Verwaltungsrecht

Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach Verurteilungen wegen Raubes und Körperverletzung

Aktenzeichen  M 9 K 18.6302

Datum:
12.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16940
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 5
AEUV Art. 45 Abs. 3, Art. 83 Abs. 1
GG Art. 1

 

Leitsatz

1. Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Dies lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (Anschluss an EuGH BeckRS 2004, 73063). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von der Prognose aus einer Bewährungsentscheidung darf grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden, etwa, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, welches genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die zu einer Verlustfeststellung gem. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berechtigen, können nicht nur dann angenommen werden, wenn es sich um Straftaten handelt, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV aufgeführt sind (Anschluss an VGH München BeckRS 2014, 59696 Rn. 11). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger als Gesamtschuldner haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 21. November 2018 ist unbegründet, da der Bescheid rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klagebefugnis der Kläger zu 2 bis 8 ergibt sich aus der Geltendmachung einer Verletzung in ihren Rechten aus Art. 6 Abs. 1 GG.
a) Rechtsgrundlage für die rechtmäßige Verlustfeststellung in Ziffer 1 des Bescheides ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) getroffen werden.
aa) Vorliegend sind die maßgeblichen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung nach § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 FreizügG/EU erfüllt.
Soweit – wie hier – die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt, genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um diese Maßnahme zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Grundsätzlich muss für die Verlustfeststellung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i. S. d. Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – C-30/77 – juris – Bouchereau; U.v. 4.10.2007 – C-349/96 – juris – Polat; U.v. 4.10.2012 – C 249/11 – Rn. 40 f. – Hristo Byankor; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Schwerwiegende Gründe i.S.d. § 6 Abs. 4 FreizüG/EU liegen insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen vor, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen (BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 32).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Gericht überzeugt, dass die Straftaten des Klägers zu 1 auf eine Persönlichkeit hinweisen, welche auch zukünftig mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Begehung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen befürchten lässt. Es besteht zum einen die Gefahr, dass der Kläger wieder Verbrechen in Form von Eigentumsdelikten unter Anwendung von Gewalt begeht. Aufgrund des gemeinschaftlichen schweren Raubes erhielt er eine Einzelstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten. Beim Kläger besteht eine nicht behandelte Gewaltproblematik. Es besteht die Gefahr, dass er nach einer Entlassung aus der Tat wieder Straftaten zu Erlangung von Geld begehen wird. Es ist nicht ersichtlich, dass in Bezug auf die Arbeit und seine Familie der Kläger nach der Haft in eine Situation entlassen wird, welche sich gegenüber der Lage vor der Haft verbessert hat. Vielmehr ist nach der Klagebegründung das familiäre Umfeld noch deutlich schwieriger geworden. Das Familieneinkommen wird weiterhin sehr niedrig sein und die wirtschaftliche Situation der Familie mit den sechs Kindern wird problematisch sein. Offenbleiben kann deswegen, ob die Schulden des Klägers zu 1 nach dem Haftbericht vom 8. Dezember 2020 in Höhe von 30.000 € zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht mehr vorgelegen haben. Aus der Aktenlage ergibt sich zumindest nicht, woher die entsprechenden Geldmittel für eine Tilgung stammen sollten. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Kläger zukünftig nicht mehr einschlägig straffällig werden sollte. Eine erfolgreiche Behandlung der Gewaltproblematik ist nicht erfolgt. Es besteht zu anderen die erheblich Gefahr, dass der Kläger aus nichtigem Anlass weitere gefährliche Körperverletzungen begeht und dabei mit Hilfe von Bekannten gezielt vorgeht. Das Opfer der Körperverletzung war durch den Sohn des Klägers zu 1 durch den Eierwurf auf das fahrende Auto in nicht unerhebliche Gefahr gebracht worden. Der Fahrer wurde anschließend dann vom Kläger zu 1 als Erziehungsberechtigten und seinen zwei Freunden zusammengeschlagen. Dies hat er in Anwesenheit seines Sohnes begangen, sodass nicht davon auszugehen ist, dass ihn seine Familie von Straftaten abhalten wird. Der verurteilte schwere Raub zeigte des Weiteren eine erhebliche kriminelle Energie und die Inkaufnahme eines erheblichen Eskalationspotential durch die Verwendung von Revolvern. Die Kombination aus krimineller Energie und Hang zur Gewalt ist äußerst gefährlich. Auch wenn der schwere Raub bereits im Jahr … durch den Kläger zu 1 verübt wurde, so zeigt er doch ein persönliches Verhalten, dass eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU darstellt. Insbesondere hat der Kläger die damaligen Mittäter immer noch nicht bekannt gegeben und sich von der damaligen Tat nicht distanziert. Hätte er inzwischen den Kontakt zu den Mittätern im Rahmen des schweren Raubes abgebrochen, hätte es nahegelegen, die damaligen Mittäter gegenüber den Ermittlungsbehörden bekannt zu geben. Die aktuellere Tat der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzungen begründet zudem die Gefahr, dass der Kläger zu 1 nach seiner Haft wieder Kontakt zu einem kriminellen Umfeld suchen wird.
Vorliegend ist im Rahmen der Prognose auch der Bewährungsbeschluss des Landgerichts A. … vom … Juni … zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284, Rn. 11; BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris, Rn. 8 ff.). Grundsätzlich darf nur bei Vorliegen überzeugender Gründe von dieser Prognose abgewichen werden, etwa, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, welches genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (Gerstner-Heck in: BeckOK MigR, 7. Ed. 1.1.2021, FreizügG/EU § 6 Rn. 7). Der nachvollziehbaren Einschätzung des Landgerichts, dass insbesondere aufgrund der Vorstrafen in Form von Körperverletzungsdelikten und der unbehandelten Gewaltproblematik, auch bei einem Erstverbüßer nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von einem straffreien Leben auszugehen ist, folgt das Gericht. Neue umfassende Tatsachen, die eine andere Einschätzung notwendig machen, sind für das Gericht nicht ersichtlich. Der letzte Haftbericht vom 8. Dezember 2020 gibt keine Anhaltspunkte für eine diesbezügliche positive Änderung des persönlichen Verhaltens des Klägers zu 1. Ansonsten lässt das Gericht den für den Kläger zu 1 negativen Teil des Haftberichts im Rahmen der Prognose außer Betracht, da er widersprüchliche Angaben zum Verhalten des Klägers zu 1 gegenüber den Mithäftlingen enthält. Für die Prognose des Gerichts ist aber nicht entscheidend, ob der Kläger seine Mithäftlinge negativ beeinflusst hat.
bb) Die Beklagte hat zutreffend angenommen, dass die erhöhten Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU im Falle des Klägers nicht erfüllt seien müssen (1). Unabhängig davon liegen darüber hinaus nach Ansicht der Kammer die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit i.S.d. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vor (2).
(1) Nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Bei Bescheiderlass lag ein zehnjähriger ununterbrochener Aufenthalt des Klägers zu 1 im Bundesgebiet nicht vor.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für die Frage, ob eine Person die Voraussetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG, den „Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat“ gehabt zu haben, erfüllt, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergeht (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 88). Des Weiteren muss bei der Prüfung zum Zwecke der Feststellung, ob die Zeiträume der Haft zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat dergestalt geführt haben, dass der Betroffene nicht mehr in den Genuss des durch § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verbürgten verstärkten Schutzes kommen kann, eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorgenommen werden. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen; zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 70, 83). Dabei geht der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, dass je fester die Integrationsbande zum Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind, umso geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts führt (EuGH, a.a.O. Rn. 72).
Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde der Aufenthalt des Klägers durch die bis zum Bescheiderlass verbüßte Haftstrafe von … Monaten unterbrochen, sodass kein Aufenthalt von zehn Jahren im Bundesgebiet vorliegt. Der Kläger hatte zwar zum Bescheiderlass seine Lebensgefährtin und seine Kinder in Deutschland, aber er hatte auch noch Familie in Italien. Des Weiteren hatte er nur geringe deutsche Sprachkenntnisse und war wirtschaftlich nicht besonders integriert. Gearbeitet hatte er nur als ungelernte Küchenhilfe in italienischen Restaurants. Dazwischen bezog er immer wieder Arbeitslosengeld II. Seine äußerst geringe Integration zeigt sich ebenfalls in seinen diversen Straftaten seit 1999. Des Weiteren geht das Gericht aufgrund der Einwohnermeldedaten (BL. 378 d. BA) davon aus, dass der Kläger zu 1 sich zumindest bis 2009 regelmäßig mehrere Monate im Jahr in Italien aufgehalten hat. Offenbleiben kann, ob die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU auch deswegen nicht erfüllt seien müssen, weil der Kläger eventuell erst im Januar 2009 einen relevanten Aufenthalt im Bundesgebiet begründet hat. Zwar muss der Aufenthalt nicht unterbrechungsfrei gewesen sein (EuGH NJW 2011, 1201). Aufenthaltsunterbrechungen, die einer Bewertung im Einzelfall unterliegen, sind aber dann für die Anwendung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU schädlich, wenn sie den Integrationszusammenhang mit der Bundesrepublik unterbrechen (EuGH NVwZ-RR 2014, 245 = BeckRS 2014, 80039). Hierfür wird teilweise eine Orientierung an den Voraussetzungen des § 4a Abs. 6 FreizügG/EU und insbesondere der dortigen Grenze von sechs Monaten befürwortet (vgl. Kurzidem in: BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.2021, FreizügG/EU § 6 Rn. 22). Vorliegend kann die Beurteilung der Unterbrechung zwischen 2008 und 2009 aber unterbleiben, da schon aufgrund der Haftstrafe ein zehnjähriger Aufenthalt ausscheidet. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass durch die mehrere Monate dauernden Unterbrechungen in den Jahren davor, das Gericht entgegen dem Vortrag der Klägerseite keine Aufenthaltsdauer von 21 Jahren im Bundesgebiet zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses sieht.
(2) Letztlich liegen aber auch die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU vor. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe vom mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht, § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU. Soweit die Bevollmächtigte der Kläger der Meinung ist, dass schon aufgrund einer fehlenden Einzelstrafe von mindestens fünf Jahren, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU nicht vorliegen, verkennt sie den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. Diese spricht von einer oder mehreren Straftaten. Vorliegen wurde der Kläger zu 1 wegen zweier vorsätzlicher Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die von der Bevollmächtigten der Kläger zitierte obergerichtliche Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 21.4.2009 – 19 CS 08.3334 – juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 22.7.2008 – 13 S 1917/07 – juris Rn. 28) enthält lediglich die Aussage, dass mehrere Verurteilungen nicht summiert werden dürfen. Die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten beruht hier nur auf einer Verurteilung, nämlich dem Urteil des Landgerichts München I vom 4. Oktober 2017. Eine Summierung von mehreren Verurteilungen erfolgt somit nicht. Die im Gesetz getroffene Entscheidung an eine einheitliche Verurteilung auch für Fälle der Tatmehrheit anzuknüpfen ist auch im Hinblick auf die Regelung des § 54 Abs. 2 Satz 1 StGB unproblematisch möglich.
Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, der der Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38/EG dient, setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09- juris Rn. 40 f.; EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09, I. – juris Rn. 19 f.). Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit werden nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG „von den Mitgliedstaaten festgelegt“; diese unterliegen bei der Bestimmung dieser Anforderungen jedoch der Kontrolle durch die Organe der Europäischen Union (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09, I. – juris Rn. 22 u. 23). Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die zu einer Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berechtigen, können nicht nur dann angenommen werden, wenn es sich um Straftaten handelt, die in Art. 83 Abs. 1 UnterAbs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aufgeführt sind (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 11 ff. m.w.N.). Keinesfalls zwingend erforderlich ist deswegen, dass es sich um Fälle der organisierten Kriminalität handelt. Die körperliche Unversehrtheit des Menschen ist auch ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut (s. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; vgl. dazu BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 15.10.2020 – 10 ZB 20.1584 – juris Rn. 7).
Der schwere Raub in der Öffentlichkeit des Restaurants unter Einsatz einer Schusswaffe zur Drohung war in seinen gefährlichen Wirkungen auf die körperliche Unversehrtheit von anderen Personen nicht begrenzt. Selbst die Verwendung eines Scheinrevolvers birgt eine erhebliche Eskalationsgefahr, die bis zum Schusswaffengebrauch durch eintreffende Polizisten reicht. Diese Eskalationsgefahr hat der Kläger zu 1 damals in Kauf genommen und es besteht die ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass er auch zukünftig solche Gefahren in Kauf nimmt. Es besteht deswegen neben der Gefahr für fremdes Eigentum gleichzeitig die Gefahr für das Leben zukünftiger Opfer (z.B. durch Querschläger) und der zukünftigen beteiligten Personen. Es bedarf igentlich keiner großen Erläuterung, dass diese potentielle Eskalationsgefahr bei zukünftigen Taten in Kombination mit der beim Kläger zu 1 bestehenden und ungelösten Gewaltproblematik überragend wichtige Gemeinschaftsgüter betrifft.
cc) Die Verlustfeststellung ist verhältnismäßig und Ermessenfehler der Beklagten liegen nicht vor. Die Beklagte hat die nach § 6 Abs. 1, Abs. 3 FreizügG/EU notwendige Ermessensentscheidung in nicht zu beanstandender Weise getroffen (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2012 – 10 ZB 11.2751 – juris Rn. 4). Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung über eine Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines Unionsbürgers insbesondere die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Die aus dem Bescheid ersichtlichen Ermessenserwägungen sind entsprechend erfolgt. Die Beklagte hat die Familie des Klägers zu 1 in Deutschland fehlerfrei entsprechend Art. 8 EMRK und Art. 6 GG berücksichtigt. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Beklagten auch noch ergänzt, dass die Heirat nach Bescheiderlass nicht sehr stark gewichtet werden könne, da diese unter dem Eindruck der drohenden Abschiebung nach Italien erfolgt sei. Die Ermessensausübung wurde insoweit durch die Beklagte zutreffend aktualisiert.
Die Verlustfeststellung ist nicht unverhältnismäßig. Zugunsten des Klägers zu 1 sprechen die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiären Verbindungen in Deutschland. Aber selbst das jüngste Kind ist inzwischen acht Jahre und wird zehn Jahre sein, wenn der Kläger zu 1 aus der Haft entlassen wird. Alle Kinder werden sich an die Trennung vom Vater bereits gewöhnt haben. Der Kontakt nach Italien ist über Fernkommunikationsmittel möglich. Soweit die Bevollmächtigte den ausreichenden Kontakt über Skype und Telefon als weltfremd bezeichnet, wird zusätzlich noch darauf hingewiesen, dass es der Kläger zu 1 selbst in der Hand hat durch seine spätere Wohnsitzwahl, z.B. in Südtirol, die Entfernung nach Deutschland gering zu halten. Dann wären auch Besuche über das Wochenende realistisch. Besuche der Kinder und der Ehefrau in den Ferien können unproblematisch erfolgen. Der Umfang der Kontakte wird sich nicht maßgeblich zu den bisherigeren Kontakten in der Justizvollzugsanstalt ändern. An diesen beschränkten Kontakt zum Vater hat sich die Familie bereits gewöhnt. Zwar hat der Kläger zu 1 früher nach eigenen Angaben das Familieneinkommen erwirtschaftet. Die Erwirtschaftung des Familieneinkommens ist aber auch durch die Klägerin zu 2 möglich. Der Kläger zu 1 besitzt keine Ausbildung und arbeitete hauptsächlich als ungelernte Küchenhilfe. Der Klägerin zu 2 kann es zukünftig gelingen einen ähnlichen Job zu finden. Eine besondere wirtschaftliche oder sprachliche Integration des Klägers zu 1 in Deutschland ist trotz der längeren Aufenthaltszeit in Deutschland nicht erkennbar. Die diversen Straftaten sprechen sehr stark gegen eine gelungene Integration. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass der Umfang der wirtschaftlichen Integration sehr Wohl von der Art des Berufes abhängt und ob dieser in gleicherweise im anderen Land ausgeübt werden kann. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der Kläger als ungelernte Küchenkraft nur in Deutschland und nicht auch in Italien arbeiten kann. Besondere wirtschaftliche Kontakte zu deutschen Unternehmen bedarf es für die Ausübung dieses Berufes nicht.
b) Gegen die Befristungsentscheidung in Ziffer 2 des Bescheides bestehen unter Berücksichtigung der erheblichen Straffälligkeit des Klägers und der bestehenden Wiederholungsgefahr aufgrund der fehlenden Distanzierung von seinen Taten und der unbehandelten Gewaltproblematik keine Bedenken. Bei der Befristung auf sechs Jahre sind die Kinder und die Ehefrau in Deutschland ausreichend berücksichtigt (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Dass es sich bei der Klägerin zu 2 im Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch um die Lebensgefährtin des Klägers zu 1 gehandelt hat, macht die Befristung auf sechs Jahre zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht rechtswidrig. Maßgeblich ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Ehegatten (vgl. BayVGH, B.v. 23.4.2020 – 10 ZB 20.752 – juris Rn. 10). Zur Überzeugung des Gerichts hat die Heirat während der Haft zu keiner engeren tatsächlichen Verbundenheit zwischen dem Kläger zu 1 und der Kläger zu 2 geführt. Durch die Heirat konnte allenfalls die bestehende vorherige Verbindung trotz haftbedingter Trennung und unter dem Eindruck der späteren Ausreisepflicht nochmals bestätigt, aber nicht vertieft werden. Eine Heirat im Wissen um die Straftaten und eine Ausreiseaufforderung hat nach der ständigen Rechtsprechung des BayVGH im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG ein relativiertes Gewicht (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 5.11.2018 – 10 ZB 18.1710 – juris Rn. 18). Die Heirat nach Bescheiderlass führt deswegen nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Befristung auf sechs Jahre.
c) Die in Ziffer 3 verfügte Ausreisepflicht und Abschiebungsandrohung beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU. Die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 FreizügG/EU. Die Abschiebungsandrohung entspricht ebenfalls den gesetzlichen Vorgaben nach §§ 7 Abs. 1, 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 AufenthG (zu den gesetzlichen Grundlagen der Abschiebungsandrohung vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – juris Rn. 10).
2. Die hilfsweise erhobene Klage hat keinen Erfolg, da sie bereits unzulässig ist. Die unbedingt erhobene Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist auch gegen die Befristungsentscheidung in Ziffer 2. des Bescheides statthaft. Im Falle einer rechtswidrig zu langen Frist, wäre der Bescheid nur insoweit aufzuheben gewesen, als die Frist die rechtmäßige Länge überschreitet (vgl. für eine Teilaufhebung z.B. VG München, U.v. 16.1.2020 – M 10 K 18.6014 – juris). Bei der Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU handelt es sich um eine gerichtlich vollüberprüfbare gebundene Entscheidung (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 -, BVerwGE 151, 361 Rn. 29). Die Teilaufhebung bis auf eine Dauer von einem Jahr war deswegen im Rahmen der unbedingt erhobenen Anfechtungsklage bereits zu prüfen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: „Soweit“). Die hilfsweise erhobene teilweise Anfechtungsklage ist wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit unzulässig (vgl. Ehlers in: Schoch/Schneider VwGO, 39. EL Juli 2020, § 17 GVG Rn. 14). Ihr Streitgegenstand ist vollständig im Streitgegenstand der unbedingt erhobenen Anfechtungsklage enthalten (vgl. VG München, U.v. 4.3.2020 – M 9 K 19.857 – Rn. 18).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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