Verwaltungsrecht

Herstellungsanspruch, SGB X

Aktenzeichen  L 6 R 245/18

Datum:
7.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 40624
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 14
GG Art. 3
SGB VI § 93 Abs. 2 Nr. 2a
SGB X § 44 Abs. 1
SGB X § 44 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Die zeitliche Beschränkung des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X für nachzuzahlende Sozialleistungen (hier: Altersrente) greift unabhängig vom Grad des dem zuständigen Sozialversicherungsträger zuzurechnenden Verschuldens.
2. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
3. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch wird im Hinblick auf die Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes durch die Vorschrift des § 44 SGB X tatbestandlich verdrängt.

Verfahrensgang

S 3 R 615/17 2018-03-16 SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. März 2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige, insbes. form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet.
Zu Recht hat die Beklagte mit den im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage angegriffenen Bescheiden vom 12.06.2017 und vom 26.07.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2017 eine Neuberechnung der Altersrente des Klägers erst ab 01.01.2013 vorgenommen sowie verzinste Nachzahlungen erst ab diesem Zeitpunkt erbracht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf weitergehende Nachzahlungen für Zeiten vor dem 01.01.2013.
Unstreitig wurde die Regelaltersrente des Klägers im Rahmen der bestandskräftig gewordenen Erstfeststellung zum 01.10.1995 aufgrund eines Fehlers bei der Berechnung der zu berücksichtigenden Verletztenrente nach § 93 Abs. 2 Nr. 2a SGB VI in unzutreffender Höhe errechnet. Dementsprechend hat die Beklagte nach Bekanntwerden des Fehlers im Rahmen einer individuellen Prüfung im Juni 2017 diesen Fehler nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X von Amts wegen korrigiert. Dass hierbei eine Nachzahlung von Altersrente lediglich für die Zeit ab 01.01.2013 festgestellt wurde, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorgehensweise entspricht der Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, längstens für einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Zeitraum der Rücknahme wird ab Beginn des Jahres gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X, und wurde vorliegend mit dem 01.01.2013 zutreffend berechnet. Das Regelungsgefüge des § 44 SGB X bringt insoweit zwei widerstreitende Prinzipien zum Ausgleich: Auf der einen Seite verhilft es der materiellen Gerechtigkeit zur Geltung. Adressaten rechtswidriger Verwaltungsakte sollen so gestellt werden, als hätte die zuständige Behörde von vornherein richtig gehandelt. Auf der anderen Seite berücksichtigt es die Bestandskraft behördlicher Entscheidungen, indem hohe tatbestandliche Anforderungen normiert und in Abs. 4 die leistungsrechtlichen Folgen einer Durchbrechung begrenzt werden. Damit sind zwei wesentliche Aspekte des in Art. 20 Abs. 3 GG wurzelnden Rechtsstaatsprinzips berührt: Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 3 zu § 44 SGB X m.w.N.). Im Interesse einer möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte setzt sich dabei – im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen des deutschen Rechts – prinzipiell die Einzelfallgerechtigkeit respektive Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns durch. Das einfache Gesetzesrecht lässt dies ausdrücklich zu. Als die Bestandskraft von Verwaltungsakten einschränkende Norm ist § 44 SGB X eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne von § 77 SGG. Verfassungsrechtlich geboten ist dieser Vorrang aber nicht (BVerfG vom 27. 02. 2007, Az.: 1 BvR 1982/01= BVerfGE 117, 302, 315; BSG vom 25.03. 2003, Az.: B 1 KR 36/01 R).
Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X normiert in diesem Interessengefüge eine materielle Ausschlussfrist, die zwingend von Amts wegen zu beachten ist und nicht der Dispositionsbefugnis oder dem Ermessen der Verwaltung wie auch der Gerichte unterliegt. Gegen die Anwendung der Vorschrift kann weder der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden (BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 26.05.1987, Az.: 4a RJ 49/86; BSG vom 07.02.2012, Az.: B 13 R 40/11 R; Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 91 zu § 44 SGB X). Rückwirkende Leistungen sind daher selbst dann auf einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme beschränkt, wenn den Leistungsträger ein erhebliches Verschulden trifft (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 98 zu § 44 SGB X; BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84). Es ist daher für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich, auf welche Art und Weise der für den Kläger schädliche Berechnungsfehler konkret zustande gekommen, welcher Verschuldensvorwurf den Handelnden zu machen und ob dieser Verschuldensvorwurf der Beklagten zuzurechnen ist (so bereits der erkennende Senat mit Beschluss vom 30.03.2016, Az.: L 6 R 1/15; Nichtzulassungsbeschwerde verworfen, BSG, Beschluss vom 28.06.2016, Az.: B 5 R 116/16 B). Insbesondere ist unerheblich, ob es sich um einen bloßen Programmierfehler oder um einen möglicherweise in erheblichem Umfang subjektiv vorwerfbaren Überprüfungsfehler der jeweils zuständigen Sachbearbeiter gehandelt hat. Die Beklagte war daneben auch nicht verpflichtet, ihren Datenbestand generell und systematisch auf Fehler durchzuforsten (vgl. Wortlaut § 44 Abs. 1 S. 1: „im Einzelfall“). Die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur ist genauso wie der ursprüngliche Fehler sanktionslos und verlängert die Rückwirkung nicht über die Frist des Abs. 4 hinaus (Kasseler Kommentar, Steinwedel, Rn. 24 zu § 45 SGB X).
Zur Überzeugung des Senats begegnet die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes. Der Senat nimmt insoweit ausdrücklich auf die diesbezüglich erschöpfende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes Bezug (vgl. BSG vom 15.12.1982, Az.: GS 2/80; BSG vom 23.07.1986, a.a.O.; BSG vom 21.01.1987, Az. 1 RA 27/86; BSG vom 07.02.2012, a.a.O., jeweils m. w. N.). Auch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Unbeschadet der Tatsache, dass in den maßgeblichen Bereichen steuerfinanzierter Sozialleistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz) § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X zulasten einer deutlich kürzeren Rückwirkung von einem Jahr keine Anwendung findet (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II; § 116a SGB XII; zu entsprechender Anwendung im Rahmen von Asylbewerberleistungen: BSG vom 26.06.2013, Az.: B 7 AY 6/12 R) bestehen für möglicherweise in Restbereichen verbleibende Ungleichheiten hinreichende sachliche Gründe (vgl. zum allgemeinen Maßstab für einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz: BVerfGE 117, 272). § 44 SGB X durchbricht das allgemein gültige Prinzip der Bestandskraft. Die Vorschrift dient damit der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit des Einzelnen zulasten der Rechtssicherheit, obwohl aus dem Grundgesetz (wie bereits dargestellt) gerade keine Verpflichtung erwächst, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte nach Eintritt der Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag aufzuheben (BVerfG vom 27.02.2007, a.a.O.). Der Gesetzgeber hat mit der in § 44 Abs. 4 SGB X getroffenen Regelung den Konflikt zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung ihm zu Unrecht vorenthaltener Sozialleistung einerseits und der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer Erhaltung der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers und damit einhergehend an einer möglichst geringen Belastung mit Leistungen für zurückliegende Zeiträume andererseits gelöst. Das schließt es aus, einseitig das Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner Ansprüche auch für weiter zurückliegende Zeiträume als ausschlaggebend zu bewerten und darüber die Interessen der Versichertengemeinschaft daran zu vernachlässigen. § 44 SGB X stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung darstellt, die geeignet ist, ggf. bestehende Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen (BSG vom 23.07.1986 a.a.O.).
Dem Kläger steht daneben auch keine Nachzahlung nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu. Sind Sozialleistungen zu Unrecht versagt oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden, können im Einzelfall neben dem Tatbestand des § 44 SGB X auch die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs erfüllt sein. Jedoch geht § 44 SGB X als gesetzliche Sonderregelung dem lediglich richterrechtlich geschaffenen Institut des Herstellungsanspruchs dem Tatbestand nach vor, wenn das behördliche Fehlverhalten bereits durch § 44 SGB X erfasst wird (BSG vom 19.10.2010, Az: B 14 AS 16/09 R; Kasseler Kommentar, Steinwedel, Rn. 16 zu § 44 SGB X, jew. m.w.N). In der vorliegenden Konstellation handelt es sich um einen solchen unmittelbaren Anwendungsfall des § 44 Abs. 1 SGB X, da es in der Sache um eine aufgrund eines schuldhaften Fehlverhaltens der Beklagten zu gering ausgezahlte Rente und damit um die Aufhebung einer bestandskräftigen, rechtswidrigen und nicht begünstigenden Verwaltungsentscheidung geht. Es handelt sich mithin nicht um den Fall einer gesetzlich nicht anderweitig sanktionierten hoheitlichen Pflichtverletzung (z.B. Fristversäumnis oder auch gänzlich unterlassene Erstantragstellung aufgrund fehlender Beratung bzw. Aufklärung), welche die Anwendung des subsidiären Instituts des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erforderlich machen würde. Aufgrund der Tatbestandsverdrängung durch § 44 Abs. 1 SGB X ist damit die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auf den vorliegenden Sachverhalt ausgeschlossen.
Selbst wenn man dem nicht folgen möchte, wäre zur Überzeugung des Senates vorliegend bei einer Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs neben dem seinen Voraussetzungen nach ebenfalls anwendbaren § 44 Abs. 1 SGB X die Beschränkung des § 44 Abs. 4 SGB X bereits unmittelbar einschlägig, jedenfalls aber entsprechend heranzuziehen (absolut h.M., vgl. BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84; BSG vom 09.09.1986, Az.: 11a RA 28/85; BSG vom 21.01.1987, a.a.O.; BSG vom 28.01.1999, Az.: B 14 EG 6/98 B; BSG vom 14.02.2001, Az.:B 9 V 9/00 R; BSG 27.03.2007, Az.: B 13 R 58/06 R; Kasseler Kommentar, Steinwedel Rn 53 zu § 44 SGB X; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Rn 94 zu § 44; a.A. – jedoch nur für ein hier nicht vorliegendes „Erstfeststellungsverfahren“ – 4. Senat des BSG vom 06.03.2003, Az.:B 4 RA 38/02 R und vom 26.06.2007, Az.:B 4 R 19/07 R).
Die Berufung ist nach alldem mit der Kostenfolge des §§ 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.


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