Verwaltungsrecht

Erfolgreiche Beschwerde gegen Versagung der Prozesskostenhilfe

Aktenzeichen  10 C 20.3061

Datum:
12.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4186
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 166
BayVwVfG Art. 51 Abs. 1, Abs. 3, Art. 49 Abs. 1
AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Prüfung der Erfolgsaussichten im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 56 Abs. 1 S. 1 AufenthG stellt die von der gesetzlichen Regel abweichende Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahmen in das Ermessen der Ausländerbehörde. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 20.1504 2020-11-27 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Dem Kläger wird unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 27. November 2020 für seine Klage (Au 1 K 20.1504) Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt H. R., A., beigeordnet.

Gründe

I.
Der Kläger verfolgt mit seiner Beschwerde seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage weiter. Mit dieser Klage begehrt er die Verpflichtung des Beklagten, eine bestandskräftige ausländerrechtliche Meldeauflage und eine Aufenthaltsbeschränkung abzuändern.
Der Kläger wurde mit Bescheid des Beklagten vom 28. Oktober 2010 aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Gleichzeitig beschränkte der Beklagte auf der Grundlage von § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Aufenthalt des Klägers ab Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung auf das Gebiet der Stadt Augsburg (Nr. 6 des Bescheids) und ordnete an, dass sich der Kläger ab Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung täglich bei einer Polizeidienststelle zu melden habe (Nr. 7 des Bescheids). Die sofortige Vollziehung wurde nicht angeordnet. Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Berufungsurteil des Senats vom 8. Januar 2020 (10 B 18.2485) abgewiesen, eine Nichtzulassungsbeschwerde (1 B 17.20) beim Bundesverwaltungsgericht blieb erfolglos. Über eine eingelegte Verfassungsbeschwerde ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden.
Mit E-Mail vom 20. Juli 2020 beantragte der Kläger die Aufhebung der Meldeverpflichtung sowie der Aufenthaltsbeschränkung, was der Beklagte mit Bescheid vom 5. August 2020 ablehnte. Zur Begründung führte der Beklagte aus, es sei kein Grund erkennbar, von der täglichen Meldepflicht oder von der Aufenthaltsbeschränkung abzuweichen. Die angeordneten Maßnahmen seien weiterhin in vollem Umfang zwingend erforderlich. Der Kläger sei noch immer gefährlich und habe insbesondere noch immer nicht glaubhaft von der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Abstand genommen.
Hiergegen erhob der Kläger Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht Augsburg und beantragte (sinngemäß), den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 5. August 2020 zu verpflichten, die Meldeauflage dahingehend abzuändern, dass höchstens eine wöchentliche Meldung erforderlich sei und den Aufenthalt auf den Freistaat Bayern zu beschränken, hilfsweise, über den Antrag vom 20. Juli 2020 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Zugleich wurde die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.
Mit Beschluss vom 27. November 2020 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Ein Anspruch im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG auf die begehrte Abänderung von Meldeauflage und Aufenthaltsbeschränkung bestehe nicht, da sich seit der Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung keine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben habe. Auch einen Anspruch auf (teilweisen) Widerruf der Auflagen nach Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG habe der Kläger nicht. Grundsätzlich bestehe insofern nur ein Anspruch auf eine ermessenfehlerfreie Entscheidung. Die Ermessenerwägungen des Beklagten im Bescheid vom 5. August 2020 seien nicht zu beanstanden.
Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner Beschwerde.
Für den Beklagten hat die Landesanwaltschaft Bayern Stellung genommen. Sie verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten.
II.
Die Beschwerde ist zulässig (§ 146 Abs. 1 VwGO) und begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe zu Unrecht versagt.
1. Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungsreife, der gegeben ist, sobald die vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen vorliegen und die Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme angehört worden ist, hier also der 13. November 2020, an dem die Klageerwiderung des Beklagten beim Verwaltungsgericht einging.
2. Gemessen daran bietet die Klage hinreichende Erfolgsaussichten.
Das Verwaltungsgericht hat zwar zutreffend erkannt, dass der Antrag des Klägers vom 20. Juli 2020 als Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahren nach Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinn) und Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinn) im Hinblick auf die in Nr. 6 und Nr. 7 des Bescheids vom 20. Oktober 2010 enthaltenen bestandskräftigen Regelungen zu behandeln war. Der Senat teilt auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass sich seit dem insoweit maßgeblichen Berufungsurteil des Senats vom 8. Januar 2020 (10 B 18.2485) eine maßgebliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des Klägers im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG nicht ergeben hat. Allerdings ist im oben dargestellten Sinne offen, ob der Beklagte überhaupt erkannt hat, dass er nach Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG eine Ermessenentscheidung über das Wideraufgreifen des Verfahrens zu treffen hatte.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde – auch wenn die in Art. 51 Abs. 1 bis 3 BayVwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zugunsten des Betroffenen wiederaufgreifen und eine neue – der gerichtlichen Überprüfung zugängliche – Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne; vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15/08 – BVerwGE 135, 121 – juris Rn. 24). Diese Möglichkeit des Wiederaufgreifens findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 51 Abs. 5 BayVwVfG i.V.m. Art. 48 und 49 BayVwVfG. Diese Regelungen ermächtigen die Behörden, ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren im Ermessenswege wiederaufzugreifen.
Ermessenerwägungen im Hinblick auf ein Wideraufgreifen im weiteren Sinne waren vorliegend nicht im Hinblick auf den Ausschlusstatbestand für einen (Teil-)Widerruf in Art. 49 Abs. 1 Satz 1 a.E. BayVwVfG überflüssig. Zwar darf ein (Teil-)Widerruf nicht erfolgen, wenn die Behörde einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt wieder erlassen müsste. Eine solche Konstellation liegt hier allerdings nicht vor, denn sie setzt voraus, dass es sich bei der in Frage stehenden Entscheidung um eine gebundene Entscheidung handelt oder eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (vgl. etwa Müller in Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 49 Rn. 6), was hier nicht der Fall ist. Es ist zwar möglich, dass der Beklagte nach einer entsprechenden Ermessensbetätigung an den getroffenen Regelungen zu Meldepflicht und Aufenthaltsbeschränkung festhalten darf. Eine Verpflichtung zu einer entsprechenden Regelung für den Fall eines gedachten (Teil-)Widerrufs vermag der Senat jedoch nicht zu erkennen. § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG stellt die von der gesetzlichen Regel abweichende Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahmen in das Ermessen der Ausländerbehörde (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.1.2021, § 56 AufenthG Rn. 15). Dass vorliegend nur eine tägliche Meldepflicht bzw. nur eine Aufenthaltsbeschränkung auf das Stadtgebiet Augsburg rechtmäßig und das Ermessen in diesem Sinne auf Null reduziert wäre, ist nicht ersichtlich.
Ausgehend hiervor lässt der Bescheid vom 5. August 2020 bereits nicht hinreichend sicher erkennen, welchem Prüfprogramm der Beklagte gefolgt ist. Die Bescheidsgründe erwecken den Eindruck, dass der Beklagte davon ausging, dass er (noch einmal) eine Entscheidung nach § 56 Abs. 1 AufenthG zu treffen und/oder nur die Verhältnismäßigkeit der bereits getroffenen Regelungen zu überprüfen habe. Art. 51 Abs. 5 i.V.m. Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG finden im Bescheid ebenso wenig Erwähnung wie der Begriff des Ermessens als solcher. Insofern bleibt letztlich unklar, in welchem (prozessualen) Verhältnis der Ausgangsbescheid vom 28. Oktober 2010 einerseits und der Bescheid vom 5. August 2020 andererseits stehen (vgl. für eine vergleichbare Konstellation BayVGH, B.v. 12.10.2017 – 10 C 16.1584 – juris Rn. 7). Die Klageerwiderung wiederholt im Wesentlichen nur die Bescheidsgründe.
Damit ist aber zumindest offen, ob der Bescheid des Beklagten nicht unter einem Ermessendefizit oder gar einem Ermessenausfall leidet und die Verpflichtungsklage daher im Hilfsantrag begründet ist.
3. Die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe liegen beim Kläger, der lediglich Leistungen nach dem AsylbLG bezieht, vor.
4. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Eine Gebühr nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nicht an, da die Beschwerde in vollem Umfang Erfolg hat. Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
5. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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