Verwaltungsrecht

Folgeantrag, Konkludente Teilklagerücknahme, Abschiebungsverbote, Zielstaat: Äthiopien;, Existenzminimum;, Addis Abeba;, männlich;, volljährig;, gesund und arbeitsfähig;, keine Unterhaltslasten;, wohl kein familiäres Netzwerk

Aktenzeichen  M 13 K 17.48437

Datum:
21.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 17845
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 71
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I. 
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2022 über die Verwaltungsstreitsache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
II.
Soweit die Klage durch die Antragsbeschränkung in der mündlichen Verhandlung konkludent zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
III.
Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist die Klage zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 21. September 2017 ist – in dem zur Entscheidung des Gerichts gestellten Umfang – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
Der Kläger hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Zielstaats Äthiopien.
Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger nicht in der Lage ist, nach einer Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken – sogleich unter 1. sowie 2. jeweils unter a.
1.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
a. 
(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41 738/10, Paposhvili/Belgien – NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/1, C. I. u.a. – NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 – juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 – 1 Bf 132/17.A – juris, Rn. 39).
Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 175).
Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer im Falle einer Rückkehr in den Zielstaat drohen, ist eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zu Grunde legen (BVerwG, U.v. 8.9.1992 – 9 C 8.91 – BVerwGE 90, 364 (368 f.); BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 9 C 7.93 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 391 f.).
(2) Gemessen an diesen Grundsätzen besteht nach Überzeugung des Gerichts nicht die Gefahr, dass der Kläger nach einer Rückkehr nach Äthiopien, etwa in die Hauptstadt Addis Abeba, nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum zu decken, insbesondere sich nicht ausreichend mit Nahrung und Unterkunft zu versorgen – auch unter Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt, COVID-19-Pandemie und in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Pandemieschutzmaßnahmen sowie infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Äthiopien.
(a) Die Rückkehr des Klägers wird aller Voraussicht nach auf dem Luftweg über den Internationalen Flughafen der Hauptstadt Addis Abeba erfolgen.
Da der Kläger laut eigenen Angaben in Addis Abeba geboren und dort die ersten vier Jahre seines Lebens sowie ab 2002 weitere dreizehn Jahre verbracht hat, des Weiteren dort ausweislich der dem Gericht vorliegenden und zum Gegenstand dieses Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln derzeit die Sicherheitslage sowie die Erwerbsmöglichkeiten gut und die Versorgungslage – anders als in manch anderen Landesteilen – flächendeckend noch gesichert ist, ist für die Rückkehrprognose zudem in räumlicher Hinsicht davon auszugehen, dass die Hauptstadt im Falle einer realistischen Rückkehr des Klägers nach Äthiopien den ersten (und primären) Anlaufpunkt bildet.
(b) Was die Versorgung mit Nahrungsmitteln betrifft, hat die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) und das World Food Programm (WFP) in ihrer aktuellen Lageprognose für die Monate Juni bis September 2022 – Stand Juni 2022 (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022) die Entwicklung der Versorgungslage für Äthiopien und dessen einzelne Landesteile wie folgt eingeschätzt:
Zur hierbei verwendeten fünfstufigen IPC/CH-Skala:
(siehe hierzu auch FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022, Seite 7)
Die FAO / das WFP teilen hierfür die Lage, was die Versorgung mit Lebensmitteln bzw. die Versorgungsunsicherheit betrifft, in fünf Stufen (sog. „Phasen“) ein.
In Stufe (Phase) 1 („None / Minimal“) sind die Haushalte noch in der Lage, sich Grundnahrungsmittel (oder hierfür erforderliche Einnahmen) zu beschaffen, ohne hierfür völlig ungewöhnliche oder nicht nachhaltige Beschaffungsstrategien anwenden zu müssen.
In Stufe (Phase) 2 („Stressed“) sind Haushalte zwar noch in der Lage, ihren absoluten Minimalbedarf an Nahrungsmittel zu decken, jedoch nicht mehr in der Lage, darüber hinaus Ausgaben für andere Produkte zu tätigen.
In Stufe (Phase) 3 („Crisis“) leiden Haushalte entweder infolge Versorgungslücken an akuter Unterernährung oder sind nur durch Abbau anderer, für den Lebensunterhalt essenzieller Güter gerade so in der Lage, ihren Minimalbedarf an Nahrungsmitteln zu decken.
In Stufe (Phase) 4 („Emergency“) haben einige Haushalte entweder große Versorgungslücken mit Lebensmitteln mit der Folge von sehr hoher akuter Mangelernährung und steigender Sterblichkeitsrate oder können große Versorgungslücken nur unter Anwendung von Notfallstrategien und Liquidation sämtlicher Vermögenswerte vermeiden.
In Stufe (Phase) 5 („Catastrophe“) leiden die Haushalte trotz Anwendung aller Notfallstrategien an extremen Versorgungslücken betreffend Nahrungsmittel oder anderen Basisgütern. Hunger, Tod, Armut und extrem-kritische Mangelernährung sind offensichtlich.
Für die Stufe (Phase) 5´+ („Famine“ = Hungersnot) ist darüber hinaus erforderlich, dass die betroffene Region ein extrem kritisches Level an akuter Mangelernährung und Sterblichkeit aufweist.
Die Lage im Bundesstaates Tigray, welcher selbst kaum über fruchtbare Böden und eigenen Ackerbau verfügt und deshalb traditionell auf Weizenimporte aus anderen Landesteilen Äthiopiens, insbesondere den fruchtbaren Agrarregionen, insbesondere in den Bundesstaaten Oromia, Amhara und Gambela, oder aus dem Ausland angewiesen ist, und welche im Zuge der Kämpfe zwischen der äthiopischen Armee und der TPLF zeitweise für Nahrungsmittelimporte oder Hilfslieferung nicht zugänglich war, wurde – trotz der derzeit ausgerufenen Waffenruhe – mit Stufe 5+ (Gefahr einer Hungersnot) bewertet (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S. 26)
Für die derzeit besonders von der anhaltenden Dürre betroffenen Landesteile im Süden Äthiopiens, sprich die Bundesstaaten Somali (an der Grenze zu Somalia) und SNNPR sowie die Provinz Borena im Bundesstaat Oromia wurde die Versorgungslage für die nächsten Monate mit Stufe 3 oder schlimmer eingeschätzt (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S. 26).
Alle weiteren Landesteile, wie etwa die Hauptstadt Addis Abeba oder die übrigen Provinzen des Bundesstaates Oromia und der Bundesstaat Amhara mit ihrem fruchtbaren Ackerland wurden als unterhalb der Phase 3 liegend prognostiziert.
Alle anderen Landesteile, insbesondere auch die Hauptstadt Addis Abeba liegen daher unterhalb der Stufe („Phase“) 3, so dass insoweit nicht einfach pauschal davon ausgegangen werden kann, dass ein Großteil der dort lebenden Haushalte sich nicht mehr ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgen können.
(b) Jedoch ist ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel auch hinsichtlich der anderen, unterhalb der Phase 3 eingestuften Landesteile zu berücksichtigen, dass infolge zahlreicher Dürren und Überschwemmungen in Äthiopien in den letzten Jahren sowie der COVID-19-Pandemie und der hiergegen landes- und weltweit ergriffenen Gegenmaßnahmen, insbesondere aber infolge der seit November 2020 im Norden Äthiopiens geführten Kämpfe zwischen äthiopischer Armee und TPLF, sowie zuletzt auch infolge des seit Ende Februar bestehenden Ukraine-Krieges und dessen Auswirkungen auf die Versorgung Ostafrikas mit Getreide und Düngemitteln, die Preise für Lebensmittel in Äthiopien massiv gestiegen sind, bis März 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 43,4% (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Blockade ukrainischer Schwarzmeerhäfen durch Russland ist ferner zu berücksichtigen, dass Äthiopien stark auf Kraftstoff-, Düngemittelsowie Weizenimporte angewiesen ist und in der Vergangenheit zwei Drittel des importierten Weizens aus Russland und der Ukraine bezog (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Vor dem Hintergrund von Importabhängigkeit und drastisch gestiegenen Weltmarktpreisen für Weizen und andere benötigte Produkte kommt erschwerend hinzu, dass die – insbesondere durch massive Militärausgaben (laut Einschätzung der Vereinten Nationen bereits bis August 2021 über eine Milliarde US-Dollar) hervorgerufene – drastische Erhöhung der Staatsverschuldung zu einem starken Verfall der äthiopischen Währung Birr sowie einen massiven Anstieg der Inflation, von 18% vor Beginn des Tigray-Konflikts bis auf 34,2% im Oktober 2021 (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021), geführt hat (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Vor diesem Hintergrund ist daher davon auszugehen, dass sich die Preise für Lebensmittel weiter steigen (FAO / WFP – Hunger Hotspots – early warnings on acute food insecurity – June to September 2022 Outlook – Juni / 2022 – S.26).
Zudem hat sich – insbesondere infolge des Tigray-Konflikts und den damit verbundenen Militärausgaben sowie der sich in diesem Zusammenhang massiv verschlechterten Sicherheitslage – die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land und auf dem Arbeitsmarkt stark verschlechtert.
Insbesondere die schon seit vielen Monaten andauernden Kämpfe zwischen äthiopischer Armee und TPLF-Kämpfern haben die gesamte äthiopische Wirtschaft landesweit schwer geschädigt, insbesondere zentrale Sektoren wie die Landwirtschaft, den Bergbau oder auch die Produktion. Das erwartete Wirtschaftswachstum wird mit unter 2% beziffert, das niedrigste seit über zwei Jahrzehnten (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021).
Aufgrund der anhaltenden schlechten Sicherheitslage, nicht nur im Norden des Landes, beendeten in den letzten Monaten zudem viele ausländische Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten, schlossen Fabriken und Manufakturen und sahen von weiteren Investitionen in Äthiopien ab (Future Center – How the war in Tigray is impacting Ethiopia’s economy? (futureuae.com), abgerufen am 13.12.2021). So schloss etwa einer der weltweit größten Kleidungsproduzenten, PVH, sein Werk in Hawassa und damit die größte Fabrik des Landes.
Rund ein Viertel der äthiopischen Bevölkerung lebt derzeit unterhalb der Armutsgrenze (BBC, Ethiopia’s economy battered by Tigray war – BBC News, 14.03.2022).
(c) In Bezug auf Addis Abeba ist neben den steigenden Nahrungsmittelkosten noch zusätzlich zu berücksichtigen, dass infolge des massiven Bevölkerungszuwachses in den vergangenen Jahren bei gleichzeitig geringer Investitionen in den Wohnungsbau die Wohnungskosten massiv gestiegen und für Geringverdiener allein kaum mehr erschwinglich sind.
So ist bereits seit Jahren ein zunehmender Zuzug der äthiopischen Landbevölkerung in die Städte, in denen sich die Hilfsorganisationen niedergelassen haben, zu verzeichnen, insbesondere in das wirtschaftliche Zentrum des Landes, Addis Abeba. Unzählige suchen dort neue Einkommensquellen oder sind schlicht auf die dortige Lebensmittelhilfe angewiesen (Fluchtgrund, https://www.fluchtgrund.de/land/aethiopien, abgerufen am 14.03.2022).
So weist Addis Abeba bereits jetzt eine Bevölkerungszahl von 5,2 Millionen Einwohnern auf (World Population Review, https://worldpopulationreview.com/world-cities/addis-ababa-population, abgerufen am 14.3.2022), wobei viele der dort lebenden Menschen nicht registriert und oftmals ohne adäquate Unterkunft dort leben, die reale Einwohnerzahl somit wohl noch höher liegen dürfte. Für die nahe Zukunft wird ein Anstieg der Einwohnerzahl auf 6,5 Millionen Einwohner prognostiziert (World Population Review, https://worldpopulationreview.com/world-cities/addis-ababa-population, abgerufen am 14.3.2022).
Angesichts des seit Jahren hohen Bevölkerungszuzugs und gleichzeitig geringer (auch staatlicher) Investitionen in den Wohnungsbau, herrscht in Addis Abeba bereits seit Jahren ein immer eklatanter werdender Mangel an Wohnraum, was entsprechend hohe Wohnungskosten zur Folge hat. Sozial- bzw. vergünstige Wohnungen sind kaum vorhanden und werden zudem oftmals unter der Hand gegen hohe Preise weitergegeben (siehe zu diesem Thema insgesamt insbesondere: CBMS – Ethiopia Poverty Profiles of Dire Dawa and Addis Abeba – 2016).
Jedoch ist dem Gericht aus den vorliegenden Erkenntnismitteln sowie aus einer Vielzahl an anderen Verfahren mit äthiopischen Staatsangehörigen bekannt, dass insbesondere ärmere Bewohner der Hauptstadt, insbesondere auch Tagelöhner oder Bettler, den steigenden Wohnungspreisen dahingehend erfolgreich begegnen, indem sie sich zu mehrköpfigen Wohngemeinschaften zusammenschließen und mit gebündelten finanziellen Mitteln Wohnraum in der Lage sind, gemeinsam Wohnraum anzumieten.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Hauptstadt weiterhin eine Vielzahl an wirtschaftlicher Betätigung ermöglicht und auch Tagelöhner und selbst Bettler derzeit grundsätzlich noch in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt dort zu sichern.
(c) Vor diesem allgemeinen Hintergrund betrachtet weist der Kläger auch keine außergewöhnlichen individuellen Umstände auf, die erwarten lassen, dass es dem Kläger – anders als vielen anderen Mittel- oder Geringverdienern in Addis Abeba – nicht gelingen wird, sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen.
Der größtenteils in Äthiopien (vier Jahre, von 1996 bis 2000, sowie weitere 13 Jahre von 2002 bis 2015) aufgewachsene und sozialisierte Kläger verfügt über eine fünfjährige Schulausbildung in Äthiopien. Amharisch, die Hauptlandessprache Äthiopiens, ist seine Muttersprache.
Zudem ist es ihm bereits in der Vergangenheit in Äthiopien über längere Zeit gelungen, sich als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt selbstständig zu sichern.
Außerdem ist davon auszugehen, dass der Kläger während seines über sechsjährigen Aufenthalts gelungen ist, etwas Deutsch zu lernen, was er im Falle einer Rückkehr ebenfalls gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt einsetzen kann, etwa in der Tourismusindustrie oder als Dolmetscher / Mitarbeiter für westliche Hilfsorganisationen oder die deutsche Auslandsvertretung.
Zudem ist von dem insoweit darlegungs- und nachweispflichtigen Kläger nicht dargelegt, geschweige denn nachgewiesen worden, dass er infolge etwaiger gesundheitlicher Beschwerden nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig ist.
Auch ist die äthiopische Wirtschaft bzw. der dortige Arbeitsmarkt derzeit nicht infolge weitreichender Pandemieschutzmaßnahmen (allgemeiner oder zumindest Teil-Lockdown / Geschäftsschließungen o.Ä.) in vielen Teilen lahmgelegt, Hotels, Gaststätten, Kinos und Clubs etc. geöffnet (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aethiopien-node/aethiopiensicherheit/209504; abgerufen am 21.06.2022).
Auch ist der Kläger ledig und kinderlos, somit keinen Unterhaltslasten ausgesetzt.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Kläger im Falle einer freiwilligen Rückkehr auf umfangreiche Leistungen diverser Rückkehrerprogramme zurückgreifen kann (https://www.returningformgermany.de/de/programmes; abgerufen am 18.06.2022):
Neben einer einmaligen finanziellen Starthilfe in Höhe von1.000 EUR sowie der Übernahme der Reisekosten im Rahmen des Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG) sowie des Government Assisted Repatriation Programme (GARP) sind dies u.a.:
Im Vorfeld, noch vor seiner Rückkehr nach Äthiopien: Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM) wie etwa Coachings und Workshops in entsprechender Sprache zur Existenzgründung im Zielstaat.
Nach Ankunft in Äthiopien: Reintegrationsunterstützungen, zum einen in Form von nicht-monetären Unterstützungsleistungen wie etwa (neben der In-Empfangnahme am Flughafen u.a. auch) die Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche sowie die Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien, sowie ggf. auch weitere finanzielle Unterstützung wie etwa die sog. 2. Starthilfe nach sechs bis acht Monaten im Rahmen des sog. StarthilfePlus-Programms.
Zudem werden im Rahmen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) für vulnerable Personen individuelle Unterstützungsleistungen durch ein Netzwerk lokaler Service Provider und Partner sowie im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien Hilfeleistungen für Menschen in Not zur Verfügung gestellt.
Aufgrund der vorgenannten Faktoren ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger – trotz der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage in Äthiopien und auch ohne familiäres Netzwerk in Äthiopien – in Addis Abeba das Existenzminimum wird sichern können.
b. Im Übrigen folgt das Gericht in Bezug den Ausführungen des Bundesamtes in den Gründen des angefochtenen Bescheids und sieht von einer weiteren Darstellung der Gründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2.
Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a. 
Liegen – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris Rn. 282).
b. 
Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
(1) Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
(2) Zwar besteht auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich des Klägers nicht derart extrem, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würde (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab.
Jedoch ist der Kläger jung und gesund und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
c. 
Individuelle Gesundheitsgefahren wurden vorliegend weder geltend gemacht noch sind diese anderweitig ersichtlich.
III. 
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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