Verwaltungsrecht

Länge der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts

Aktenzeichen  10 ZB 14.2448

Datum:
21.4.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 45988
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU §§ 2 I, 6 III, 7 II
VwGO §§ 124 II Nr. 1, 124a IV

 

Leitsatz

1 Die  Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 II 5, 6 FreizügG/EU richtet sich nach der aktuellen Prognose der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Befristungsentscheidung ist daher der der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz bzw. derjenige der Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Das Darlegungserfordernis des § 124a IV 4 VwGO erfordert die Berücksichtigung von nach dem Erlass des angefochtenen Urteils eingetretenen Änderungen der für die Befristungsentscheidung maßgeblichen Umstände im Berufungszulassungsverfahren nur in dem durch die Darlegungen des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen.  (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Bei der am 9. Dezember 2014 in Kraft getretenen Neufassung des § 7 II FreizügG/EU, die einen Rechtsanspruch auf Befristung bereits von Amts wegen mit dem Erlass der Verlustfeststellung vorsieht und die die Bemessung der Frist an die Umstände des Einzelfalls knüpft, handelt es sich nach der gesetzgeberischen Intention nur um eine Klarstellung, die an der zuvor geltenden Rechtslage nichts ändert. (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Allein der Hinweis auf eine inzwischen bewältigte Alkohol-, Drogen- und Gewaltproblematik vermag die Annahme einer fortbestehenden Gefährdung der Allgemeinheit durch den Betroffenen bei der Bemessung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht zu widerlegen. (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

Au 1 K 14.364 2014-09-30 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, die Wirkungen der (rechtskräftigen) Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (§ 6 Abs. 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU) auf zwei Jahre anstelle der mit Bescheid vom 28. Januar 2014 festgesetzten vier Jahre zu befristen. Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. September 2014, mit dem unter Klageabweisung im Übrigen die Sperrfrist auf drei Jahre festgesetzt wurde, macht der Kläger den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung; der allein geltend gemachte Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung liegt nicht vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ernstliche Zweifel bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Dies ist nicht der Fall.
Zur Begründung verweist der Kläger auf seinen bereits erstinstanzlich gemachten Vortrag, er habe im Rahmen einer Auflage erfolgreich eine Alkohol- und Drogengesprächstherapie abgeschlossen. Eine weitergehende Therapie sei von der Leiterin für nicht erforderlich erachtet worden. Auch eine weisungsgemäß durchgeführte Urinkontrolle habe seine Abstinenz bewiesen. Der Kläger habe seine Alkohol-, Drogen- und Gewaltproblematik überwunden, so dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, er habe sich seinem Fehlverhalten bisher nicht gestellt und könne die erforderliche Therapie in Polen durchführen, unrichtig sei. Damit seien die generalpräventiven Erwägungen, die dem angefochtenen Urteil zugrunde lägen, unzutreffend. Darüber hinaus bedürfe die arbeitsunfähige Ehefrau des Klägers krankheitsbedingt seiner Unterstützung, was das Verwaltungsgericht unberücksichtigt gelassen habe, obwohl sie als Zeugin in der mündlichen Verhandlung auf ihre gesundheitliche Situation hingewiesen habe. Der Kläger bietet entsprechende Beweisführung durch nachzureichende Unterlagen an, soweit dies vom Senat für erforderlich gehalten werde.
Dieses Vorbringen ruft keine ernstlichen Zweifel an der Entscheidung des Erstgerichts hervor, der Kläger habe keinen Anspruch auf Festsetzung einer Sperrfrist von weniger als drei Jahren. Die Zulassungsbegründung zeigt nicht auf, warum das aus der Verlustfeststellung resultierende Einreise- und Aufenthaltsverbot auf (nur) zwei Jahre befristet werden müsste.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die rechtliche und tatsächliche Beurteilung des Zulassungsantrags ist derjenige der Entscheidung des Senats, denn nach materiellem Recht ist für die Bestimmung der Fristlänge die aktuelle Prognose der vom Ausländer ausgehenden Gefahren maßgeblich; dabei sind nach Erlass des angefochtenen Urteils eingetretene Änderungen allerdings nur in dem durch die Darlegungen des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen, um nicht das Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO zu unterlaufen (zum Ganzen: Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 92 – 97). Danach kommt als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf eine bestimmte Länge der Befristung § 7 Abs. 2 Satz 5, 6 FreizügG/EU in seiner – während des Zulassungsverfahrens am 9. Dezember 2014 in Kraft getretenen – aktuellen Fassung in Betracht. Diese Vorschrift vermittelt einen Rechtsanspruch auf Befristung von Amts wegen bereits mit Erlass der Verlustfeststellung, wobei die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten darf. Das Verwaltungsgericht hatte im angefochtenen Urteil die Länge der Frist noch nach § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU in der bis 8. Dezember 2014 geltenden Fassung zu beurteilen, der sich auf die Aussage beschränkt hat, dass das Verbot der Einreise und des Aufenthalts auf Antrag befristet wird.
Allerdings hat sich durch diese Änderung der materiellrechtliche Prüfungsmaßstab gegenüber der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Rechtslage nicht geändert (BVerwG, U. v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – NVwZ 2015, 1210 [23]), denn bei dem Gebot der Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls handelt es sich nach der gesetzgeberischen Intention nur um eine Klarstellung (BT-Drs. 18/2581 S. 17 zu Nr. 5 Buchst. c). Die neu eingeführte Höchstfrist von fünf Jahren spielt im vorliegenden Fall keine Rolle. Das Verwaltungsgericht hat trotz des auf die frühere Rechtslage und die dazu ergangene Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U. v. 4.9.2007 – 1 C 21.07 – juris) bezogenen Hinweises im Urteil (UA, S. 5), über die Länge der Frist sei „im Ermessen zu entscheiden“, die von der Beklagten verfügte vierjährige Frist einer vollen gerichtlichen Überprüfung unterzogen (vgl. hierzu: BVerwG, U. v. 25.3.2015, a. a. O. [29], nach dem die Rechtsprechung zu § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG [BVerwG, U. v. 14.2.2012 – 1 C 7.11 – BVerwGE 142, 29] auf die Fristbemessung der Einreisesperre nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU zu übertragen ist) und als deren Ergebnis die Sperrfrist eigenständig – ausgehend von der voraussichtlichen Dauer der vom Kläger weiter ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit – auf drei Jahre herabgesetzt. Damit hat das Verwaltungsgericht den aktuell geltenden rechtlichen Anforderungen entsprochen.
Das Vorbringen des Klägers, auch eine Frist von drei Jahren sei noch zu lang und müsse auf zwei Jahre ermäßigt werden, rechtfertigt nicht die behaupteten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils. So ist der nicht weiter belegte Hinweis des Klägers auf die inzwischen erfolgte Bewältigung seiner Alkohol- und Drogenprobleme in dieser Allgemeinheit schon nicht geeignet, die Feststellung im angefochtenen Urteil zu widerlegen, der Kläger habe sich weder in der Haft noch nach seiner Entlassung einer therapeutischen Behandlung unterzogen, vielmehr nur während seiner Inhaftierung an einem Sozialkompetenz- und an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen. Diese Feststellung entspricht im Übrigen auch der Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 30. September 2014 (vgl. Sitzungsprotokoll, S. 3). Das (negative) Ergebnis einer einmaligen Urinkontrolle zur Überprüfung eines Alkohol- oder Drogenkonsums des Klägers ermöglicht keine Aussage über einen längeren Zeitraum. Auch die bloße Behauptung, der Kläger habe nunmehr die „Gewaltproblematik überwunden“, so dass eine entsprechende Therapie nicht erforderlich sei, vermag die Annahme des Verwaltungsgerichts von einer derzeit fortbestehenden Gefährdung der Allgemeinheit vor dem Hintergrund der zahlreiche verschiedene Rechtsgüter beeinträchtigenden Straftaten des Klägers nicht zu erschüttern. Im Übrigen hat das Erstgericht die pauschal beanstandeten, gegenüber Unionsbürgern unzulässigen generalpräventiven Erwägungen nicht angestellt.
Soweit die Zulassungsbegründung zu dem Thema Alkohol und Drogen eine „entsprechende Bestätigung, die nachgereicht wird“, nur angekündigt hat, ist damit schon nicht dem Darlegungserfordernis des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprochen worden. Das Angebot einer „Parteieinvernahme“ des Klägers geht bereits angesichts des im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung zu entscheidenden Zulassungsverfahrens ins Leere.
Schließlich führt auch der Vortrag, die Ehefrau sei wegen ihrer Erkrankung, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe, auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen, nicht zur Zulassung der Berufung. Die als Zeugin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vernommene Ehefrau hat – ausweislich des Sitzungsprotokolls – nicht ausgesagt, sie sei krankheitsbedingt auf Unterstützungsleistungen durch ihren Ehemann angewiesen; vielmehr hat sie sogar angegeben, „nach ein paar Tagen…immer etwas Distanz“ zum Kläger zu benötigen. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht auch die Tatsache einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft zum Anlass genommen, die Sperrfrist auf drei Jahre herabzusetzen. Im Ergebnis hat das Verwaltungsgericht damit alle in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Klägers als Unionsbürger in den Blick genommen und ist zu einem nicht zu beanstandenden Ergebnis gelangt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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