverbots entfalle mit dem Ende einer Gefährdung. Wenn sich also aus einer erneuten aktuellen Prognose keine hinreichende Gefährdung ergebe, sei die Frist auf Null zu reduzieren. Wenn die Gefährdung nicht mehr bestehe, stehe einer Aufhebung der Sperre nicht entgegen, dass der Betroffene noch nicht ausgereist sei. Aus der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (Az.: 19 ZB 19.914) ergebe sich, dass es bei dem Antragsteller an einer Aussetzungsentscheidung gefehlt habe, die nunmehr vorliege. Die Entscheidung des Landgerichts über die Aussetzung des Vollzugs von Strafrest und Maßregel führe dazu, dass eine günstige Prognose vorliege, die ohne Hinzutreten anderer Erkenntnisse dazu führen müsse, dass die bisherige Gefahrenprognose revidiert werden müsse.
Aus diesem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Antragsgegnerin entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten wäre, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen den Antragsteller abzusehen. Ein Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist nicht glaubhaft gemacht (§ 120 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers so lange auszusetzen, wie sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Eine Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen liegt vor, wenn sich aus nationalen Gesetzen, Verfassungsrecht (z.B. Art. 6 GG), Unionsrecht (z.B. Art. 8 EMRK) oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt.
Ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt sich vorliegend weder im Hinblick auf eine besondere Verwurzelung des im Alter von 5 Jahren eingereisten, zwischen 2009 und 2012 nicht im Bundesgebiet befindlichen Antragstellers nach Art. 8 EMRK (1.) noch im Hinblick auf eine ausnahmsweise vorläufige Sicherung eines Aufenthaltsrechts zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG (2.).
1. Die Abschiebung kann einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn sich ein seit langem oder schon immer in Deutschland lebender Ausländer persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat, hier verwurzelt, in seinem Herkunftsland entwurzelt (oder nicht verwurzelt war) und nach alledem zum „faktischen Inländer“ geworden ist (vgl. Koch in Kluth/Hornung/Koch ZuwanderungsR-HdB, 3. Aufl. 2020, § 5 Rn. 298). Abgesehen von grundsätzlichen gesetzessystematischen Einwänden, den Schutz der Privatsphäre nicht nur auf die Beendigung eines bestehenden Aufenthaltsrechts, sondern auch auf die Aussetzung des Vollzugs bestehender Ausreisepflichten anzuwenden, kommt ein Rekurs auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK nur dann in Betracht, wenn ein Ausländer in so hohem Maße aufgrund seiner Lebensumstände in Deutschland verwurzelt ist, dass er aufgrund einer abgeschlossenen und gelungenen Integration faktisch in so erheblichem Maße vom Aufenthalt im Bundesgebiet abhängig ist, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 10/2020, § 60a AufenthG, Rn. 97).
Von einem solchen Maß der Verwurzelung im Bundesgebiet kann bei dem (zuletzt) 2012 in das Bundesgebiet eingereisten Antragsteller in Anbetracht seiner massiven Straffälligkeit sowie der nicht gelungenen wirtschaftlichen Integration nicht ausgegangen werden. Auf die insoweit weiterhin Gültigkeit beanspruchenden Ausführungen in der Senatsentscheidung vom 15. Oktober 2019 (Az.: 19 ZB 19.914 Rn. 28 ff.) wird ergänzend verwiesen.
2. Der Antragsteller ist nach bestandskräftiger Verlustfeststellung seines Freizügigkeitsrechts vollziehbar ausreisepflichtig (§ 7 Abs. 1 FreizügG/EU). Ein Aufenthaltsrecht des Antragstellers, das ausnahmsweise durch eine Verfahrensduldung im Wege einer einstweiligen Anordnung zu sichern wäre, ist nicht ersichtlich.
Dahinstehen kann, ob im vorliegenden Fall, in dem der Antragsteller eine Verkürzung oder Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und ein Aufenthaltsrecht auch nach Ausreise weiterverfolgen kann, aus Gründen der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG die einstweilige Sicherung eines Aufenthaltsrechts durch eine Verfahrensduldung überhaupt in Betracht kommen kann.
Aus Art. 32 Abs. 2 EG-FreizügigkeitsRL ergibt sich die Vollziehbarkeit eines Einreise- und Aufenthaltsverbots trotz eines dagegen eingelegten Rechtsbehelfes (vgl. EuGH, U.v. 14.9.2017 – C-184/16 – juris Rn. 46). Ein vorläufiges Bleiberecht des Antragstellers muss daher und insbesondere deshalb ausscheiden, da er eine Verkürzung oder Aufhebung der Frist des Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots voraussichtlich nicht beanspruchen kann.
§ 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU eröffnet die Möglichkeit zur Überprüfung der festgesetzten Frist nach einer „angemessenen Frist“ oder nach drei Jahren. Maßgeblich für eine beschleunigte Überprüfung der festgesetzten Frist kann sein, dass offenkundig die Gründe für eine Aufrechterhaltung des Wiedereinreiseverbots entfallen sind oder erhebliche Anhaltspunkte für eine Änderung derjenigen Umstände vorliegen, die die Festlegung des Wiedereinreiseverbots ursprünglich gerechtfertigt haben (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand 10/2020, III. § 7 FreizügG/EU Rn. 26a). Entgegen der Auffassung des Antragstellers trifft § 11 Abs. 4 AufenthG demgegenüber keine günstigere Regelung; insbesondere ergibt sich auch aus § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG, dass eine freiwillige Ausreise nach Ausweisung zugunsten des Ausländers Berücksichtigung finden kann, mithin auch die gesetzliche Regelung nach dem Aufenthaltsgesetz von einer Verkürzung der mit der Ausreise beginnenden Sperrfrist im Regelfall erst nach erfolgter Ausreise ausgeht.
Bei der Bemessung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU ist zu beachten, dass ein Einreiseverbot für Unionsbürger eine Ausnahme vom Grundrecht des Unionsbürgers auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union darstellt, die nur zulässig ist, wenn die unionsrechtlichen Voraussetzungen für eine Beschränkung der Freizügigkeit erfüllt sind. Erforderlich ist daher eine Prognose, inwieweit die eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 rechtfertigenden Gründe fortwirken und für welchen Zeitraum sie voraussichtlich die Fernhaltung des Ausländers vom Bundesgebiet gebieten (vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 22b). Für die im Rahmen des Antrags auf Verkürzung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbots anzustellende aktuelle Gefahrenprognose ist auch das Verhalten des Betroffenen nach einer Ausreise zu würdigen (vgl. Hailbronner, a.a.O. § 7 FreizügG/EU, Rn. 28a). Ist der Betroffene noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden, so kann eine Befristung auf Null nur dann erfolgen, wenn von dem Betroffenen gar keine Gefahr mehr ausgeht. Besteht eine Gefahr zum Entscheidungszeitpunkt fort, so ist der Antrag auf Verkürzung abzulehnen.
Nach diesen Maßgaben ist vorliegend nicht von einem offenkundigen Entfallen der Gründe für eine Aufrechterhaltung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auszugehen. Die Ablehnung einer Aufhebung der festgesetzten Frist durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. November 2020 ist auch in Ansehung der zum 18. Mai 2020 ausgesprochenen Aussetzung von Strafrest- und Maßregelvollzug voraussichtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist eine Bindungswirkung an die strafvollstreckungsrechtliche Entscheidung über die Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe und der Maßregel für die ausländerrechtliche Gefahrenprognose nicht anzunehmen:
Trotz der indiziellen Bedeutung einer solchen Aussetzungsentscheidung hat der Senat schon mehrfach auf die unterschiedlichen Maßstäbe und den abweichenden Prognosehorizont einer strafrechtlichen Vollstreckungsaussetzung einerseits und der ausländerrechtlichen Sicherheitsprognose andererseits hingewiesen (vgl. B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466; B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10). Nach ständiger Rechtsprechung kommt Aussetzungsentscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB bzw. § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG, bei denen es maßgeblich darauf ankommt, ob die vorzeitige Entlassung verantwortet werden kann, bei der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus und sie führen auch nicht per se zum Entfallen der Wiederholungsgefahr; es bedarf einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18 ff.; BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 20; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – Rn. 8). Dabei sind die unterschiedlichen Zwecke, die eine vorzeitige Entlassung einerseits und eine Ausweisung andererseits verfolgen, und der daran jeweils anknüpfende unterschiedliche Prognosemaßstab zu berücksichtigen. Während es bei der Aussetzungsentscheidung darauf ankommt, ob die Aussetzung zur Bewährung (für den Zeitraum der Bewährungszeit) unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit – ggf. unter Auflagen und Weisungen zur Minimierung verbleibender Risiken (vgl. Bohnen in BeckOK BtMG, Stand: 15.3.2020, BtMG § 36 Rn. 97 f.) und mit Widerrufsmöglichkeit (s. 36 Abs. 4 BtMG i.V.m. § 56f StGB bzw. § 26 Abs. 1 JGG) – verantwortet werden kann (s. § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG), geht es bei der Ausweisung bzw. Verlustfeststellung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung bzw. Verlustfeststellung zugrunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 5.5.2020, a.a.O. Rn. 7 m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben ergibt sich aus der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 20. April 2020 vorliegend nicht ein Entfallen der sicherheitsrechtlichen Wiederholungsgefahr. Die Aussetzungsentscheidung wurde nach einer mehr als 3 Jahre andauernden Unterbringung in der Entziehungsanstalt unter Festsetzung der höchsten gesetzlich zulässigen Bewährungsfrist und Anordnung einer höchstzulässigen Führungsaufsichtsfrist von jeweils 5 Jahren getroffen. Der Aussetzungsentscheidung wurden 9 Weisungen beigefügt, darunter auch die Weisung einer engmaschigen (14-tägigen) ambulanten Kontrolle. Angesichts der langen Erprobung des Antragstellers könne nunmehr erwartet werden, dass der Antragsteller keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Es genüge, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht mit der Begehung neuer Straftaten zu rechnen sei. Die Weisungen seien erforderlich, um ein etwaiges Wiederaufleben des Betäubungsmittelkonsums rechtzeitig zu erkennen und reagieren zu können, um den Schutz der Allgemeinheit vor künftigen abhängigkeitsbedingten erheblichen rechtwidrigen Taten im gebotenen Umfang zu gewährleisten.
Aus der langen Dauer der Unterbringung, der Strafrestaussetzung unter Festlegung einer maximal möglichen Bewährungs- und Führungsaufsichtsfrist von 5 Jahren sowie insbesondere der angeordneten engmaschigen Kontrollen lassen sich sicherheitsrechtliche Vorbehalte auch seitens der Strafvollstreckungskammer erkennen. Im Hinblick darauf, dass der Antragsteller noch nicht einmal ein Jahr der Bewährungszeit und Führungsaufsicht beanstandungslos hinter sich gebracht hat, ist nicht von einer hinreichenden Bewährung außerhalb des Maßregelvollzugs auszugehen. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B.v. 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.801 – juris Rn. 7; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) kann bei Straftaten, die ihre (Mit-) Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, bei der Gefahrenprognose nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Betreffenden geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und er sich nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat.
Vor diesem Hintergrund ist es voraussichtlich nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin im Hinblick auf die bedrohten Rechtsgüter des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und Gesundheit und den demgemäß geringeren Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts von einem Fortbestehen der Wiederholungsgefahr beim Antragsteller trotz erfolgreichem Abschluss der Drogentherapie und Aussetzung des Maßregelvollzugs ausgeht, weil er sich noch nicht hinreichend lange Zeit in Freiheit – ohne den Druck und die Hilfen der Bewährung – bewährt hat und demgemäß noch nicht von einer dauerhaften Verhaltensänderung ausgegangen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – Rn. 9; B.v. 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.801 – juris Rn. 7; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.).
Mangels maßgeblicher Veränderung der sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose spricht daher nichts dafür, dass es im vorliegenden Fall aus Rechtsschutzgründen (Art. 19 Abs. 4 GG) ausnahmsweise geboten wäre, vorliegend der Antragsgegnerin die Abschiebung des Antragstellers vorläufig zu untersagen, da der Antragsteller eine Aufhebung des festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbots zum gegenwärtigen Zeitpunkt und ohne vorherige Ausreise voraussichtlich nicht beanspruchen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben