Verwaltungsrecht

Keine Verpflichtung zur Prüfung der Freizügigkeitsvoraussetzungen im Unterhaltsvorschussverfahren

Aktenzeichen  12 CE 20.985

Datum:
14.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
FamRZ – 2020, 1512
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 2 Abs. 2, 5 Abs. 4
AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4
UVG § 1 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Eine materielle Prüfung von Freizügigkeitstatbeständen nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU bzw. des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4, § 2 Abs. 7 oder § 6 FreizügG/EU durch das Jugendamt im Rahmen der Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen scheidet grundsätzlich aus.  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Sozialleistungsträger ist an die generelle unionsrechtliche Freizügigkeitsvermutung nicht nur für den Dreimonatszeitraum nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU, sondern auch darüber hinaus solange gebunden, bis die zuständige Ausländerbehörde eine Nichtbestehens- oder Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU getroffen hat (VG Göttingen BeckRS 2017, 137747). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. „Ausländer“ iSv § 1 Abs. 1 AsylbLG können gemessen an der Zielsetzung der Regelung und der Normhistorie nur Drittstaatsangehörige sein, nicht aber Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, deren Aufenthaltsrecht allein europarechtlich geprägt ist (LSG NRW BeckRS 2019, 12179). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 4 E 20.446 2020-04-07 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 7. April 2020, Az. RO 4 E 20.446, wird in Ziffer 2. und 3. aufgehoben.
II. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Regensburg im Verfahren RO 4 K 20.447, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten, Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Antragstellerin verfolgt mit ihrer Beschwerde gegen Ziffer 2. und 3. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regenburg vom 7. April 2020 ihren Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung weiter.
I.
1. Sie wurde am … 2012 als Tochter einer nigerianischen Mutter und eines französischen Vaters in Bordeaux, Frankreich, geboren und besitzt die französische Staatsangehörigkeit. Zusammen mit ihrer Mutter reiste sie im Dezember 2018 ins Bundesgebiet ein. Der genaue Aufenthalt ihres französischen Vaters ist unbekannt; Unterhaltsleistungen hat er bislang nicht erbracht. Anfang 2019 stellte die Mutter der Antragstellerin für sich und ihre Tochter einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. Mai 2019 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. In der Folge erteilte die Zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung der Oberpfalz der Antragstellerin fortlaufend und zuletzt bis Ende Mai 2020 befristete Duldungen. Aktuell lebt die Antragstellerin mit ihrer Mutter in einer Asylbewerberunterkunft in P. und bezieht seit dem 1. Januar 2020 infolge von Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG Sachleistungen bzw. Wertgutscheine nach dem Asybewerberleistungsgesetz. Sie besucht die 1. Klasse der Grundschule in P.. Die Zentrale Ausländerbehörde hat sie zur beabsichtigen Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU angehört und den Erlass eines entsprechenden Bescheids angekündigt, der jedoch bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren noch nicht ergangen ist.
2. Den am 9. Januar 2020 gestellten Antrag der Antragstellerin auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 12. März 2020 mit der Begründung ab, dass sie und ihre Mutter lediglich Duldungen besäßen und sich noch keine drei Jahre in Deutschland aufhielten.
3. Hiergegen ließ die Antragstellerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben (Az.: RO 4 K 20.447) und zugleich beantragen, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr bis zur Entscheidung im Klageverfahren, längstens jedoch für sechs Monate, Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz in gesetzlicher Höhe zu erbringen. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 7. April 2020 ab. Die Antragstellerin habe weder das Bestehen eines Anordnungsanspruchs noch das Vorliegen eines Anordnungsgrunds glaubhaft gemacht.
3.1 Sie besitze zunächst keinen materiellen Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, da sie nicht zu den nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern zähle. Insbesondere seien die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU nicht erfüllt, da hiervon Schüler nicht umfasst würden.
3.2 Ferner habe sie auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Soweit ihr Bevollmächtigter darauf verweise, dass Barmittel benötigt würden, um es ihrer Mutter zu ermöglichen, Kontakt zur Bundesagentur für Arbeit oder sonstigen Arbeitsvermittlern aufzunehmen und eine Wohnung zu suchen, ergebe sich daraus gerade nicht, dass ihr Unterhalt, dem die Leistungen nach dem UVG dienten, aktuell nicht gesichert wäre. Vielmehr bezögen sowohl die Antragstellerin wie auch ihre Mutter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, was ihren Lebensunterhalt sicherstelle. Mithin fehle es an der Eilbedürftigkeit für die Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen.
4. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs weiterhin auf ihr bestehendes Freizügigkeitsrecht hinweist. Ferner erweise sich die Gewähr von Unterhaltsvorschussleistungen auch als eilbedürftig, da ihr Lebensunterhalt durch die teilweise nur in Form von Gutscheinen ausgekehrten, zudem unberechtigt gewährten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht ausreichend gedeckt sei. Insbesondere werde der Lebensunterhalt nicht dadurch sichergestellt, dass die Antragstellerin als Unionsbürgerin in einer Asylunterkunft „geduldet“ werde. Schließlich könne der Umstand, dass sie Sozialleistungen – nämlich Leistungen nach dem UVG und Kindergeld -, die keine Sozialhilfeleistungen darstellten, unter Bezugnahme auf ihr angeblich fehlendes Freizügigkeitsrecht nicht erhalte und sie daher in der „Asylschublade“ feststecke, zur Einleitung von Abschiebemaßnahmen führen. Demgegenüber verteidigt der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 14. Mai 2020 den angefochtenen Beschluss.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten, insbesondere die elektronische Ausländerakte der ZAB der Regierung der Oberpfalz, verwiesen.
II.
Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg, da ihr für die im Wege der einstweiligen Anordnung begehrten Unterhaltsvorschussleistungen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Antragsgegners sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund zukommt.
1. Die Antragstellerin besitzt einen Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen nach § 1 Abs. 1 UVG, da sie das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UVG), bei einem ledigen Elternteil, nämlich ihrer Mutter, im Geltungsbereich des Unterhaltsvorschussgesetzes lebt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG) und der andere Elternteil – ihr französischer Vater – für sie keinen Unterhalt leistet (§ 1 Abs. 1 Nr. 3a UVG).
1.1 Die zusätzliche Leistungsvoraussetzung des § 1 Abs. 2a UVG, nämlich das Vorliegen bestimmter langfristiger Aufenthaltstitel auf Seiten des ausländischen Elternteils, bei dem das berechtigte Kind lebt, muss die Antragstellerin vorliegend nicht erfüllen, da es sich bei ihr entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts und des Antragsgegners um eine „freizügigkeitsberechtigte“ Ausländerin handelt. Mit der Regelung des § 1 Abs. 2a UVG stellt der Gesetzgeber wie bei anderen (kindbezogenen) Sozialleistungen (vgl. § 1 Abs. 3 Bundeskindergeldgesetz – BKGG, § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz – EStG, § 1 Abs. 7 Bundeselterngeld- und Erziehungszeitgesetz – BEEG) freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Inländern gleich.
1.1.1 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kommt es im vorliegenden Fall für die Annahme der „Freizügigkeitsberechtigung“ im Sinne des Unterhaltsvorschussrechts nicht darauf an, dass die Antragstellerin einen bestimmten Freizügigkeitstatbestand nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllt bzw. dem Antragsgegner gegenüber nachweist, solange seitens der zuständigen Ausländerbehörde, im vorliegenden Fall der ZAB der Regierung der Oberpfalz, das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht bestandskräftig festgestellt worden ist.
Bei der Antragstellerin handelt es sich nachgewiesenermaßen um eine französische Staatsangehörige, mithin um eine Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union. Ihr kommt nach Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein allein in der Unionsbürgerschaft wurzelndes, von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht zu. Vorbehaltlich der im AEUV und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen hat danach jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich dabei um ein unmittelbar anwendbares, subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht. Für ihn gilt daher eine sog. Freizügigkeitsvermutung (vgl. hierzu Kurzidem in BeckOK AuslR, Stand 1.3.2020, § 5 FreizügG/EU Rn. 1). Allgemeines, für Drittstaatsangehörige geltendes Ausländerrecht kommt nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU auf Unionsbürger erst dann zur Anwendung, wenn die zuständige Ausländerbehörde den Verlust oder das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts durch Verwaltungsakt explizit festgestellt hat. Auch löst erst die Nichtbestehensfeststellung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Ausreisepflicht des Unionsbürgers aus. Auf den Umstand, dass die Antragstellerin als Schülerin den Freizügigkeitstatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU möglicherweise nicht erfüllt, kommt es daher für das Bestehen der Freizügigkeitsvermutung nicht entscheidungserheblich an.
Die Feststellung des Nichtbestehens bzw. des Verlustes des Freizügigkeitsrechts, ungeachtet, ob sie auf der Grundlage von § 2 Abs. 7, § 5 Abs. 4 oder § 6 FreizügG/EU erfolgt, obliegt dabei ausschließlich der Ausländerbehörde. Gründet sie sich auf § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, handelt es sich überdies um eine Ermessensentscheidung (vgl. Kurzidem in BeckOK-AuslR, Stand 1.3.2020, § 5 FreizügG/EU Rn. 16 ff.). Eine materielle Prüfung von Freizügigkeitstatbeständen nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU bzw. des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 5 Abs. 4, § 2 Abs. 7 oder § 6 FreizügG/EU durch das Jugendamt im Rahmen der Gewährung von Unterhaltsvorschussleistungen scheidet daher grundsätzlich aus. Der Sozialleistungsträger ist vielmehr an die generelle unionsrechtliche Freizügigkeitsvermutung nicht nur für den Dreimonatszeitraum nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU, sondern auch darüber hinaus solange gebunden, bis die zuständige Ausländerbehörde eine Nichtbestehens- oder Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU getroffen hat (vgl. für den Kindergeldanspruch BFH, U.v. 15.3.2017 – III R 32.15 – BeckRS 2017, 118178 Rn. 14 f.; B.v. 27.4.2015 – III B 127.14 – BeckRS 2015, 95234 Rn. 13 ff.; für den Anspruch auf Elterngeld LSG Baden-Württemberg, U.v. 19.4.2016 – L 11 EG 4629/14 – BeckRS 2016, 69181 Rn. 19 ff.; SG Berlin, U.v. 7.3.2018 – S 2 EG 57/15 – juris Rn. 22 ff.; für den Anspruch auf Unterhaltsvorschuss VG Göttingen, B.v. 15.12.2017 – 2 B 961/17 – BeckRS 2017, 137747, Rn. 16 ff.).
Im vorliegenden Verfahren fehlt es bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats an der bestandskräftigen Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit der Antragstellerin durch die zuständige Ausländerbehörde. Zwar hat die Zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung der Oberpfalz die Antragstellerin zu einer in Aussicht genommenen Nichtbestehensfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU angehört, einen entsprechenden Bescheid trotz Ankündigung jedoch bislang nicht erlassen. Demzufolge ist die Antragstellerin, jedenfalls soweit es die Bewilligung von Unterhaltsvorschussleistungen anbetrifft, weiterhin als freizügigkeitsberechtigt anzusehen, sodass § 1 Abs. 2a UVG auf sie keine Anwendung findet.
1.1.2 Ohne dass es hierauf maßgeblich ankäme, merkt der Senat ergänzend an, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts wie auch des Antragsgegners die Antragstellerin auch materiell freizügigkeitsberechtigt sein könnte. Zwar ergibt sich eine Freizügigkeitsberechtigung offenkundig nicht aus dem Freizügigkeitstatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, den das Verwaltungsgericht ausschließlich geprüft hat. Weitaus näher läge es, auf § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU abzustellen. Denn möglicherweise verfügt die Antragstellerin als französische Staatsangehörige über ihren Vater (noch) über Krankenversicherungsschutz sowie angesichts des Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen (in Verbindung mit einem Kindergeldanspruch) auch über ausreichende Existenzmittel. Zwar rechnen beitragsunabhängige Sozialleistungen, wie insbesondere Sozialhilfeleistungen, grundsätzlich nicht zu den für die Beurteilung der Existenzsicherung heranzuziehenden Mitteln (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 4.2.2020 – 10 ZB 19.155 – BeckRS 2020, 2728 Rn. 6 ff.). Ob jedoch auch Unterhaltsvorschussleistungen, die bewusst als „Vorschuss“ an die Stelle der Unterhaltszahlung eines Elternteils treten, gleichfalls im Rahmen des § 4 Satz 1 FreizügG/EU unberücksichtigt bleiben, muss zumindest als offen angesehen werden.
1.2 Die Freizügigkeitsberechtigung der Antragstellerin wird weiterhin auch durch die von ihrer Mutter für sie vorgenommene Asylantragstellung nicht aufgehoben. Zwar sieht § 55 Abs. 2 AsylG vor, dass mit der Asylantragstellung eine Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels, ein Aufenthaltstitel mit einer Geltungsdauer von bis zu sechs Monaten sowie die in § 81 Abs. 3, 4 AufenthG bezeichneten (Fiktions-) Wirkungen eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erlöschen. Die genannte Bestimmung ist jedoch im vorliegenden Fall nicht einschlägig, weil die Antragstellerin als Unionsbürgerin für den Aufenthalt in der Bundesrepublik keines Aufenthaltstitels bedarf, das Freizügigkeitsrecht vielmehr – wie bereits dargelegt – unmittelbar in der Unionsbürgerschaft wurzelt. Demzufolge kann die Stellung eines Asylantrags aufgrund einer nationalen asylrechtlichen Regelung die unionsrechtlich begründete Freizügigkeitsberechtigung der Antragstellerin nicht zum Erlöschen bringen. Der Antragstellerin steht daher ein Anspruch nach § 1 UVG auch ungeachtet der Asylantragstellung zu. Für die beantragte einstweilige Anordnung besitzt sie daher den erforderlichen Anordnungsanspruch.
2. Der Antragstellerin kommt ferner unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie mit der angestrebten Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Gewährung finanzieller Leistungen und damit die (vorläufige) Befriedigung ihres Leistungsanspruchs begehrt (sog Leistungsanordnung), was eine jedenfalls teilweise Vorwegnahme der Hauptsache beinhaltet, ein Anordnungsgrund zu.
2.1 Zwar dient die Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO im Grundsatz lediglich der Sicherung, nicht hingegen der Befriedigung von (glaubhaft gemachten) Rechten. Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung trotz der damit verbundenen Erfüllungswirkung jedoch dann geboten, wenn andernfalls eintretende Nachteile für den Antragsteller schlechterdings unzumutbar wären und ein hoher Grad für den Erfolg im Hauptsacheverfahren spricht (vgl. für das Unterhaltsvorschussrecht VG Düsseldorf, B.v. 24.10.2014 – 21 L 2173/14 – BeckRS 2015, 45539; allgemein zur Vorwegnahme der Hauptsache Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66a ff.).
2.2 Wie vorstehend unter 1. dargelegt, steht der Antragstellerin der geltend gemachte Unterhaltsvorschuss jedenfalls bis zu einer bestandskräftigen Feststellung des Nichtbestehens ihres Freizügigkeitsrechts zu, sodass aktuell von ihrem Obsiegen im Hauptsacheverfahren auszugehen ist. Zugleich drohen ihr für den Fall der Nichtleistung von Unterhaltsvorschuss entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts schlechterdings unzumutbare Nachteile.
2.2.1 Denn soweit das Verwaltungsgericht wie auch der Antragsgegner darauf abstellen, dass der Unterhalt der Antragstellerin durch den Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sichergestellt ist, übersehen sie, dass die Antragstellerin und ihre Mutter infolge von Leistungskürzungen nach § 1a Abs. 2, Abs. 1 AsylbLG ab dem 1. Januar 2020 lediglich abgesenkte Leistungen beziehen in der Form, dass ihnen Unterkunft und Heizung als Sachleistung gewährt werden, sie im Übrigen Leistungen für Ernährung, alkoholfreie Getränke, Körper- und Gesundheitspflege lediglich in Form von Wertgutscheinen erhalten. Insbesondere entfallen für die Antragstellerin daher Leistungen nach § 3 Abs. 4 AsylbLG für Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Folglich stellen die abgesenkten Leistungen wohl das absolute Existenzminimum der Antragstellerin sicher, decken hingegen den der Entwicklung eines siebenjährigen Schulkinds angemessenen Unterhalt nicht ab (vgl. VG Freiburg, B.v. 6.4.2020 – 4 K 345/20 – BeckRS 2020,5691 Rn. 39).
2.2.2 Hinzu kommt, dass die Antragstellerin als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin nicht zu den Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1, Abs. 2 AsylbLG zählt, das Asylbewerberleistungsgesetz daher auf sie keine Anwendung findet. Zwar erscheint sie als Inhaberin einer Duldung nach § 60a AufenthG zunächst über § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG leistungsberechtigt, ungeachtet, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung in ihrer Person vorliegen. Jedoch können „Ausländer“ i.S.v. § 1 Abs. 1 AsylbLG gemessen an der Zielsetzung der Regelung und der Normhistorie nur Drittstaatsangehörige sein, nicht aber Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, deren Aufenthaltsrecht allein europarechtlich geprägt ist (so ausdrücklich LSG Nordrhein-Westfalen, B.v. 30.5.2019 – L 20 AY 15/19 B ER – BeckRS 2019, 12179; vgl. ferner Adolph in Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, Stand 11/2019, § 1 AsylbLG Rn. 92). Mithin besitzt die Antragstellerin als Unionsbürgerin keinen Anspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, mögen ihr auch durch die Sachbehandlung als Asylfall irrtümlich, wie ihr Bevollmächtigter geltend macht, entsprechende Leistungen bewilligt worden sein. Mangels eines gesetzlichen Anspruchs ist daher für die Zukunft nicht von einer Sicherung des Existenzminimums durch Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auszugehen. Anderweitige, der Antragstellerin möglicherweise nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zustehende Leistungen sind ihr bislang nicht bewilligt worden. Ihr droht demzufolge aktuell durch die Nichtleistung von Unterhaltsvorschuss ein schlechterdings unzumutbarer Nachteil.
2.2.3 Schließlich hat die Antragstellerin den Leistungsumfang der begehrten einstweiligen Anordnung auch dergestalt befristet – Unterhaltsvorschuss lediglich für die kommenden sechs Monate, längstens bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache -, dass der grundsätzlichen Unzulässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache und dem vorläufigen Regelungscharakter der einstweiligen Anordnung hinreichend Rechnung getragen ist (vgl. VG Freiburg, B.v. 6.4.2020 – 4 K 345/20 – BeckRS 2020, 5691 Rn. 41).
Mithin war dem Begehren der Antragstellerin zu entsprechen und ihr unter Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses für die nächsten sechs Monate Unterhaltsvorschuss in gesetzlicher Höhe zuzusprechen.
3. Der Antragsgegner trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden in Unterhaltsvorschussangelegenheiten nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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