Verwaltungsrecht

in Griechenland anerkannte Frau mit zwei kleinen Kindern, zweiter Asylantrag in Deutschland nach zwischenzeitlicher Rückkehr nach Griechenland und Trennung von Mann und Vater der Kinder

Aktenzeichen  AN 17 K 20.50012

Datum:
22.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 44566
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AsylG  § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71, § 71 a
VwVfG § 51

 

Leitsatz

Ein zweiter Asylantrag in Deutschland nach Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland bzw. der Vortrag von Wiederaufgreifensgründen in Bezug auf Griechenland, stellt keinen Folgeantrag nach § 71 AsylG dar („Anerkannten-Folgeantrag“) –  § 29 Abs.1 Nr. 5 AsylG ist nicht einschlägig, sondern § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Dezember 2019 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leisten

Gründe

Das Urteil bedarf soweit es durch die Erledigungserklärungen gegenstandslos geworden ist, keiner Begründung.
Hinsichtlich der verbleibenden Klage der Klägerin – ehemals Klägerin zu 1) – ist die Klage zulässig und begründet und der Bescheid vom 19. Dezember 2019 demzufolge aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Über den hilfsweisen, auf die Feststellung von Abschiebungsverboten für Griechenland gerichteten Antrag war mangels Bedingungseintritt nicht mehr zu entscheiden.
1. Die Klage ist zulässig.
Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart gegen die erneute Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids). Das gilt unabhängig davon, ob die Unzulässigkeitsentscheidung zurecht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützt ist oder – richtigerweise – auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG beruht, so dass die Einordnung des Verfahrens als Folgeantrag durch das Bundesamt insofern keine Rolle spielt. Die erfolgreiche Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsfeststellung führt in der Folge zur inhaltlichen Prüfung der Asylanträge durch die Beklagte, so dass es eines auf die Durchführung eines Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsantrags nicht zusätzlich bedurfte (vgl. BVerwG, U.v. 1.7.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris; OVG Saarlouis, U.v. 25.10.2016 – 2 A 95/16 – juris Rn. 23). Ein „Durchentscheiden“ des Gerichts über das Asylbegehren im Falle einer erfolgreichen Anfechtung der Unzulässigkeitsentscheidung ist erst recht nicht möglich; eine hierauf gerichtete Verpflichtungsklage wäre bereits unstatthaft (vgl. im Einzelnen VG Ansbach, U.v. 17.3.2020 – AN 17 K 18.50394 – juris; U.v. 18.1.2021 – AN 17 K 18.50780 – juris; U.v. 10.7.2020 – AN 17 K 17.51171 – juris).
Hinsichtlich der Ziffer 2 des Bescheids vom 19. Dezember 2019 genügt zur Durchsetzung der von der Klägerseite vertretenen Position, dass eine Ausreise bzw. Rückführung der Klägerin nach Griechenland aufgrund der dort herrschenden Lage für anerkannt Schutzberechtigte nicht möglich ist, ebenfalls die – vom Hauptantrag umfasste – Anfechtungsklage. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind unzumutbare allgemeine Verhältnisse im Zielland bereits bei der Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes) zu berücksichtigen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137) und nicht erst im Rahmen von nationalen Abschiebungsverboten (Ziffer 2 des Bescheids des Bundesamts). Liegen derartige Umstände vor, ist wohl die Unzulässigkeitsentscheidung zu kassieren, als auch eine dem widersprechende Entscheidung zu nationalen Abschiebungsverboten.
Die Klage wurde innerhalb der in der Rechtsbehelfsbelehrungangegebenen Frist erhoben und ist damit nicht verfristet.
2. Die Anfechtungsklage ist auch begründet. Die Unzulässigkeitsentscheidung in den Ziffer 1 des Bescheids vom 19. Dezember 2019 ist rechtswidrig. Das Bundesamt hat den Antrag der Klägerin zu Unrecht als unzulässig abgelehnt. Die Unzulässigkeitsentscheidung wird weder von § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG noch von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG getragen.
a) Der Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG greift im vorliegende Fall nicht ein. Dieser setzt einen Folgeantrag nach § 71 AsylG oder einen Zweitantrag nach § 71a AsylG voraus, der hier aber nicht vorliegt. In Griechenland wurde die Klägerin als Flüchtling anerkannt, ihr Asylantrag dort ist damit gerade nicht i.S.v. § 71a Abs. 1 AsylG erfolgslos geblieben. Ein Asylfolgeantrag nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt nach der Ansicht des Gerichts ebenso eine inhaltliche Ablehnung des Asylbegehrens voraus, erfasst aber nicht die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a oder Nr. 2 AsylG (vgl. insoweit bereits Ausführungen im vorausgegangen Verfahren nach § 123 VwGO, B.v. 15.4.2020 – AN 17 E 20.50011 – juris). Dieses Verständnis vom Begriff „Folgeantrag“ (wie er auch in § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG verwendet wird) entspricht der europarechtlichen Grundlage des Art. 33 der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 – Verfahrens-RL – und zeigt sich auch in der Formulierung des parallelen § 71a AsylG, wonach ein Zweitantrag begrifflich nur vorliegt, wenn das Zuständigkeitsverfahren bereits abgeschlossen ist, von der Zuständigkeit Deutschlands also auszugehen ist („…ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist…“).
Eine Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen Schutzgewährung in einem anderen Staat kann nur auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, nicht aber auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützt werden. Ist ein Asylantrag in Deutschland bereits als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt worden und kommt es hier zu einem weiteren (Asyl-)Antrag mit dem Vorbringen, dass Deutschland nunmehr zuständig sei bzw. wird vorgetragen, dass sich die Verhältnisse in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung maßgeblich geändert haben („Anerkannten-Folgeantrag“), so richtet sich die Prüfung nach Ansicht des Gerichts nach § 51 VwVfG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Das Bundesamt hat dann zunächst die Voraussetzungen eines Wiederaufgreifens nach § 51 VwVfG zu prüfen und – falls Wiederaufgreifensgründe vorliegen – zu entscheiden, ob § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (weiter) eingreift oder über den Asylantrag in der Sache zu entscheiden ist. Die Prüfung hat nach Ansicht des Gerichts in gleicher Weise zu erfolgen wie bei den sog. “Dublin-Folgeanträgen“ (Wiederaufgreifen in Bezug auf § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG). Eine Unterscheidung zwischen den beiden Konstellationen, wie das Bundesamt wohl meint, erscheint nicht angemessen. Gesetzestechnisch lässt sich dies auch damit begründen, dass die Unzulässigkeitsgründe des § 29 Abs. 1 AsylG grundsätzlich in der aufgelisteten Reihenfolge zu prüfen sind, der zuerst genannte Unzulässigkeitsgrund den nachfolgenden Gründen vorgeht, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG also vor § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG zu prüfen und gegebenenfalls festzustellen ist.
Das erkennende Gericht hält an seiner Rechtsprechung fest, dass § 71 AsylG nicht eingreift, wenn die Frage nach der Zuständigkeit eines anderen Staates nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a oder
Nr. 2 AsylG erneut aufgeworfen wird (vgl. B.v. 15.4.2021 – AN 17 E 20.50011 – juris; B.v. 14.11.2019 – AN 17 S 19.51068 – juris; ebenso VG München, B.v. 15.4.2019 – M 9 E 50.335 – juris, vgl. auch EuGH, U.v. 25.1.2018 – C-360/16 „Hasan“ – juris; a.A. Bergmann/Dienelt, 12. Aufl. 2018, § 71 Rn. 7).
b) Wird nach einem nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 als unzulässig abgelehnten Asylantrag ein weiterer Asylantrag gestellt und mit den veränderten Umständen in Bezug auf den Staat, in dem dieser internationalen Schutz erlangt hat, begründet, hat demnach das Bundesamt unter direkter Anwendung von § 51 VwVfG zu prüfen, ob das Verfahren nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wieder aufzugreifen ist. Liegen Wiederaufgreifengründe hiernach vor, ist einen zweiten Schritt zu prüfen, ob die Unzulässigkeitsentscheidung aufrechterhalten wird oder über den Asylantrag inhaltlich zu entscheiden ist.
Vorliegend kann dahinstehen, ob das Gericht angesichts der gewählten Tenorierung des Bundesamtes in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids das Vorliegen von Wiederaufgreifengründen zugrunde legen muss, weil das Bundesamt dies konkludent annimmt (und nicht nur ein Wiederaufgreifen ablehnt). Jedenfalls liegt ein solcher Wiederaufgreifensgrund für die Klägerin vor. Durch die Trennung der Klägerin von ihrem Mann und dem Vater der Kinder sind nachträglich, d.h. nach der Entscheidung des Bundesamtes vom 25. April 2017 und nach der Beendigung des ersten Gerichtsverfahrens mit Beschluss vom 14. Januar 2019, Umstände i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG eingetreten, die die Sachlage zugunsten der Klägerin geändert haben. Als alleinerziehende Mutter ist die Klägerin mit ihrem Kindern nunmehr als (noch) vulnerable(re) Person anzusehen und im Hinblick darauf eine Neubewertung der Zumutbarkeit der allgemeinen Lebensverhältnisse in Griechenland für sie vorzunehmen. Für § 51 VwVfG genügt dabei die Geeignetheit der geänderten Umstände für eine günstigere Entscheidung (BVerfG, B.v. 3.3.2000 – 2 BvR 39/98, DVBl. 1048 ff.). Ob diese Umstände tatsächlich durchgreifen und zu einem anderen Ergebnis führen, ist dann erst im weiteren Schritt zu prüfen. Der neue Umstand der Trennung ist auch innerhalb der Frist von drei Monaten nach § 51 Abs. 3 VwVfG, nämlich zeitnah nach der Wiedereinreise der Klägerin im November 2019 vorgetragen worden.
Die nunmehr bestehende tatsächliche Situation führt im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, auch zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung, die nicht (mehr) aufrechterhalten werden kann.
aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies trifft für die Klägerin zu; ihr wurde nach der Mitteilung Griechenlands am 5. November 2015 der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
Gleichwohl ist die Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL 2013/32/EU in nationales Recht um und ist daher richtlinien- und europarechtskonform auszulegen. Nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL dürfen die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat internationalen Schutz gewährt hat. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof der Vorschrift im Wege der Auslegung noch ein weiteres, negatives Tatbestandsmerkmal entnommen. Nach der Entscheidung vom 13. November 2019 ist es den Mitgliedstaaten nämlich nicht möglich von der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL Gebrauch zu machen und einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, aber die Lebensverhältnisse, die ihn dort als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist dabei auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat also in richtlinienkonformer Auslegung zu berücksichtigen, ob dem im anderen Mitgliedsstaat Anerkannten nach einer Rücküberstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Dem steht auch nicht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht entgegen, welcher besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union, wie sie etwa in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und gerade bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL, in dem er zum Ausdruck kommt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedsstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
Derartige Funktionsstörungen müssen eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C -297/17 u.a. – juris Rn. 89). Nicht ausreichend für das Erreichen dieser Schwelle ist der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Qualifikations-RL 2011/95/EU entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36). Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu gelangen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden ist, aufgrund derer sich die betreffende Person in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91). Dafür genügt es nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97). Ebenso wenig ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96).
Bei dem so definierten Maßstab ist weiter zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige handelt oder eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität), die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 26). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Rahmen des Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist.
Für die demnach zu treffende Prognoseentscheidung, ob dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloße Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung muss insoweit aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – BeckRS 2020, 5694 Rn. 28 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die für eine solche Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegensprechenden Tatsachen haben (OVG RhPf, a.a.O.; vgl. VGH BW, a.a.O., juris Rn. 187).
Diesen Maßstab zu Grunde gelegt, war die Ablehnung des Antrags der Klägerin als unzulässig im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig, weil der Klägerin als alleinstehender Frau, die zusätzlich zwei kleine Kinder zu versorgen hat, nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Griechenland eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung droht. Es ist davon auszugehen, dass sie in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht wird befriedigen können.
bb) Dabei legt das Gericht hinsichtlich der in Griechenland herrschenden Lebensverhältnisse für zurückkehrende, anerkannt Schutzberechtigte folgende Lage zugrunde:
Asylbewerber, die bereits von Griechenland als international Schutzberechtigte anerkannt worden sind, werden im Falle einer Abschiebung dorthin von den zuständigen Polizeidienststellen in Empfang genommen und mit Hilfe eines Dolmetschers umfassend über ihre Rechte aufgeklärt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3; anders, aber nur „nach bisheriger Kenntnis“: Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 5). Die betroffenen Personen erhalten insbesondere Informationen zur nächsten Ausländerbehörde, um dort ihren Aufenthaltstitel verlängern zu können. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels geht jedoch nach jüngeren Berichten mit bürokratischen Hindernissen und zeitlichen Verzögerungen einher. So genügt ein bestandskräftiger Anerkennungsbescheid der griechischen Behörden, mit dem internationaler Schutz zuerkannt wird, für sich genommen nicht, um eine Aufenthaltserlaubnis beantragen zu können. Zusätzlich erforderlich ist ein sogenannter „ADET-Bescheid“, der häufig, aber nicht immer zusammen mit dem Anerkennungsbescheid zugestellt wird. Verfügt der Anerkannte über keinen ADET-Bescheid muss er ihn beim zuständigen Regionalbüro der Asylbehörde zuerst beantragen und kann erst nach Erhalt beim regional zuständigen Passamt der griechischen Polizei einen Termin zur Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis vereinbaren (Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 11 ff.). Zwischen der Beantragung und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vergehen in der Praxis mehrere Monate oder gar ein Jahr (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Version 2, 31.5.2021, S. 20; Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 14 f.; AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 229 f.). Der Grund für die langen Wartezeiten liegt nach Auskunft der griechischen Polizei in behördlichen Zuständigkeitsverschiebungen im Januar und Juli 2020 und einem damit einhergehenden Bearbeitungsrückstau (Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 14; AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 229 f.).
Spezielle staatliche Hilfsangebote für Rückkehrer werden vom griechischen Staat nicht zur Verfügung gestellt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 8).
Eine funktionierende nationale Integrationspolitik bzw. Integrationsstrategie für anerkannte Flüchtlinge existiert, v.a. aufgrund fehlender Geldmittel, in Griechenland aktuell kaum (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 30.8.2018, S. 11; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7 f.). Hinsichtlich allgemeiner staatlicher Kurse zu Sprache sowie Kultur und Geschichte des Landes ist das Bild unklar (für die Existenz kostenloser Kurse: Konrad-Adenauer-Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 11), wobei aktuellere und insofern vorzugswürdige Erkenntnismittel ein solches Angebot verneinen (Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 12). Allenfalls werden Sprach- und Integrationskurse im Rahmen des sog. Helios-ll-Programmes – „Hellenic Support for Beneficiaries of International Protection“ – angeboten, welches jedoch für aus anderen EU-Ländern zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte in aller Regel nicht zugänglich ist (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Version 2, 31.5.2021, S. 21 ff.). Die Integrationsprogramme sind von der Finanzierung durch die EU abhängig, da auf nationaler und kommunaler Ebene keine nennenswerten Ressourcen zur Verfügung stehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7).
In diese Lücke stoßen jedoch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die auf verschiedensten Feldern Integrationshilfe leisten und mit denen die griechischen Behörden, insbesondere die lokalen, auch kooperieren (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Athen, Hilfsorganisationen – Hilfe für Flüchtlinge in Griechenland, Stand Dezember 2019; OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 91 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2; United States Departement of State [USDOS], Greece 2020 Human Rights Report, S. 15). Die Arbeit der NGOs ist jedoch räumlich vorwiegend auf die Ballungsräume Athen und Thessaloniki konzentriert (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2).
Hinsichtlich des Zugangs zu einer Unterkunft gilt für anerkannte Schutzberechtigte der Grundsatz der Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen. Da es in Griechenland kein staatliches Programm für Wohnungszuweisungen an Inländer gibt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 1), entfällt dies auch für anerkannt Schutzberechtigte. Auch findet keine staatliche Beratung zur Wohnraumsuche statt. Sie sind zur Beschaffung von Wohnraum grundsätzlich auf den freien Markt verwiesen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 2; Amnesty International, Amnesty Report Griechenland 2020 vom 7.4.2021). Das Anmieten von Wohnungen auf dem freien Markt ist durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte oder Studenten sowie gelegentlich durch Vorurteile gegenüber Flüchtlingen erschwert (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 5).
Zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte werden nicht in den Flüchtlingslagern oder staatlichen Unterkünften untergebracht. Zwar leben dort auch anerkannt Schutzberechtigte, jedoch nur solche, die bereits als Asylsuchende dort untergebracht waren; diese können über die Anerkennung hinaus für einen Übergangszeitraum von 30 Tagen dort verbleiben (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f.). Zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte haben insbesondere keinen Zugang zu einer Unterbringung im Rahmen des EUfinanzierten und durch das UNHCR betriebenen ESTIA-Programms (Emergency Support to Accomodation and Integration System). Der UNHCR stellte – Stand Anfang Januar 2021 – ca. 11.550 Plätze, das griechische Migrationsministerium ca. 16.600 Plätze zur Verfügung (UNHCR, Fact Sheet Greece, Dezember 2020), aber nur für Asylsuchende und für anerkannte Schutzberechtigte in den ersten 30 Tagen nach ihrer Anerkennung (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f., an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 1 f., an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 5 und an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2). Das neue Asylgesetz Nr. 4636/2019, das am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, und eine weitere Gesetzesänderung von März 2020 haben die früheren Bedingungen, die ein Verbleiben in der Flüchtlingsunterkunft für sechs Monate ermöglicht haben, verschärft (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 und an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 1 f.). Seit Juni 2020 wird die Verpflichtung zum Auszug, von der ca. 11.500 Personen betroffen sind, auch umgesetzt. Allerdings kann die Zahl der Personen, die die Unterkünfte für Asylbewerber tatsächlich verlassen mussten, nicht sicher eingeschätzt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 2).
Das Programm „Hellenic Integration Support for Beneficiaries of International Protection“ (Helios II-Programm), ein von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Abstimmung mit dem griechischen Migrationsministerium entwickeltes und durch die EU finanziertes Integrationsprogramm, sieht zwar 5.000 Wohnungsplätze für anerkannte Schutzberechtigte vor. Die Wohnungsangebote werden dabei von NGOs und Entwicklungsgesellschaften griechischer Kommunen als Kooperationspartner der IOM zur Verfügung gestellt und von den Schutzberechtigten, unter Zahlung einer Wohnungsbeihilfe an sie, angemietet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2 f.). Das Programm richtet sich aber nur an international Schutzberechtigte, die nach dem 1. Januar 2018 anerkannt wurden, die im Zeitpunkt der Unterrichtung über ihre Anerkennung in einer Flüchtlingsunterkunft (insbesondere im ESTIA-Programm) untergebracht waren und innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Anerkennung einen entsprechenden Antrag gestellt haben (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 2 f. und an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 2). Ob Rückkehrern aus dem Ausland diese Möglichkeit offensteht, ist unklar, einen solchen Fall hat es bislang jedenfalls noch nicht gegeben (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 3). Seit September 2020 kann über das Helios – Programm auch eine zweimonatige Unterkunft von Anerkannten in Hotels sichergestellt werden. Diese Maßnahme lief jedoch regulär Ende 2020 aus und wurde einmal bis Februar 2021 verlängert. Anfang März 2021 hat Griechenland bei der EU-Kommission einen Antrag auf Weiterfinanzierung gestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Griechenland, Version 2, 31.5.2021, S. 21). Zusätzlich sollen Notfallkapazitäten in einem Lager in Athen zur Verfügung gestellt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 3). Neueren Quellen nach läuft das Helios II-Programm zunächst bis Juni 2021 (Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 7).
Auch eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften für anerkannt Schutzberechtigte ist grundsätzlich möglich. Allerdings sind die Kapazitäten in den kommunalen und durch NGOs betriebenen Unterkünften, etwa in Athen, knapp bemessen und oft chronisch überfüllt (AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 247; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3). Die Wartelisten sind entsprechend lang und teils stellen die Unterkünfte weitere Anforderungen an die Interessenten, wie etwa Griechisch- oder Englischkenntnisse und psychische Gesundheit. Ein Rechtsanspruch auf Obdachlosenunterbringung besteht nicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020). Im Hinblick auf die begrenzten Kapazitäten bewerben sich viele Schutzberechtigte erst gar nicht für einen Platz in einer dieser Herbergen. Im Ergebnis bleiben viele anerkannt Schutzberechtigte, die selbst nicht über hinreichende finanzielle Mittel für das Anmieten privaten Wohnraums verfügen oder nicht am Helios II-Programm teilnehmen können, obdachlos oder wohnen in verlassenen Häusern oder überfüllten Wohnungen (Pro Asyl, Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 30.8.2018, S. 5 ff.). Obdachlosigkeit ist unter Flüchtlingen in Athen dennoch kein augenscheinliches Massenphänomen, was wohl auf landsmannschaftliche Strukturen und Vernetzung untereinander zurückzuführen ist (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3). Allerdings deuten jüngere Berichte an, dass durchaus anerkannte Flüchtlinge auf öffentlichen Straßen und Plätzen in Athen schlafen (Wölfl, „Anerkannte Flüchtlinge auf griechischem Festland obdachlos“, Der Standard, 22.1.2021).
Wohnungsbezogene Sozialleistungen, die das Anmieten einer eigenen Wohnung unterstützen könnten, gibt es seit dem 1. Januar 2019 mit dem neu eingeführten sozialen Wohngeld, dessen Höhe maximal 70,00 EUR für eine Einzelperson und maximal 210,00 EUR für einen Mehrpersonenhaushalt beträgt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2). Für besonders Vulnerable können zur Vermeidung von Obdachlosigkeit Mietsubventionierungen gezahlt werden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2). Das soziale Wohngeld bzw. die Mietsubventionierung setzen allerdings einen legalen Voraufenthalt in Griechenland von mindestens fünf Jahren voraus (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 und an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2), wobei bei international Schutzberechtigten die Aufenthaltsdauer ab Asylantragstellung angerechnet wird (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 21.8.2020, S. 1). Auch ist der legale Voraufenthalt von fünf Jahren durch fristgerecht eingereichte Steuererklärungen für die einzelnen Jahre nachzuweisen (vgl. Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 19). Die Einzelheiten regeln zahlreiche Erlasse. Der tatsächliche Versorgungsumfang ist unklar (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schleswig vom 15.10.2020, S. 2).
Zugang zu weiteren Sozialleistungen besteht für anerkannt Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, auch sonst unter den gleichen Voraussetzungen wie für Inländer. Das im Februar 2017 eingeführte System der Sozialhilfe basiert auf drei Säulen. Die erste Säule sieht ein Sozialgeld in Höhe von 200,00 EUR pro Einzelperson vor, welches sich um 100,00 EUR je weiterer erwachsener Person und um 50,00 EUR je weiterer minderjähriger Person im Haushalt erhöht. Alle Haushaltsmitglieder werden zusammen betrachtet, die maximale Leistung beträgt 900,00 EUR pro Haushalt. Die zweite Säule besteht aus Sachleistungen wie einer prioritären Unterbringung in der Kindertagesstätte, freien Schulmahlzeiten, Teilnahme an Programmen des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen, aber auch trockenen Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Reis, Kleidung und Hygieneartikeln. Alles steht jedoch unter dem Vorbehalt der vorhandenen staatlichen Haushaltsmittel. Die dritte Säule besteht in der Arbeitsvermittlung. Neben zahlreichen Dokumenten zur Registrierung für die genannten Leistungen – unter anderem ein Aufenthaltstitel, ein Nachweis des Aufenthalts (z.B. elektronisch registrierter Mietvertrag, Gas-/Wasser-/Stromrechnungen auf eigenen Namen oder der Nachweis, dass man von einem griechischen Residenten beherbergt wird), eine Bankverbindung, die Steuernummer, die Sozialversicherungsnummer, die Arbeitslosenkarte und eine Kopie der Steuererklärung für das Vorjahr – wird ein legaler Voraufenthalt in Griechenland von zwei Jahren vorausgesetzt (Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 f. und an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 4 ff.; Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 18 spricht hingegen von einem mind. sechs Monate vor der Antragstellung unterzeichneten Mietvertrag mit Meldeadresse). Das sogenannte Cash-Card System des UNHCR, welches über eine Scheckkarte Geldleistungen je nach Familiengröße zur Verfügung stellt, steht nur Asylbewerbern, nicht aber anerkannt Schutzberechtigten, die zurückkehren, offen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2).
Der Zugang zum griechischen Arbeitsmarkt ist für international Schutzberechtigte grundsätzlich gleichermaßen wie für Inländer gegeben. Allerdings sind die Aussichten auf Vermittlung eines Arbeitsplatzes im Allgemeinen als eher schwierig einzustufen, da die staatliche Arbeitsverwaltung schon für die griechischen Staatsangehörigen kaum Ressourcen für eine aktive Arbeitsvermittlung hat. Zudem haben sich die allgemeinen Arbeitsmarktbedingungen durch die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise verschlechtert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Griechenland, Stand 19.3.2020, S. 31), in deren Folge zahlreiche Beschäftigte insbesondere der Dienstleistungsbranche, im Verkauf und in haushaltsnahen Tätigkeiten arbeitslos wurden, wobei Frauen noch stärker betroffen sind als Männer (Eures, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt, Stand Juli 2020, S. 1. u. 3). Dazu tritt derzeit noch der wirtschaftliche Einbruch in Folge der Corona-Pandemie: Das Corona-Virus und der staatliche angeordnete Lockdown haben zu einem Einbruch der griechischen Wirtschaft im dritten Quartal 2020 von 11,7% geführt. Im wirtschaftlich bedeutsamen Tourismus-Sektor, der im Jahr 2019 noch ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes beigetragen hatte, gingen die Urlauberzahlen 2020 um 80% zurück. Im Jahr 2021 erwartet die Regierung jedoch statt eines Zuwachses beim Bruttoinlandsprodukt von 7,5% immerhin noch ein Plus von 4,8%. Um den Folgen des Coronabedingten Wirtschaftseinbruchs zu begegnen, stellte der griechische Staat im Jahr 2020 23,9 Milliarden Euro an Hilfen für die Wirtschaft zur Verfügung und plant diese im Jahr 2021 um weitere 7,5 Milliarden Euro zu erhöhen. Trotz der hohen Schuldenquote von 209% des Bruttoinlandsproduktes ist die Finanzierung des griechischen Staates wegen eines Liquiditätspuffers von 30 Milliarden Euro derzeit nicht in Gefahr (Höhler, „Corona wirft Griechenland weit zurück“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 25.12.2020). Auch sind Anzeichen für eine weitere Erholung der griechischen Wirtschaft erkennbar: Die Einreise nach Griechenland zu touristischen Zwecken ist unter Auflagen wieder möglich und es wird seitens griechischer und ausländischer Investoren vermehrt in Hotel- und Energieprojekte investiert (Germany Trade and Invest [GTAI], Griechenland: Zurück zur Normalität, Stand 28.5.2021). Rechtmäßig ansässige Drittstaatsangehörige sind allerdings meist im niedrigqualifizierten Bereich und in hochprekären Beschäftigungsverhältnissen oder in der Schattenwirtschaft tätig (Konrad-Adenauer-Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 9). Dazu treten regelmäßig die Sprachbarriere (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7) sowie bürokratische Hürden beim Eintritt in den legalen Arbeitsmarkt wie die Beantragung der Steueridentifikationsnummer (Tax Registration Number – AFM) und der Sozialversicherungsnummer. Die Ausstellung einer Steueridentifikationsnummer setzt einen Wohnsitznachweis voraus und nimmt in etwa zwei Monate in Anspruch (Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 15 f.; AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 248 f.; Respond, Working Papers, Integration – Greece Country Report, Stand Juni 2020, S. 25: zusätzlich „residence permit“ erforderlich). Hinsichtlich der Ausstellung der Sozialversicherungsnummer – Social Security Number (AMKA) – wird vereinzelt berichtet, dass diese seit Juli 2019 für nicht-griechische Staatsbürger nicht mehr möglich sei (Respond, Working Papers, Integration – Greece Country Report, Stand Juni 2020, S. 26). Andere Quellen berichten zwar von Schwierigkeiten, nehmen aber keine Unmöglichkeit an (Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 16 f.; AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 251 f.). Jedenfalls erfordert die Beantragung einer Sozialversicherungsnummer wiederum u.a. eine gültige Aufenthaltserlaubnis mit den damit verbundenen zeitlichen Verzögerungen (s.o.) sowie eine Steueridentifikationsnummer (Stiftung Pro Asyl/RSA a.a.O.). Eine spezielle Förderung zur Arbeitsmarktintegration anerkannter Schutzberechtigter findet derzeit nicht statt (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 10), jedoch haben einige NGOs Initiativen zur Arbeitsvermittlung gestartet. Für gut ausgebildete Schutzberechtigte besteht im Einzelfall auch die Chance auf Anstellung bei einer solchen Organisation, etwa als Dolmetscher oder Team-Mitarbeiter (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2 ff. und an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7).
Der Zugang zu medizinischer Versorgung und zum Gesundheitssystem ist für anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich zu den gleichen Bedingungen wie für griechische Staatsangehörige gegeben. Es besteht Zugang zum regulären öffentlichen Gesundheitssystem. Für Medikamente besteht eine Zuzahlungspflicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 9). Die Versorgung unterliegt denselben Beschränkungen durch Budgetierung und restriktive Medikamentenausgabe wie für griechische Staatsbürger (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 9; OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 BeckRS 2019, 22068 Rn. 141 f.). Von der im Grundsatz kostenfreien staatlichen Gesundheitsfürsorge ist auch die Hilfe bei psychischen Erkrankungen umfasst (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 5). Auch beim Zugang zum Gesundheitssystem sind – vergleichbar mit dem Zugang zum legalen Arbeitsmarkt – bürokratische Hindernisse zu überwinden. Insbesondere muss vor Inanspruchnahme des Gesundheitssystems die Sozialversicherungsnummer (AMKA) ausgestellt sein, was mit den bereits beschriebenen Schwierigkeiten und Wartezeiten verbunden ist (s.o. und Stiftung Pro Asyl/RSA, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021, S. 20; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Magdeburg vom 26.11.2020, S. 5; AIDA, Country Report Greece, Update 2020, S. 251 f.). Eine Notfallversorgung wird jedoch stets und unabhängig vom Rechtsstatus gewährleistet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Griechenland, Stand 19.3.2020, S. 25).
cc) Unter Zugrundelegung des vorstehenden rechtlichen Maßstabes und der tatsächlichen Situation für rückkehrende anerkannte Schutzberechtigte ergibt sich für die Klägerin unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage infolge der Corona-Pandemie eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bei einer Rückkehr nach Griechenland. Es ist davon auszugehen, dass sie in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht wird befriedigen können.
Die Lebensverhältnisse von Schutzberechtigten in Griechenland stellen sich nach der Rechtsprechung der Kammer zwar nicht allgemein bzw. für jedweden Personenkreis von Schutzberechtigten als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh dar (vgl. etwa für gesunde und arbeitsfähige Männer VG Ansbach, U.v. 10.7.2020 – AN 17 K 17.51151 – juris), für die Klägerin, die zusammen mit ihren zwei noch kleinen Kindern zurückkehren müsste, ist dies jedoch anzunehmen.
International Schutzberechtigte haben, hiermit muss jedenfalls gerechnet werden, nach der Ankunft in Griechenland über einen längeren Zeitraum keinen gesicherten Zugang insbesondere zu Obdach und sanitären Einrichtungen. Zudem ist es für sie regelmäßig praktisch unmöglich, die Voraussetzungen für den Erhalt von Sozialleistungen zu erfüllen. Dies gilt jedenfalls aufgrund der bürokratischen Hürden auch für die Klägerin, selbst wenn sie aufgrund des langen Voraufenthaltes in Griechenland bezugsberechtigt sein sollte, was aber nicht gesichert, sondern wegen der zweimaligen Unterbrechung ihres Aufenthalts in Griechenland äußert unsicher und unklar ist. Bei dieser Sachlage ist die Abdeckung der Grundbedürfnisse Bett, Brot und Seife jedenfalls in einer Anfangsphase vom eigenverantwortlichen Handeln des Einzelnen und der Hilfestellung von NGOs geprägt, die im Bereich der sozialen Unterstützung, Nahrungsmittelhilfe, Bildung, medizinischen Versorgung und teils auch der Unterbringung aktiv sind. Vor diesem Hintergrund muss der jeweilige Schutzberechtigte, damit eine drohende Verelendung verneint werden kann, in der Lage sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative und unter Zuhilfenahme von Unterstützungsangeboten selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Nur wenn davon auszugehen ist, dass er diese Schwierigkeiten bewältigen kann, fehlt es an der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Griechenland (so auch: VG Cottbus, B.v. 10.2.2020 – 5 L 581/18.A -juris Rn. 40; VG Düsseldorf, B.v. 23.9.2019 – 12 L 1326/19.A – juris Rn. 43; VG Leipzig B.v. 17.2.2020 – 6 L 50/19 – BeckRS 2020, 2228 Rn. 15). Im Falle der Klägerin als alleinerziehender Mutter von zwei kleinen Kindern, die sie zu versorgen hat, kann hiervon nicht ausgegangen werden. Der sich in Griechenland befindende Vater der Kinder ist nach Auskunft der Klägerin wie bisher nicht in der Lage, Unterhaltszahlungen zu leisten, da er selbst keine Arbeit bzw. nur Gelegenheitsjob hat. Dass er Betreuungsleistungen in einem Umfang übernimmt, dass die Klägerin einer die gesamte Familie unterhaltenden Erwerbstätigkeit nachgehen kann, erscheint ebenfalls unrealistisch. Zudem ist der Arbeitsmarkt für Frauen noch deutlich angespannter als für Männer. Frauen sind in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise und der steigenden Arbeitslosigkeit von Arbeitslosigkeit stärker betroffen als Männer (s.o. und Eures, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt, S. 1. u. 3., BFA a.a.O., S. 31). Da der größte Teil der Beschäftigten Mitarbeiter im Dienstleistungsgewerbe und im Verkauf sind (23,8%), ist von einer geringen Wahrscheinlichkeit auszugehen, den eigenen Lebensunterhalt selbständig verdienen zu können, und dürfte sich dies aller Wahrscheinlichkeit nach im Zuge der Corona-Krise und des damit einhergehenden Einbruchs im Tourismussektor, der für ein Fünftel des griechischen Bruttoinlandsproduktes steht, noch weiter verschärft haben. Frauen steht dabei im Vergleich zu Männern nur ein schmalerer Arbeitsmarkt offen, da etwa schwere körperliche Tätigkeiten in der Land- und Bauwirtschaft typischerweise und mehrheitlich von Männern wahrgenommen werden. Insoweit wird es der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jeweils an der Möglichkeit fehlen, Miete und Lebensunterhaltskosten für sich selbst und ihre Kinder zu erwirtschaften. Eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften ist angesichts der limitierten Kapazitäten und der teils bestehenden Aufnahmebeschränkungen wie etwa griechischen oder englischen Sprachkenntnissen nur eine nur vage und unwahrscheinliche Möglichkeit, die die tatsächliche Gefahr der drohenden Obdachlosigkeit nicht zu beseitigen vermag. Im Übrigen ist eine derartige Unterbringung Familien mit kleinen Kindern ebenso wenig zumutbar wie etwaige informelle Unterkünfte wie leerstehende oder besetzte Gebäude, die meist ohne Wasser und Strom sind. Zudem besteht für alleinstehende Frauen in diesem Zusammenhang im Allgemeinen eine größere Gefahr, als dies für Männer der Fall ist, Opfer von (sexuellen) Übergriffen zu werden. Entsprechende Berichte gibt es bislang zwar nur vereinzelt aus Flüchtlingscamps (United States Department of State, Greece 2019 Human Rights Report, S. 3, 13 f.), in die die Klägerin mit ihren Kindern als Anerkannte nicht zurückkehren müsste, gleichwohl lässt sich aus ihnen ableiten, dass, wenn Übergriffe bereits in staatlich oder durch NGOs organisierten Camps auftreten, diese Gefahr in unregulierten Behelfsunterkünften, wilden Camps oder gar auf der Straße erst recht besteht. Diese im Vergleich zu alleinstehenden Männern (vgl. hierzu VG Ansbach, U.v. 10.7.2020 – AN 17 K 17.51171 – juris) zusätzlichen Risiken führen nach der Einschätzung der Kammer dazu, dass alleinstehende, anerkannte Frauen und Familien derzeit regelmäßig nicht nach Griechenland zurückgeführt werden können. Ihnen droht dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung.
Die zu erwartenden Lebensumstände in Griechenland beruhen zwar wohl nicht auf der Gleichgültigkeit (so die Formulierung des EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90) des griechischen Staates, aber auf dessen massiver Überforderung, die trotz Unterstützung des UNHCR und der EU weiterhin besteht. Im europäischen Vergleich muss Griechenland gemessen an seiner Größe überproportionale Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen schultern und ist mit diesem Ausmaß, insbesondere was die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung anbelangt, überfordert. Für die Betroffenen wirkt sich die Überforderung des griechischen Staates im Ergebnis genauso wie Gleichgültigkeit, worauf der Europäische Gerichtshof abgestellt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90), aus. Rechtlich maßgeblich ist letztlich allein, ob wegen der Defizite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, was sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof ergibt, da dieser an anderer Stelle den „allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet“, betont (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 37).
Der Annahme einer drohenden erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin als anerkannte Schutzberechtigte freiwillig aus Griechenland ausgereist ist, damit – möglicherweise sogar bewusst – auf die ihr zustehenden Sozialleistungen verzichtet und ihre eigene Notsituation im Falle einer Rückkehr erst herbeigeführt hat. Zwar stellt der Europäische Gerichtshof grundsätzlich auf eine Notsituation der schutzberechtigten Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen“ ab (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Allerdings kommt Art. 4 GRCh in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs absoluter Charakter zu, d.h. Einschränkungen in dessen Gewährleistung sind nicht rechtfertigbar (EuGH, U.v. 24.2.2018 – MP, C-353/16 – ZAR 2018, 395 Rn. 36; Jarass in Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 12). Zudem lässt sich der Europäische Gerichtshof auch so verstehen, dass die Notsituation unabhängig vom Willen und persönlichen Entscheidungen des Anerkannten sich erst auf die Situation ab einer angenommenen Rückkehr nach Griechenland bezieht und deshalb das zeitlich davorliegende Verhalten keine Rolle mehr spielt.
Schließlich vermag auch das allgemeine Schreiben des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 bezüglich zurückkehrender anerkannter Flüchtlinge nach Griechenland eine drohende unmenschliche Behandlung nicht auszuschließen. In diesem wird zugesichert, dass Griechenland die Qualifikations-RL 2011/95/EU rechtzeitig in griechisches Recht umgesetzt hat und basierend hierauf allen international Schutzberechtigten die Rechte aus der Richtlinie gewährt werden unter Beachtung der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine Zusicherung, die die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen Behandlung ausschließen soll, muss nach der Rechtsprechung des EGMR hinreichend konkret und individualisiert, etwa durch detaillierte und zuverlässige Informationen über die materiellen Bedingungen in der Unterkunft mit Bezug zur Klägerin, ausgestaltet sein (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127 Rn. 120 ff.). Das Bundesverfassungsgericht betont hinsichtlich der Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Notwendigkeit einer „hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage“ (BVerfG [2. Senat, 1. Kammer], B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15 f., wo auch auf die Tarakhel-Entscheidung des EGMR Bezug genommen wird). Gemessen an diesem Maßstab bleibt die Mitteilung Griechenlands vom 8. Januar 2018 zu abstrakt und damit nicht ausreichend.
Nach alldem ist die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Ziffer 1 des Bescheids vom 19. Dezember 2019 rechtswidrig, verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist damit aufzuheben.
3. Nachdem Ziffer 1 des Bescheids vom 19. Dezember 2019 aufzuheben ist, kann in der Folge auch die Ziffern 2 nicht aufrechterhalten werden.
Da die Unzumutbarkeit aufgrund der allgemein in einem Land bestehenden Lageverhältnisse bereits im Rahmen der Unzulässigkeitsentscheidung zu prüfen ist und hier zur Aufhebung führt, ist eine dem widersprechende Entscheidung im Rahmen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG ebenfalls rechtswidrig und aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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