Verwaltungsrecht

Flüchtlingsanerkennung für Syrer

Aktenzeichen  W 2 K 16.32342

Datum:
6.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 151945
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3

 

Leitsatz

Ein individuell gefahrerhöhender Umstand ergibt sich aus der von den syrischen Einreisebehörden praktizierten Sippenhaft im Hinblick auf den Militärdienstentzug von Angehörigen (hier der Brüder). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 22. November 2016 (Gz. …) wird in Ziff. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schriftsatz des Klägervertreters vom 3. Januar 2017 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamtes für … vom 25. Februar 2016 mit Ergänzung vom 24. März 2016 vor.
2. Die Klage ist zulässig und begründet.
Da sich der Verpflichtungsantrag alleine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bezieht, ist auch die damit verbundene Anfechtung von Ziff. 2 des streitgegenständlichen Bescheides dahingehend auszulegen, dass sie nur soweit reichen soll, wie Ziff. 2 einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht (§ 88 VwGO). Die Ablehnung des klägerischen Antrags auf Zuerkennung der Asylberechtigung ist daher nicht Klagegegenstand.
Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 22. November 2016 ist in Ziff. 2 hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AsylG) bzw. in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG), und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens befindet (§ 3 Abs. 1, 4 AsylG). Insoweit kann dahinstehen, ob der klägerische Vortrag bzgl. der erlittenen Schläge durch einen Soldaten und der Inhaftierung für eine Nacht glaubhaft ist. Dem Kläger droht – auch ohne Vorverfolgung – nach einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Klägers nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach diesem Maßstab und der Erkenntnislage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist es zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK).
Das Gericht ist weiterhin davon überzeugt, dass der syrische Staat auch gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags in Verbindung mit einem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland generell als Ausdruck einer regimekritischen Gesinnung sieht und zum Anknüpfungspunkt für Festnahme und Folter nimmt. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hebt in seinen Urteilen vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16.30364, 21 B 16.30372) hervor, dass im Fall einer Rückkehr nach Syrien die Wiedereinreisenden im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden (BayVGH, a.a.O.). Die Sicherheitsbeamten würden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob die Wiedereinreisenden von den Behörden gesucht würden. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine „carte blanche“ hätten, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen würden (vgl. BayVGH, a.a.O., m.w.N.). Gleichwohl gelangt der Bayer. Verwaltungsgerichtshof zu dem Ergebnis, dass die syrischen Sicherheitskräfte bei zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerbern selektiv vorgehen und es zusätzlicher signifikanter gefahrerhöhender Merkmale oder Umstände bedarf, die die beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit begründen.
Da im Fall des Klägers signifikante, gefahrerhöhende Umstände im Sinne der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vorliegen, kommt es hier nicht darauf an, ob den aktuellen Erkenntnismitteln eine andere – weitergehende – Risikobewertung zu entnehmen ist.
Die gefahrerhöhenden Umstände im Sinne des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ergeben sich im Fall des Klägers aus der von den syrischen Einreisebehörden praktizierte Sippenhaft im Hinblick auf den Militärdienstentzug seiner ebenfalls geflüchteten Brüder. Soweit diese im militärdienstpflichtigen Alter sind, stehen deren Namen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf den Fahndungslisten der syrischen Einreisebehörden. Auch der Bayer. Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen von den syrischen Sicherheitskräften, in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung, insbesondere Folter, droht (BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30372). Demnach stellt auch nach Auffassung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs die Gefahr, dass die Namen der Brüder des Klägers bei einer Wiedereinreise nach Syrien auf den Fahndungslisten der Geheimdienste stehen, einen beachtlichen Nachfluchtgrund dar. Im Zuge der von den Sicherheitsdiensten des syrischen Regimes praktizierten „Sippenhaft“ strahlt dieser auch auf den noch nicht wehrpflichtigen Kläger aus. So weist die vierte aktualisierte Fassung der UNHCR-Erwägungen zum „Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ von November 2015 darauf hin, dass – bleibt eine Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die man für einen Regierungsgegner hält, erfolglos – die Sicherheitskräfte dazu übergehen, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Das Verwandtschaftsverhältnis zu den ebenfalls geflüchteten (militärdienstpflichtigen) Brüdern ist damit selbst dann ein signifikant gefahrerhöhenden Umstand, wenn man die Gefahr einer Zwangsrekrutierung des an der Schwelle zur Wehrpflicht stehenden Klägers bei einer Rückkehr – entgegen des ausdrücklichen Wortlauts von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG – allein noch nicht als flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrund gelten lassen wollte.
Hinzu kommt die Herkunft des Klägers aus Daraa, in dem der Bürgerkrieg mit Demonstrationen gegen das Assad-Regime seinen Ausgang nahm. Wie sich auch aus den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof herangezogenen Informationen der kanadischen Immigrations- und Flüchtlingsbehörde ergibt, hat allein die Herkunft aus einer bestimmten Region bei der Rückkehr eines Asylbewerbers im August 2015 zu einer Aussonderung durch die syrischen Regierungsbeamten am Flughafen Damaskus geführt, die in einer 20tägigen Haft mit Folterungen mündete (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S.6).
Jeder der angeführten individuellen Umstände ist für den Kläger als gefahrerhöhend zu erachten, und hebt ihn – jedenfalls in der Zusammenschau dieser Umstände – signifikant von der Masse an möglichen Rückkehrern ab. Daher besteht für den Kläger – selbst unter Zugrundelegung der restriktiven Maßstäbe des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs (a.a.O.). – die beachtliche Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus von staatlichen Stellen wegen einer (unterstellten) politischen Gesinnung verfolgt zu werden.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Kläger nicht zur Verfügung, da er bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus keinen (möglicherweise) sicheren Landesteil sicher und legal erreichen kann, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


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