Verwaltungsrecht

Hinsichtl. der Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts bzgl. eines nationalen Abschiebungsverbotes erfolgreiche Klage eines schwer kranken Armeniers

Aktenzeichen  AN 6 K 17.33020

Datum:
22.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 34450
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, S. 5
AsylG § 31 Abs. 5, § 34 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ist ein Asylantrag rechtsmissbräuchlich gestellt worden, nur um eine aufwändige Krankheitsbehandlung im Bundesgebiet zu erlangen, ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von einem atypischen Fall auszugehen, so dass dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich ein von diesem auszuübendes Ermessen zukommt, ob es das Abschiebungsverbot feststellt oder versagt. (Rn. 42 – 45)
2. Dieses Ermessen ist dann allerdings zugunsten des Asylantragstellers auf Null reduziert, falls ihm eine extreme Lebens- oder Leibesgefahr im Zielstaat droht (hier verneint). (Rn. 46)
1. Das BAMF darf bei der Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG von der Regel abweichen, wenn ein Ausländer unter Missbrauch des Asylverfahrens allein deshalb Asyl beantragt, um unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, bei der aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität ein ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind.  (Rn. 41 – 43) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Ermessen, von der Regel abzuweichen, bedarf zunächst einer Entscheidung des BAMF. (Rn. 44 – 50) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird unter entsprechender Aufhebung von Nrn. 2 bis 4 des Bescheides vom 26. April 2017 verpflichtet, beim Kläger zu 1) über die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu ¾ und die Beklagte zu ¼ zu tragen; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Aufgrund der Abtrennung (und Einstellung) des Verfahrens AN 6 K 18.31398 ist hier noch streitgegenständlich die Klage insoweit, als mit ihr begehrt wird, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26. April 2017 zu der Feststellung zu verpflichten, dass bei den Klägern nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
I.
Diesem Klageantrag ist – jedoch nur – insoweit stattzugeben, als die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides zu verpflichten ist, über die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger zu 1) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen – soweit hinsichtlich des Klägers zu 1) eine darüber hinaus gehende Verpflichtung begehrt wird und hinsichtlich des Klagebegehrens der Klägerin zu 2) insgesamt – ist die Klage jedoch abzuweisen, weil für den Kläger zu 1) ein entsprechender Anspruch nicht besteht und die Klägerin zu 2) durch den streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid nicht in ihren Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 u. Abs. 5 VwGO).
1. Hinsichtlich des Klägers zu 1) ist dazu im Einzelnen Folgendes auszuführen:
Dieser hat (nur) einen Neuverbescheidungsanspruch auf der Grundlage von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a) Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 2 der Vorschrift).
b) Eine derartige Gefahr liegt beim Kläger zu 1) zum maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) auch unter Berücksichtigung von Satz 3 und Satz 4 des § 60 Abs. 7 AufenthG vor.
Aus den von Klägerseite vorgelegten aussagekräftigen Klinikumsberichten des laufenden Jahres nebst dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 30. Januar 2018 ergibt sich nämlich, dass die beim Kläger zu 1) diagnostizierte fortschreitende Erkrankung in Form der spiralen Muskelatrophie vom Typ II ein Stadium erreicht hat, das neben der dauerhaften Angewiesenheit auf einen speziellen Rollstuhl und umfangreicher Pflegebedürftigkeit geprägt ist durch eine massive Thorakolumbalskoliose, durch Kontrakturen der Gelenke der oberen und unteren Extremitäten und eine restriktive Lungenfunktionsstörung mit rezidivierenden Bronchopulmonien, wozu nunmehr noch eine chronische Niereninsuffizienz im Rahmen des nephrotischen Syndroms bei AA-Amyloidose hinzugetreten ist. Dies bedingt eine vielfältige Behandlungsbedürftigkeit mittels intensiver, ununterbrochener physiotherapeutischer Behandlung, mittels Hilfsmitteln, mittels Medikation und insbesondere auch mittels fortlaufender Befunderhebung und klinischer Überwachung, wie sie in den Befundberichten, aktuell insbesondere denen vom 2. Oktober/November und 29. August 2018, nebst dem Pflegebedürftigkeitsgutachten näher beschrieben ist.
Aus den verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen zu den Verhältnissen in Armenien ist jedoch zugleich zu schließen, dass die wesentlichen gegenwärtigen Behandlungsmaßnahmen für den Kläger zu 1), deren Erforderlichkeit nach den ärztlichen Aussagen nicht in Zweifel steht, nach Rückkehr dorthin für diesen bestenfalls für einen kurzen Zeitraum erreichbar sein werden, so dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche, wenn nicht gar lebensbedrohliche Verschlechterung seines schwerwiegenden Krankheitsbildes in naher Zukunft bei nunmehriger Rückführung nach Armenien zu befürchten ist.
Zwar ist dort die primäre medizinische Versorgung grundsätzlich kostenfrei und darüber hinaus ist auch für bestimmte Bevölkerungsgruppen und für bestimmte Arten von Erkrankungen eine teilweise oder ganze Kostenbefreiung vorgesehen. Jedoch bleibt als Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge die nach wie vor bestehende Korruption auf allen Ebenen zusammen mit der schlechten Bezahlung des medizinischen Personals, was dazu führt, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in weiten Bereichen unzureichend ist und vielfach „inoffizielle Zuzahlungen“ erforderlich sind, um überhaupt Behandlungsleistungen zu erlangen. Zugleich ist die Ausstattung der staatlichen medizinischen Einrichtungen mit technischem Gerät teilweise mangelhaft, nur in einzelnen klinischen Einrichtungen – meist Privatkliniken – stehen moderne Untersuchungsmethoden wie Ultraschall, Mammographie sowie Computer- und Kernspintomographie zur Verfügung. Auch der jüngste Lagebericht des Auswärtigen Amtes für Armenien (vgl. insgesamt S. 19 des Lageberichtes v. 17.4.2018) kommt dabei wieder zu dem Schluss, dass das Fehlen einer staatlichen Krankenversicherung den Zugang zur medizinischen Versorgung insoweit erschwert, als für einen großen Teil der Bevölkerung die Finanzierung der kostenpflichtigen ärztlichen Behandlung extrem schwierig geworden ist und viele Menschen nicht in der Lage sind, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen. Problematisch ist weiterhin gemäß diesem Lagebericht ebenfalls die Verfügbarkeit von Medikamenten in Armenien. Obwohl viele Medikamente dort in guter Qualität hergestellt und zu einem Bruchteil der in Deutschland üblichen Preise verkauft werden, sind nicht immer alle Präparate vorhanden. Nur importierte Medikamente sind überall erhältlich; diese sind auch billiger als in Deutschland; sie bedürfen allerdings einer Einfuhrgenehmigung des Gesundheitsministeriums.
Vor diesem Hintergrund ist der Kläger zu 1) in seinem jetzigen Gesundheitszustand bei Rückführung nach Armenien dort erheblich und konkret gefährdet im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch unter Berücksichtigung der Sätze 3 und 4 des § 60 Abs. 7 AufenthG und unter Berücksichtigung dessen, dass er wohl auf nicht unbeträchtliche Unterstützung von Seiten seiner Familie zurückgreifen kann. In Anbetracht der Erkrankung des Klägers zu 1) kann dieser nicht auf eine Erwerbstätigkeit verwiesen werden und bleibt auf seine Rente in Höhe von 20.000 Dram monatlich beschränkt; zugleich bedarf er intensiver persönlicher Betreuung und Pflege, die ein weiteres Familienmitglied dauerhaft von einer Erwerbstätigkeit ausschließen dürfte. Dem steht gegenüber die vielfältige Behandlungs- und Kontrollbedürftigkeit des Gesundheitszustandes des Klägers zu 1), die gerade auch überlebenswichtige Körperfunktionen betrifft (restriktive Lungenfunktionsstörung mit rezidivierenden Infekten, Niereninsuffizienz bei AA-Amyloidose) und bei deren Nicht-Erfüllung in absehbarer Zeit einleuchtendermaßen lebensbedrohliche Komplikationen drohen dürften. Der Gesundheitszustand des in seiner Bewegungsfähigkeit gravierend beeinträchtigten Klägers zu 1) stellt sich dabei insgesamt als derart fragil dar, dass aus der quantitativ und qualitativ aufwändigen Behandlungsnotwendigkeit, bei deren auch nur partieller Nichterfüllung ihm gravierende Folgen bis hin zur Lebensgefährdung drohen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf den Eintritt einer zumindest wesentlichen Verschlechterung seines schwerwiegenden Krankheitsbildes in absehbarer Zeit angesichts der geschilderten Situation des Gesundheitssystems in Armenien zu schließen ist.
c) Damit sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen der Annahme der Beklagten hier gegeben. Dennoch führt dies beim Kläger zu 1) nur dazu, dass er einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung bezüglich der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat. Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes besteht in seinem Fall vorliegend jedoch nicht, weshalb das diesbezügliche Verpflichtungsbegehren des Klägers zu 1) nur teilweise erfolgreich ist.
Bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich gemäß seinem Wortlaut um eine „Soll“-Vorschrift. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, soll als Rechtsfolge von einer Abschiebung abgesehen werden (vgl. insofern auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 15/420 S. 91: „soll […] normalerweise […]“). Die Regelung in einer Rechtsvorschrift, dass eine Behörde sich in bestimmter Weise verhalten soll, bedeutet zwar eine strikte Bindung für den Regelfall, gestattet jedoch Abweichungen in atypischen Fällen, bei denen aufgrund besonderer, konkreter Gründe der „automatische“ Eintritt der regelmäßigen Rechtsfolge nicht mehr von der Vorstellung des Gesetzgebers getragen wird. Dieses reduzierte Ermessen ist bei Entscheidungen über Asylanträge nach dem Asylgesetz, wie hier, seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im Jahr 2007 auch nicht mehr der Ausländerbehörde, sondern dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesen (vgl. etwa Bodenbender in GK-AsylG § 24 Rn. 12 f., m.w.N.). Das Bundesamt darf bei seiner Entscheidung zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von der Regel dementsprechend in solchen Fällen abweichen, in denen die für den Normalfall geltende Regelung von der ratio legis nicht mehr gefordert wird (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 18. Auflage 2017, § 40 Rn. 64 m.w.N.).
Von einer solchen Fallgestaltung ist im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nach der Auffassung des Gerichts aber nunmehr jedenfalls grundsätzlich dann auszugehen, wenn ein Ausländer allein deshalb hier einen Asylantrag unter Missbrauch dieses Verfahrens stellt, um im Bundesgebiet unter Inanspruchnahme der hiesigen Versorgungssysteme eine gesundheitliche Behandlung zu erhalten, und wenn zudem aufgrund der voraussichtlichen Dauer oder Intensität der erforderlichen Gesundheitsbehandlung ganz erheblicher Aufwand oder erhebliche Kosten für die hiesigen Gesundheits-/Sozialsysteme zu erwarten sind. Der Gesetzgeber hat die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern unter Berücksichtigung des jeweiligen Aufenthaltszwecks einer differenzierten gesetzlichen Regelung unterzogen, wobei insbesondere auf den Schutz der Sozial- und Gesundheitssysteme vor etwaigen Belastungen ein besonderes Augenmerk gelegt wird (vgl. etwa § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009). Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für solche Konstellationen einen Abschiebeschutz als gesetzlichen Regelfall vorsehen wollte, in denen Ausländer (rechtsmissbräuchlich) über das Asylverfahren eigentlich eine Krankenbehandlung im Bundesgebiet – unter Umgehung des insofern vorgesehenen aufenthaltsrechtlichen Verfahrens – erstreben.
Für die Eröffnung des Verwaltungsermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei derartigen Fällen spricht im Übrigen zugleich die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Sie fallen demnach grundsätzlich nicht unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe im Zielstaat gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt, sondern für die ganze Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums im Wege des § 60a AufenthG befunden wird (BVerwG, U.v.13.6.2013 – 10 C 13.12 – Rn. 13 m.w.N.).
Zwar sind die dortigen Tatbestandsvoraussetzungen hier nicht erfüllt, die Regelung bestätigt jedoch die Annahme einer Aktivierung des Rest-Ermessens in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der oben dargestellten Missbrauchskonstellation, denn der in Satz 5 als Ausnahme von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausformulierte Tatbestand ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass wegen der nicht durch den individuellen Einzelfall geprägten Umstände, wegen der erheblichen Zahl der in gleicher Weise „Betroffenen“ und wegen der daraus folgenden Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat gerade keine gebundenen Einzelfallentscheidungen erfolgen sollen* Eine vergleichbare Situation, die der Gesetzgeber so nicht bei der erstmaligen Einführung dieser Regelung in das Ausländerrecht und auch nicht bei deren Übernahme in das AufenthG im Jahr 2004 im Blick hatte, sondern sich vielmehr erst danach entwickelt hat, ergibt sich aus dem gehäuften, zielgerichteten, erfolgreichen Missbrauch des Asylverfahrens, allein um sich so Zugang für die meist aufwändige Betreuung bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen bzw. die meist aufwändige Behandlung von Krankheiten in den Gesundheits-/Sozialsystemen der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen. Dieses Phänomen, das bezogen auf das Herkunftsland Armenien schon systematische Züge angenommen hat, ist auch keineswegs auf dieses Herkunftsland beschränkt, sondern hat gerade in den letzten Jahren – mit einem Schwerpunkt bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, aber beileibe nicht nur dort – zahlenmäßig immer weiter um sich gegriffen. Auch wenn man dabei nicht -*bezogen auf ein bestimmtes Herkunftsland – den typischen Fall einer „Bevölkerungsgruppe“ im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG vor Augen hat, ist die Gesamtzahl der nach Deutschland eingereisten Asylbewerber, die über den Asylbewerberstatus ausschließlich die (kostenfreie) Behandlung gesundheitlicher Gebrechen erstrebt, derart angewachsen, dass diese Asylbewerber in ihrem Erscheinungsbild durchaus einer Bevölkerungsgruppe in diesem Sinn nahe kommen. Dass das Asylverfahren von einer wachsenden Vielzahl von Asylbewerbern zweckwidrig nur dazu benutzt wird, um im Herkunfts- und Zielstaat das Fehlen einer durchgreifenden Behandlungsmöglichkeit für sie bei schwerwiegenden Erkrankungen aufgrund eines unzureichenden gesundheitlichen Versorgungssystems zu kompensieren, ist den Wirkungen einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG zumindest vergleichbar (vgl. zu einer direkten Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG wegen der unzureichenden medizinischen Versorgungslage in einem Herkunftsland BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 10 C 16.1164 – juris). Mithin führen diese Überlegungen ebenso dazu, dass es bei Tatbestandserfüllung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in derartigen (Rechtsmissbrauchs-)Fällen vor der Feststellung eines Abschiebehindernisses grundsätzlich noch der Betätigung des dort in atypischen Fällen eröffneten Ermessens – ggf. aufgrund ermessenslenkender Vorgaben – von Seiten der Exekutive bedarf, die das Gericht nicht ersetzen kann (vgl. § 114 VwGO).
d) Ausnahmsweise wiederum ist allerdings – wie auch zu § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG – das daher grundsätzlich eröffnete Ermessen des Bundesamtes in der gerade skizzierten Missbrauchskonstellation dann zu Gunsten des Asylbewerbers auf Null reduziert, wenn seine Gefährdung nach Abschiebung im Zielstaat das Ausmaß der sogenannten extremen Gefahr (die seit der grundlegenden Entscheidung des BVerwG v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris mit der Formel „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ umschrieben wird) erreicht. Denn dann ist von Verfassung wegen (Art. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Zuerkennung von Abschiebeschutz unmittelbar geboten.
Vorstellbar ist andererseits außerdem, dass im Einzelfall das Ermessen auf Null in Richtung auf die Versagung des Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reduziert ist.
Im Fall des Klägers zu 1) liegen hier aber die oben genannten Voraussetzungen für die Eröffnung des Ermessens auf Rechtsfolgenseite vor, ohne dass dieses in der einen oder anderen Richtung auf Null reduziert wäre.
Denn zum einen sind hier keine zwingend für die Versagung des Abschiebungsschutzes sprechende Gründe ersichtlich.
Zum anderen erreicht der Gesundheitszustand des Klägers zu 1) insbesondere nicht das Stadium der gerade benannten extremen Gefahr. Es ist den umfassend vorliegenden, aussagekräftigen Attesten weder direkt noch indirekt zu entnehmen, dass dem Kläger zu 1) angesichts der Verhältnisse in Armenien in unmittelbarem zeitlichen Anschluss an seine Rückführung der Tod oder schwerste körperliche Beeinträchtigungen – zudem mit höchster Wahrscheinlichkeit – drohen würden. Bei dem gemäß den vorliegenden Angaben zu seinen Lebensverhältnissen weder in finanzieller noch in sonstiger unterstützungsmäßiger Hinsicht akut notleidenden Kläger zu 1) erscheint zunächst in den ersten Monaten nach Rückführung die Aufrechterhaltung der zur Vermeidung schwerster Beeinträchtigungen nötige Versorgung beim vorliegenden Erkrankungsstadium möglich. Erst mit weiter fortschreitender Zeit, wenn auch sicherlich noch in absehbarer Zukunft im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, droht beim Kläger zu 1), bei dem nach gegenwärtigem Stand keine Besserung, sondern nur das Fortschreiten seiner grundlegenden gesundheitlichen Probleme erwartbar ist, dann zumindest mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Verschlechterung seines schwerwiegenden Krankheitsbildes angesichts der vielfältigen, komplexen Behandlungsbedürftigkeit und der beschriebenen Mangelsituation im armenischen Gesundheitswesen (vgl. dazu insgesamt näher schon oben).
e) Bei diesem Befund kann sich der Kläger zu 1) im Übrigen mangels ganz besonderer Gefahrenintensität in gesundheitlicher Hinsicht auch nicht auf den – zwingenden – Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG (i.V.m. der EMRK) berufen.
Was sonstige potentielle Aspekte für Abschiebeschutz nach der EMRK (i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG) anbelangt, nimmt das Gericht sodann noch ergänzend gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf die Ausführungen in der Begründung des angegriffenen Bundesamtsbescheid vom 26. April 2017 zur Verneinung eines darin begründeten Abschiebungsverbotes (dort Seiten 3 – 5).
f) Von Rechts wegen nicht bestehen bleiben können dabei schließlich noch gegenüber dem Kläger zu 1) die Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung in Nr. 3 und der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides vom 26. April 2017. Diese sind mit aufzuheben, weil – bezüglich Nr. 3 – dem Kläger zu 1) damit bereits die Abschiebung angedroht ist, obwohl die gemäß § 31 Abs. 5, § 34 Abs. 1 AsylG zwingend vorrangige Entscheidung über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erst noch zu treffen ist, und weil – bezüglich Nr. 4 – darin trotz des vordergründigen gesetzlichen Wortlauts in § 11 AufenthG überhaupt erst die Verhängung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Einzelfall begründet liegt (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.7.2017 – juris, LS 1, Rd. Nr. 70 ff), die wiederum maßgeblich vom Bestehen einer Abschiebungsandrohung abhängt.
2. Für die Klägerin zu 2) gilt demgegenüber, dass sie durch Nrn. 2 – 4 des angegriffenen Bundesamtsbescheides vom 3. Februar 2017 überhaupt nicht in ihren Rechten verletzt wird.
Auf die Ausführungen in der Begründung dieses Bescheides, soweit sie die Klägerin zu 2) (mit) betreffen, wird dafür gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen. Weder steht bei ihr eine gesundheitliche Beeinträchtigung oder eine persönliche Behelligung von irgendeiner Seite inmitten noch kann bei ihr schon angesichts ihres familiären Beziehungsgeflechts eine sonstige materielle Gefährdung angenommen werden. Auch die vorliegende positive Entscheidung zugunsten ihres Ehemannes, des Klägers zu 1), ist nicht geeignet, die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides zu ihren Gunsten – etwa im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz der Familie – zu bewirken; denn die bestehenden Familienverhältnisse und eine etwaige Angewiesenheit des Klägers zu 1) auf seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), betreffen lediglich ein etwaiges sogenanntes inlandsbezogenes Abschiebehindernis, für das das Bundesamt nicht zuständig ist, während hier streitgegenständlich sind nur zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse. Ebenso wenig können bei ihr die im Bescheid benannten rechtlichen Voraussetzungen für die Ausreiseaufforderung mit der Abschiebungsandrohung verneint oder angesichts des bloßen Asylbewerberstatus des Klägers zu 1) Beanstandungsgründe für den Ausspruch bei ihr zum Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG gefunden werden.
II.
Da nach alledem die Klage teilweise erfolgreich und teilweise abzuweisen war und keine Seite nur zu einem so geringen Teil unterlegen ist, dass eine Kostenbelastung untunlich wäre, erfolgt die Kostenentscheidung nach § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO (i.V.m. § 161 Abs. 1 VwGO) nach dem Maß des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens. Dem entspricht hier insgesamt eine Aufteilung von 3/4 zu Lasten der Klägerseite und 1/4 zu Lasten der Beklagtenseite.
Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83 b AsylG.
Die Aussprüche hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruhen auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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