Verwaltungsrecht

Keine Abschiebung nach Afghanistan bei Familie mit minderjährigen Kindern

Aktenzeichen  13a ZB 17.31264

Datum:
29.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 136944
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3
AsylG § 78 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 5
VwGO § 138 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern liegt unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage vor, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art. 3 EMRK führt, so dass für sie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. (Rn. 3 – 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Vornahme einer dem bisherigen Prozessverlauf widersprechenden Beweiswürdigung stellt sich als Überraschungsentscheidung dar, die den Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 138 Nr. 3 VwGO verletzt und mithin die Voraussetzungen des Berufungszulassungsgrundes nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG erfüllt.  (Rn. 5 – 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 8 K 16.31406 2017-08-01 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Die Berufung wird hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsschutzes zugelassen.

Gründe

Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 1. August 2017 hat Erfolg. Die Berufung ist im beantragten Umfang zuzulassen. Hinsichtlich der Erkenntnis, dass den Klägern als Familie mit drei minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zustehe, sind die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gegeben (Divergenz).
Eine Divergenz liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht mit einem sein Urteil tragen-den Obersatz von einem Obersatz des Oberverwaltungsgerichts/Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist (BVerwG, B.v. 19.8.1997 – 7 B 261.97 – NJW 1997, 3328; Kraft in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 132 Rn. 35).
Dies ist hier der Fall. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Dies ist bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für sie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – AuAS 2017, 175; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212)
Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber entschieden (UA S. 8), dass es den Klägern gelingen werde, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen, weil sie auf die Unterstützung der in Afghanistan lebenden Verwandten zurückgreifen könnten und zudem der Kläger zu 1 über vielfältige Berufserfahrungen verfüge. Es ist jedoch nicht ersichtlich, inwiefern sich der vorliegende Sachverhalt von denjenigen Umständen unterscheidet, die den Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde lagen. Berufserfahrungen sind bei erwachsenen Männern die Regel. Die weitere Annahme des Verwaltungsgerichts, die noch in Afghanistan lebenden Verwandten würden für den Unterhalt der fünfköpfigen Familie sorgen, steht im Widerspruch zu den Angaben der Kläger, die hierzu vom Gericht nicht befragt wurden.
Im Übrigen liegen auch die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG vor. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt die Kläger in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 138 Nr. 3 VwGO. Das rechtliche Gehör gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305/310). Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht in seiner Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt abstellt, der weder im Verwaltungsverfahren noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erörtert wurde, auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen als fernliegend anzusehen war und damit dem Rechtsstreit eine unerwartete Wendung gab (BVerwG, B.v. 27.7.2015 – 9 B 33.15 – NJW 2015, 3386; B.v. 19.7.2010 – 6 B 20.10 – Buchholz 402.45 VereinsG Nr. 54 = NVwZ 2011, 372).
Dies ist hier der Fall. Mit der Ladung vom 11. Juli 2017 zur mündlichen Verhandlung wurde den damals anwaltlich nicht vertretenen Klägern mitgeteilt, „der Vortrag beim Bundesamt (Anhörung v. 20.6.2016) kann als wahr unterstellt werden.“ Gleichzeitig wurde angefragt, ob auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet werde. Eine Reaktion der Kläger erfolgte nicht. Zur mündlichen Verhandlung am 1. August 2017 erschienen sie nicht. Die Niederschrift über die Verhandlung enthält keinen Hinweis, dass das Gericht mittlerweile die klägerischen Angaben als unglaubwürdig ansehe. Im angegriffenen Urteil werden jedoch mehrfach Zweifel an der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags geäußert (UA S. 7, 9, 10). Die Vornahme einer dem bisherigen Prozessverlauf widersprechenden Beweiswürdigung stellt sich jedoch ebenfalls als Überraschungsentscheidung dar (Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 78 AsylVfG Rn. 57).
Das Verfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG); der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.


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