Verwaltungsrecht

Keine drohende Verfolgung eines kurdischen Volkszugehörigen als vermeintlichem Anhänger der Gülen-Bewegung in der Türkei

Aktenzeichen  Au 6 K 18.30209

Datum:
9.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 3792
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2

 

Leitsatz

1 Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es liege deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vor. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Asyl, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 22. Januar 2018 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG.
Vorliegend schließt zwar die Drittstaatenregelung nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 und 2 GG die Asylzuerkennung nicht aus, da der Kläger glaubhaft auf dem Luftweg eingereist ist. Allerdings hat er eine Vorverfolgung nicht glaubhaft gemacht und droht ihm auch im Fall einer Rückkehr in die Türkei keine politische Verfolgung aus nach seiner Einreise entstandenen Gründen. Auf die Ausführungen zu § 3 AsylG wird verwiesen.
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5, 8 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (Lagebericht ebenda S. 8; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 7; Lagebericht ebenda S. 8).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 189.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 117.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter über 53.000 Personen in Untersuchungshaft. Über 154.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; darunter wohl rund 107.000 Personen endgültig entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 9, 15, 31).
Der nach zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand wurde zwar nicht mehr verlängert, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform dauerhaft gesichert, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 8).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 10 f.) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 24).
Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger. Eine landesweite individuelle Vorverfolgung bzw. aktuelle Gefährdung ist beim Kläger nicht glaubhaft gemacht (dazu sogleich). Soweit der Kläger auf frühere Diskriminierungen insbesondere in beruflichen Bewerbungsverfahren der Jahre 1998 bis 2016 mutmaßlich wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit verweist, waren sie für die aktuelle Ausreise erstens nicht auslösend und sind daher nicht flüchtlingsrelevant. Zweitens kann die Erfolglosigkeit des Klägers in Bewerbungsverfahren trotz Bestehens einer Auswahlprüfung mit der gesundheitlichen Verfassung des Klägers nach seiner Wirbelsäulenverletzung 2001 oder mit seinem fortgeschrittenen Alter nach 12 Jahren Studium im Vergleich zu anderen Bewerbern zusammenhängen, so dass eine bewusste Diskriminierung weder der einzige Grund für seinen Misserfolg zu sein braucht, noch bereits die Schwere einer Verfolgungsmaßnahme erreichte. Der Kläger hat selbst eingeräumt, dass seine Rechtsbehelfe zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen empfundener beruflicher Diskriminierung bisher nicht erfolgreich gewesen seien. Drittens ist auch nicht ersichtlich, dass ein – von ihm behaupteter – Anlass der Diskriminierung in Form der Namensgleichheit mit einem PKK-Funktionär heute noch besteht, nachdem er seinen Namen erfolgreich geändert haben will.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat der Kläger nicht zu befürchten. Die Angaben des Klägers zu seiner behaupteten Nähe zur Gülen-Bewegung sind teils unglaubhaft und teils so wenig konkret, dass sie die Annahme einer Verfolgungsgefahr nicht tragen.
Aktuell liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. oben). Unklar ist dabei, nach welchen Kriterien türkische Behörden eine Person als „Anhänger“ einstuften. Türkische Behörden und Gerichte können eine Person bereits dann als solchen „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht hat oder im Besitz von Schriften Gülens ist. Als besonders starkes Indiz werden finanzielle Beziehungen von Personen zu Einrichtungen gewertet, die der Gülen-Bewegung nahe stehen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 11 – im Folgenden: Lagebericht). „FETÖ“ sei die Abkürzung für „Fethullah Gülen Terrororganisation“ und als Ausdruck ab dem Jahr 2013 aufgekommen, als die bis dahin eng mit der regierenden AKP zusammenarbeitende Gülen-Bewegung den ersten Aufstand geprobt und durch der Gülen-Bewegung angehörende Staatsanwälte und Richter gegen mehrere amtierende Minister wegen Bestechung und Bestechlichkeit Strafverfahren eingeleitet habe, was das große Zerwürfnis zwischen Gülen und dem damaligen Vorsitzenden der AKP Erdoğan hervorrief (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Zum Stand August 2016 seien 35 Gesundheitseinrichtungen, 1.045 Bildungsinstitutionen, 104 Stiftungen, 1.125 Vereine, 15 Universitäten sowie 29 Gewerkschaften wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung geschlossen worden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Kurzinformation vom 4.8.2016, S. 1 m.w.N.) sowie insgesamt über 5.000 Vereinigungen einschließlich Menschenrechtsorganisationen (Lagebericht ebenda S. 10).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss, auch ohne dass sie eine führende Stellung in der Gülen-Bewegung innehatte bzw. noch innehat. Bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft reicht aus, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36). Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14).
Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Einzahlungen nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 bei der Bank, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der (vormaligen) Gülen-Zeitung „Zaman“ oder der Besitz von Gülens Büchern (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.). Nutzer der Smartphone-Anwendung „ByLock“ stehen ebenfalls in Verdacht, 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.).
aa) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung liegt hier jedoch schon deswegen nicht vor, weil der Kläger mit eigenem Reisepass zwei Mal legal und unbehelligt auf dem Luftweg aus der Türkei ausgereist sein will.
Da der Kläger im April 2017 trotz Meldeauflage legal auf dem Luftweg aus der Türkei aus- und anschließend wieder in die Türkei ein- und im September 2017 erneut mit eigenem, nicht annuliertem oder mit Sperrvermerk versehenem Reisepass ausgereist ist, hat er unbehelligt die staatlichen Kontrollen passieren können, was gegen eine staatliche Vorverfolgung bzw. überhaupt ein Interesse am Kläger spricht. Sein Vorbringen, dies dem Schleuser zu verdanken, der ihm Visa beschafft und ihn durch die Ausreisekontrollen geschleust habe, erklärt diese Vorgänge angesichts der gerichtsbekannt strengen Handhabung von Ausreisesperren durch die türkischen Sicherheitskräfte nicht.
In der Türkei finden Ausreisekontrollen für alle Personen statt. Türkischen Staatsangehörigen, gegen welche ein vom türkischen Innenministerium oder von einer Staatsanwaltschaft verhängtes Ausreiseverbot vorliegt und die auf einer entsprechenden Liste stehen, wird die Erteilung eines Reisepasses versagt oder sie werden bei Besitz eines Reisepasses an der Ausreise gehindert. Bei bestehendem Ausreiseverbot kann ein Reisepass auch durch Bestechung kaum erlangt werden, denn seine Ausstellung erfordert, dass ein vorhandener Listeneintrag zuvor auf amtliche Veranlassung durch richterlichen Beschluss oder Beschluss des Innenministeriums gelöscht wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 11.6.2018, S. 1 f.). Nach Regierungsangaben seien im Zuge der Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung über 234.000 Reisepässe annulliert worden für dieser Bewegung zugerechnete Personen und ihre Ehepartner; für einen Teil der Betroffenen sei die Annullierung nach Ende des Ausnahmezustandes widerrufen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 79).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 32). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Vor diesem Hintergrund seht schon der zweimalige Reiseweg des Klägers nach Deutschland der Indizwirkung einer Vorverfolgung entgegen und trägt vorliegend auch nicht die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung im Falle einer Rückkehr.
bb) Soweit der Kläger behauptet, wegen seines Kontos bei der zur Gülen-Bewegung gerechneten und deswegen geschlossenen …-Bank das Verfolgungsprofil der türkischen Sicherheitsbehörden für mutmaßliche Gülen-Anhänger zu erfüllen, trägt auch dies hier nicht die Annahme einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung im Falle einer Rückkehr.
Zu seinen Ausreisegründen gab der Kläger u.a. an, er habe als Händler auf dem Basar ein Konto bei der … Bank gehabt; bis auf die Unterlagen zur Bank habe die Polizei alles in der Türkei beschlagnahmt (BAMF-Akte Bl. 77). Er habe den Gülen-Vereinen nur gespendet, weil er Angst gehabt habe, da die Gülen-Anhänger die Macht in der Türkei gehabt hätten (ebenda Bl. 78). Auf Vorhalt, warum er trotz seiner schlechten Behandlung durch die Gülen-Anhänger gespendet und die „…“ abonniert habe, erklärte er, er habe seinen Geschwistern eine Anstellung beim Staat erleichtern wollen und sich die Anschuldigungen als PKK-Terrorist ersparen wollen (ebenda Bl. 81). Der Kläger habe auf seinem beschlagnahmten Konto bei der … Bank zuletzt 170.000 TL Guthaben gehabt (ebenda Bl. 80). In der mündlichen Verhandlung gab er hierzu an, es sei sein persönliches Konto gewesen. Er sei hochrangiger Kunde bei der …-Bank gewesen und habe eine Platin-Karte der Bank gehabt. Ca. 2008 habe er mit dem Konto begonnen. Seine Familie sei in der Türkei als Anhänger von HDP und PKK bekannt. Die …-Bank gehöre zu Gülen, die gesamte Staatsmacht sei in der Gewalt von Gülen. Weil sie als HDP-/PKK-Anhänger bekannt seien, habe er das Konto bei der … -Bank eröffnet und zusätzlich Zeitschriften abonniert (Niederschrift vom 9.1.2019 S. 5).
Dieser Vortrag ist als solcher teils nicht glaubhaft und trägt im Übrigen nicht die Annahme einer bereits erlittenen Vorverfolgung bzw. einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit noch drohenden künftigen Verfolgung im Fall der Rückkehr.
Auffallend ist zunächst, dass der Kläger beim Bundesamt von sich das Bild eines Opfers jahrzehntelanger Diskriminierungen zeichnete und die Schuld hierfür in der Gülen-Bewegung sah; er wolle dieser dennoch gespendet haben, um sich und seiner Familie Verdächtigungen als HDP-/PKK-Anhänger zu ersparen und seinen Geschwistern Stellen beim türkischen Staat zu verschaffen. In der mündlichen Verhandlung stellte er sich hingegen als erfolgreicher Geschäftsmann dar mit Platin-Karte der … -Bank (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 5).
In beiden Fällen aber bleibt ungeklärt und letztlich nicht glaubhaft, dass sich der Kläger als Opfer der Gülen-Bewegung präsentierte, aber zugleich als deren berechnender Förderer, um anderweitig Ungemach abzuwenden bzw. informelle Vorteile zu erlangen. Angesichts seiner beruflichen Biografie, sofern sie hier vorläufig und entgegen der bereits oben ausgeführten Bedenken als wahr unterstellt wird, hätte es keineswegs nahegelegen, ausgerechnet diese Gruppe auch noch zu unterstützen, sondern sich eher ihr zu entziehen. Auch sein angebliches Ziel, seinen Geschwistern Stellen beim türkischen Staat zu verschaffen, muss nach seinem eigenen Vortrag als gescheitert angesehen werden, denn er gab an, sein Bruder habe bei „…“ gearbeitet, seine Schwester sei bei … angestellt gewesen (BAMF-Akte Bl. 79). Auf Frage, warum diese bei der Gülen-Bewegung gearbeitet hätten, erklärte der Kläger, aus demselben Grund, weshalb er gespendet und die „…“ abonniert habe (ebenda Bl. 81). Letztlich erscheint das Verhalten des Klägers nicht von Verfolgungsfurcht wegen der Namensgleichheit mit einem PKK-Funktionär geprägt – der Kläger will ja bereits im Jahr 2009 seinen Namen gewechselt haben -, sondern von Berechnung und Bestechung. Er will ein Konto unterhalten, gespendet und Abonnements gehabt haben, um als Gülenist zu gelten und sich bzw. seiner Familie Vorteile zu verschaffen. Der Kläger ist nach Überzeugung des Gerichts also kein Unterstützer der Gülen-Bewegung aus Überzeugung.
Der Kläger hat nach Überzeugung des Gerichts aber auch nicht glaubhaft gemacht, dass ihn der türkische Staat wegen Unterstützung der Gülen-Bewegung vorverfolgt hat bzw. noch verfolgen würde. Zum einen erfüllt der Kläger keineswegs das typische Verfolgungsprofil des türkischen Staats für einen Gülen-Anhänger, zum Anderen ist sein Vortrag in tragenden Teilen nicht glaubwürdig: Wie ausgeführt, will der Kläger auf seinem beschlagnahmten Konto bei der … Bank zuletzt 170.000 TL Guthaben gehabt haben (ebenda Bl. 80); es sei sein persönliches Konto gewesen. Er sei hochrangiger Kunde bei der …-Bank gewesen und habe eine Platin-Karte der Bank gehabt. Ca. 2008 habe er mit dem Konto begonnen (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 5). Er war damit nach seinem Vortrag Konto-Inhaber, aber nicht Einlagengeber oder Gläubiger gegenüber der … -Bank. Weitergehende Verflechtungen in die Gülen-Bewegung hinein sind nicht ersichtlich, die den Kläger zum Mitwirkenden dort gemacht hätten; als Zeitschriftenabonnent ist er nur passiver Konsument, nicht aktiver Unterstützer.
Es ist auch nicht glaubhaft, dass der Kläger wegen dieser Geschäftsbeziehungen in Gefahr geraten ist, denn widersprüchlich ist zunächst sein Vorbringen, bei den Hausdurchsuchungen seien alle Unterlagen, auch jene der …-Bank, beschlagnahmt worden (BAMF-Akte Bl. 79), was er zuvor in derselben Anhörung verneint hatte (BAMF-Akte Bl. 77).
Nicht glaubwürdig ist der Kläger auch mit seiner Behauptung, am 23. Juli 2016 habe die Polizei seine Wohnung nach dem Putschversuch durchsucht und Unterlagen zur … Bank, …-Zeitung, „…“, zur HDP usw. beschlagnahmt; sie habe zuvor Videoaufzeichnungen von Spenden im HDP- und „…“-Büro gefunden gehabt. Er sei als finanzieller HDP- und Gülen-Unterstützer und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beschuldigt und bis 29./30. Dezember 2016 in Haft gewesen, dann unter Meldeauflage freigelassen worden (ebenda Bl. 79). Dem steht die in einem ärztlichen Attest wiedergegebene Angabe des Klägers entgegen, 2016 sei er mehrere Monate nach einer Schlägerei im Gefängnis gewesen (Dr. v., Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, Attest vom 17.12.2018, VG-Akte Bl. 114 f.). Damit wäre eine Verfolgung als Gülen-Anhänger nicht mehr plausibel, sondern eine normale, nicht flüchtlingsrelevante Strafverfolgung aufgezeigt.
Nähere Angaben zur Inhaftierung, so sie stattgefunden hat, zum Haftgrund und zum Strafvorwurf konnten nicht ermittelt werden, insbesondere ein Auszug aus eDevlet bzw. UYAP liegt nicht vor. Der Kläger gab hierzu in der mündlichen Verhandlung auf Frage, ob er sich Haftbefehl und Anklage mittlerweile über einen Anwalt in der Türkei per eDevlet besorgt habe, an, sein Passwort sei gesperrt, seine beiden Anwälte in der Türkei seien verhaftet worden. Dort habe er seine Dokumente und Unterlagen gehabt und sie seien beschlagnahmt worden. Auf Nachfrage erklärt er, er habe kein eDevlet und es sei auch nichts rausgekommen (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 4). Trotz der Möglichkeit, über seinen Bevollmächtigten bzw. einen Bevollmächtigten in der Türkei hierzu zu recherchieren, hat der Kläger diese Möglichkeit nicht genutzt. Dass dies nur daran liegt, dass sein Zugang zu eDevlet gesperrt sein soll, ist nicht glaubhaft.
Auch unter Berücksichtigung der attestierten halluzinatorischen Momente des Klägers (Dr. v., Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, Attest vom 17.12.2018, VG-Akte Bl. 114 f.) hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung zwar den Eindruck erlangt, dass der Kläger behandlungsbedürftig ist. Andererseits hat der Kläger auch zur Überzeugung des Gerichts gezeigt, dass er sich sehr wohl asyl- und prozesstaktisch berechnend zu verhalten vermag und hinreichend Herr seiner Sinne ist: So hat er sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung (BAMF-Akte Bl. 58, 76, 162; Niederschrift vom 9.1.2019, S. 3) zunächst felsenfest behauptet, seinen Reisepass verloren zu haben und dem Gericht noch eine ausgedachte und gegenüber dem Vorbringen beim Bundesamt erheblich ausgeschmückte Geschichte der vermeintlichen Suchmeldung bei der Bahn präsentiert (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 3), was schon eine wesentliche Steigerung des Vortrags darstellt. Nach deutlichen Hinweisen des Gerichts, ihm die Geschichte seines Passverlusts nicht zu glauben, hat er nach einer Sitzungspause durch seinen Anwalt die Geschichte des Passverlusts als Lüge aufgedeckt und eingeräumt, den Reisepass am Wohnort in Deutschland zu haben (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 5). Auch wenn er dies aus Angst vor einer sofortigen Abschiebung getan haben will, so hat er doch erst dem Bundesamt und dann dem Gericht eine dreiste Lüge aufgetischt und diese auch noch weiter gesteigert. Insofern ist auch sein weiteres Vorbringen besonders kritisch zu würdigen und mangels näheren Nachweisen davon auszugehen, dass auch seine behauptete sechsmonatige Inhaftierung, so sie stattgefunden hat, durchaus einer Strafverfolgung wegen einer Schlägerei dienen mochte und nicht in Zusammenhang mit Gülennahen Indizien des Klägers stand. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass die Hausdurchsuchung und Inhaftierung des Klägers bereits etwas mehr als eine Woche nach dem Putsch stattgefunden haben soll, als die Regierung Erdogan noch damit beschäftigt war, hochrangige Putschverdächtige aus Militär, Polizei und Justiz zu verhaften, zu denen der Kläger nicht zählt, aber nicht bloße Kontoinhaber der …-Bank mit einem Stand auf dem Basar wie ihn.
Nicht glaubwürdig erscheint auch sein Vorbringen, am 23. Januar 2017 sei die Polizei nochmals zu einer Wohnungsdurchsuchung gekommen und habe die Unterlagen seiner Geschwister beschlagnahmt, die bei ihm in der Wohnung gewesen seien, da sie schon vorher geplant hätten, das Land zu verlassen (BAMF-Akte Bl. 79; Niederschrift vom 9.1.2019, S. 6). Da seine Wohnung bereits am 23. Juli 2016 durchsucht worden sein soll, erscheint es nicht nachvollziehbar, dass seine Geschwister die sie angeblich belastenden Unterlagen ausgerechnet dort beim Kläger deponiert haben sollen. Ein schlechteres Versteck ließe sich kaum finden.
Auch nicht glaubwürdig erscheint sein Vorbringen, am 1. Juni 2017 sei ein Haftbefehl gekommen; Unterlagen zu Haftbefehl und Anklage habe er nicht, da seine Anwälte „…“ und „…“ verhaftet worden seien (ebenda Bl. 79). In der mündlichen Verhandlung gab er auf Frage, woher er vom Erlass eines Haftbefehls erfahren habe, an, er habe in den Nachrichten gesehen, dass seine in der gleichen Stadt lebenden Anwälte verhaftet wurden. Er habe daher vermutet, auch er werde verhaftet. Er sei dann geflohen. Auf Nachfrage, dass er dann keine offizielle Mitteilung über einen Haftbefehl habe, gab er an, sobald er einen Haftbefehl empfange, würde er auch gleich verhaftet, er erfahre das nicht vorher, sondern erst wenn ihn die Polizei fasse (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 4). Letztlich zeigt auch dies, dass der Kläger zunächst eine Behauptung – Existenz eines Haftbefehls – aufstellte, sie auf Nachfrage aber zu einer bloßen Vermutung abschwächte und schließlich zu erklären suchte, warum er das Behauptete doch nicht wisse. Zusätzlich widersprüchlich dazu ist sein Vorbringen in der mündlichen Verhandlung, am 1. Juni 2017 sei sein Haus durchsucht worden, er sei nicht vor Ort gewesen, aber seine Frau. Der Haftbefehl sei offenbart worden (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 6). Seine Ehefrau wäre damit die Referenzperson für die Existenz eines Haftbefehls – auf sie hat sich der Kläger in seiner informatorischen Anhörung hierzu (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 4) aber nicht bezogen.
Schließlich überzeugt auch die Erklärung des Klägers dafür, dass er nicht gleich nach seiner ersten Einreise im April 2017 Asyl in Deutschland beantragt habe, nicht. Hierzu erklärte er dies in der mündlichen Verhandlung mit seinem Lebenslauf, er habe Familie dort gehabt und habe nicht Flüchtling sein bzw. die Flüchtlingseigenschaft haben wollen. Damals sei kein Haftbefehl gegen ihn erlassen gewesen, er sei verpflichtet gewesen, regelmäßig bei der Polizei zu erscheinen und jeden Tag zu unterschreiben. Er habe keine Geldnöte gehabt und das sei auch keine Motivation gewesen, Asyl zu beantragen (Niederschrift vom 9.1.2019, S. 4). Im Vergleich dazu hatte sich die Situation für ihn im September 2017 aber objektiv nicht derart zugespitzt, dass dies Grund gewesen wäre, erst jetzt Asyl zu beantragen, Nach seinem Vorbringen war der Kläger bereits im April 2017 zwei Mal Opfer von Hausdurchsuchungen am 23. Juli 2016 und am 23. Januar 2017 sowie einer sechsmonatigen Inhaftierung gewesen, war nur gegen Meldeauflage auf freien Fuß gesetzt worden und waren zwei Mal Unterlagen beschlagnahmt worden. Im Vergleich dazu fürchtete er im Juli 2017 angesichts der Verhaftung seiner türkischen Anwälte die Invollzugsetzung seines Haftbefehls. Hätte er nach dem bereits bis April 2017 Erlebten ernsthaft (weitere) Verfolgung befürchtet, hätte es nahe gelegen, gleich nach der ersten Einreise Asyl zu beantragen, statt sich erneut in die Türkei zu begeben, selbst wenn der dortige Anwalt hierfür „grünes Licht“ gegeben haben mag.
Insgesamt ist der Vortrag des Klägers in den Einzelpunkten widersprüchlich, keineswegs aus sich heraus verständlich und bereits ohne – aber erst recht unter – Berücksichtigung seiner Lügen über den Verbleib seines Reisepasses nicht glaubhaft. Es scheint eher, als habe sich der Kläger eine Geschichte zurechtgelegt, teilweise abgeschwächt, teilweise ausgeschmückt, je nach Bedarf beim Bundesamt und bei Gericht, die aber nicht oder jedenfalls nicht so tatsächlich Erlebtem entspricht. Angesichts des asyltaktischen Vorgehens des Klägers kann dies auch nicht auf seine Erkrankung geschoben werden. Nach Überzeugung des Gerichts ist der Kläger wohl behandlungsbedürftig, aber nicht schutzbedürftig.
d) Eine Verfolgung wegen seiner Zurechnung zur HDP hat der Kläger nicht zu befürchten.
Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5 f., 11 f. – im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 17 m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 – nach der PKK zugeschriebenen – Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte zum Stand September 2016 bislang fast 5.000 Todesopfer, darunter 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und über 3.700 PKK-Kämpfer (Lagebericht vom 19.2.2017 S. 6; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen (Lagebericht vom 3.8.2018, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 10 a.E.).
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 11 a.E.).
Der nun gewaltsam ausgetragene Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die links-kurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war; in der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen ebenso die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament wie in der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 mit 11,7% der Stimmen und trotz Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas (Lagebericht ebenda S. 8, 11 f.), der wegen Äußerungen anlässlich der Newroz-Feiern 2013 zu einer Haftstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt worden ist (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 54). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze verloren 57 der damals 59 HDP-Parlamentsabgeordneten zunächst ihre Immunität und nach rechtskräftiger Verurteilung verloren neun Abgeordnete der HDP auch ihr Parlamentsmandat (Lagebericht ebenda S. 6, 11). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 93 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 11). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 12). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/BDP; seit April 2009 wurden Schätzungen zu Folge in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten über 2.000 Personen verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Bei mehreren Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert sowie 700 Personen wegen kritischer öffentlicher Äußerungen gegen den Militäreinsatz in Afrin (Lagebericht ebenda S. 12). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Während des Wahlkampfes im Jahr 2018 haben türkische Behörden einige Wahlhelfer der HDP verhaftet oder einer Sicherheitskontrolle unterzogen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 55).
Unscharf und Vorwand für die Bandbreite an Repressalien ist der von türkischen Behörden und Gerichten angewandte Begriff des „Terrorismus“. Zwar gewährleistet die türkische Rechtsordnung die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein mit einer unspezifischen Terrorismusdefinition. Seitens der regierenden AKP wird eine Neudefinition des „Terrorismus“-Begriffs im Antiterrorgesetz vorbereitet, wonach auch Personen, die in Medien und sozialen Netzwerken „Terrorpropaganda betreiben sowie Terrororganisationen logistische Unterstützung leisten“, erfasst werden. Ebenso problematisch ist jedoch die sehr weite Auslegung des „Terrorismus“-Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. 482 Verfahren wurden wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten eingeleitet (Lagebericht ebenda S. 13).
Hier ist der Begründung des Bundesamts in seinem angefochtenen Bescheid zu folgen, dass der Kläger mehrere Fällen von Schikanen und Schlägen der örtlichen Polizei erwähnt habe, die aber illegale Handlungen einzelner örtlicher Polizeikräfte darstellten in Folge einer irrtümlichen Namensverwechslung. Deren Grundlage hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts durch seine Namenänderung aber beseitigt. Der Beklagten ist auch darin zu folgen, dass der Kläger, ohne reguläres Parteimitglied zu sein oder sich in sonstiger Weise für die HDP engagiert zu haben, keine derart exponierte Stellung innegehabt hätte, dass ihm alleine aufgrund sporadischer Spendenzahlungen asylrelevante, intensive, menschenrechtsverletzende und damit schutzauslösende Verfolgungshandlungen drohten.
e) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Insoweit ist auf die o.g. Würdigung zu verweisen. Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht zudem die o.g. unbehelligte Wiederein- und dann Wiederausreise mit eigenem Reisepass (vgl. oben).
aa) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht dem Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
In der Behandlung Strafverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 19 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 33 ff.) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Lagebericht, ebenda S. 19; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 34). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20).
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht, nicht aber für Inhaftierte aus dem Bereich des islamistischen Extremismus wie IS-Verdächtige. Für ein strukturell bestehendes Risiko von Misshandlungen von IS-Verdächtigen oder gehäufte Einzelfälle solcher Misshandlungen gibt es nach Recherchen des Auswärtigen Amts unter Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen keine Anhaltspunkte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018).
Dass der Kläger der PKK oder glaubhaft der Gülen-Bewegung zugerechnet wird, nachdem er als Haftgrund gegenüber einem Arzt eine Schlägerei erwähnt hatte (Dr. v., Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, Attest vom 17.12.2018, VG-Akte Bl. 114 f.), und deswegen misshandelt würde, ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 23 ff.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen, teilweise sogar über ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 17; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 25). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18).
Da der frühere Haftgrund des Klägers sachlich offen geblieben ist, die behauptete Inhaftierung wegen Nähe zur Gülen-Bewegung aber nicht glaubhaft ist (vgl. oben), kommt eine diskriminierende Strafverfolgung, gar die behauptete hohe Haftstrafe, zur Überzeugung des Gerichts unter Würdigung des klägerischen Gesamtvorbringens und der Erkenntnislage nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Betracht.
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht aus den soeben angeführten Gründen ebenfalls nicht.
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 26 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
b) Der Kläger hat eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Türkei unterliegt als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention dem Folterverbot ebenso wie den Mindeststandards für die Ausgestaltung von Haftbedingungen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte näher beschrieben worden sind (EGMR, U.v. 20.10.2016 – 7334/13 – juris; unter Bezugnahme hierauf BVerwG, B.v. 9.11.2017 – 1 VR 9.17 – InfAuslR 2018, 88 f.): Danach stellt die Unterbringung eines Häftlings in einer überbelegten Gefängniszelle, in der dem Häftling lediglich ein Platz von 3 m² bis 4 m² zur Verfügung steht, eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der räumliche Faktor mit anderen Aspekten ungeeigneter physischer Haftbedingungen verbunden ist, die insbesondere den Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht, Verfügbarkeit von Belüftung, Angemessenheit der Raumtemperatur, Möglichkeit zur privaten Toilettenbenützung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Erfordernisse betreffen.
aa) Eine beachtliche Gefahr von Folter besteht nicht.
Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln besteht in der Türkei derzeit zwar eine abstrakte Gefahr von Misshandlungen in staatlichem Gewahrsam, eine systematische Folter aber findet nicht statt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 25; vgl. oben zu § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht, nicht aber für inhaftierte IS-Verdächtige (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018).
In der Person des Klägers liegt nach seinem Vorbringen kein ein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor (dazu oben), weil er von türkischer Seite aus weder glaubhaft der Gülen-Bewegung noch der PKK (mit weiteren kurdischen Organisationen) zugerechnet wird. Dass er zuvor unter Meldeauflagen auf freiem Fuß war, spricht ebenso wie die zweimalige unbehelligte Ausreise auf dem Luftweg gegen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Zurechnung.
bb) Es besteht auch keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen.
In der Türkei kommt es verstärkt zu willkürlichen kurzfristigen Festnahmen auch im Rahmen von – mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden – Demonstrationen oder Trauerzügen. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt (vgl. Lagebericht ebenda S. 26).
Die Haftbedingungen in der Türkei sind insgesamt schwierig. In der Türkei gibt es zurzeit 386 Gefängnisse, darunter 17 sog. F-Typ-Gefängnisse für wegen Terror oder organisiertem Verbrechen verurteilte Häftlinge. In den vergangenen Jahren wurden insgesamt 207 Haftanstalten geschlossen und 151 neue Gefängnisse eröffnet. Die türkischen Gefängnisse waren in den letzten Jahren regelmäßig überfüllt; die Kapazität der Haftanstalten wurde auf 209.122 Personen bei 228.993 tatsächlich Inhaftierten erhöht; unter den Inhaftierten befanden sich über 88.000 Untersuchungshäftlinge. Mittlerweile seien seit Inkrafttreten des Dekrets Nr. 671 am 17. August 2016 insgesamt 44.800 Häftlinge aus der Strafhaft entlassen worden, darunter Strafhäftlinge, die sich ununterbrochen seit sechs Monaten in einer offenen Haftanstalt befinden oder in einer Jugendhaftanstalt ein Fünftel der Haftstrafe verbüßt haben sowie Strafhäftlinge nach hälftiger Verbüßung ihrer zeitlich begrenzten Haftstrafe, sofern die Straftaten vor dem Stichtag 1. Juli 2016 begangen wurden. Wegen Terrordelikten und Kapitaldelikten wie vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung oder sexuellen Missbrauchs Verurteilte waren hiervon ausgenommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 24). Die Grundausstattung der türkischen Gefängnisse wurde vom Ausschuss des Europarats für die Verhütung der Folter (CPT) im Jahr 2011 als im Großen und Ganzen adäquat eingestuft, wenngleich die Haftbedingungen aufgrund der Überbelegung der Haftanstalten dennoch schwierig seien. Das UN-Komitee gegen Folter (CAT) bemängelte einen Mangel an Gefängnispersonal und medizinischem Personal. Berichte über mangelnden Zugang zur medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen seien demzufolge besorgniserregend (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; dazu auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 57 f.).
Vorliegend besteht für den Kläger aus den o.g. Gründen keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Der erwachsene und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 29 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2016 1.510 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 217.771 Betten, davon ca. 58% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 27). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2011 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch S. 30 f.).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. In letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor.
Die vorgelegten Atteste sprechen für einen Behandlungsbedarf, aber nicht für eine lebensbedrohliche oder vergleichbar schwerwiegende Erkrankung mit der Gefahr einer Verschlechterung; im Gegenteil erhielt der Kläger nach eigenen Angaben bzw. den Attesten 1999 eine sechsmonatige stationäre psychiatrische Behandlung sowie von 2002 bis 2015 eine Trauma-Therapie in der Türkei (Dr., Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde, Attest vom 17.12.2018, VG-Akte Bl. 114 f.). Seine diagnostizierten Erkrankungen sind daher in der Türkei behandelbar und über die Grundversorgung dort abgedeckt; eine akute lebensbedrohliche Verschlechterung seiner Gesundheit ist nicht zu befürchten.
5. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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