Verwaltungsrecht

Leistungspflicht des Rehabilitationsträgers für Hilfemaßnahmen

Aktenzeichen  AN 6 K 15.01197

Datum:
20.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 136725
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 34, § 35a, § 36a Abs. 3, S. 1 Nr. 1- 3, § 41
SGB IX § 14, § 15
SGB X  § 111, § 113

 

Leitsatz

1. Die Erstattungspflicht des § 14 Abs. 4 SGB IX greift auch in dem Fall des wegen Untätigkeit gerichtlich verurteilten zweitangegangenen Rehabilitationsträgers.
2. Bei Untätigkeit des Jugendhilfeträgers kann die Hilfebedürftige den sonst dem Jugendamt zustehenden Einschätzungsspielraum hinsichtlich Art und Umfang der Hilfemaßnahme und hinsichtlich Notwendigkeit und Geeignetheit der Maßnahme nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für sich beanspruchen. Das Verwaltungsgericht überprüft in diesen Fällen nur den Bedarf und beschränkt sich hinsichtlich der Notwendigkeit und Geeignetheit der Maßnahme auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der exante- Betrachtung der Leistungsberechtigten.

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Aufwendungen, die in der Jugendhilfeangelegenheit … geb. …1990, im Zeitraum vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013 in Höhe von 94.213,23 EUR angefallen sind, sowie Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von 5% über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.
2. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung über die Klage vom 24. Juli 2015 entscheiden.
Die zulässige Leistungsklage führt zum Erfolg, der Beklagte hat gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX die Kosten der selbst beschafften Hilfe für …, geb. am … 1990, im Zeitraum vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013, zu deren Tragung der Kläger mit Urteil des Verwaltungsgerichts … vom 22. Oktober 2014 verurteilt wurde, einschließlich der Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten. § 14 SGB IX geht den speziellen Regelungen über die fortdauernde oder vorläufige Leistungspflicht nach §§ 86 bis 86 d SGB VIII als eine für die Rehabilitationsträger abschließende Spezialregelung vor. Dies gilt auch hinsichtlich der allgemeinen Regelungen zur vorläufigen Zuständigkeit oder Leistungserbringung im SGB I (§ 43 Abs. 1 SGB I) und in den Leistungsgesetzen der Rehabilitationsträger (vgl. dazu: BT-Drs. 14/5074, Seite 95 ff., 102; Urteil des Bundessozialgerichts vom 26.10.2004 – B 7 AL 16/04 R -; Beschluss des OVG Nordrhein Westfalen vom 31.7.2008 – 12 B 852/08 -).
Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung soll § 14 SGB IX dem Bedürfnis Rechnung tragen, im Interesse Behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Sozialrechtssystems entgegenzuwirken. Streitigkeiten über die Zuständigkeit einschließlich der Pflicht zur Erbringung vorläufiger Leistungen bei ungeklärter Zuständigkeit oder bei Eilbedürftigkeit der Maßnahmen sollen nicht mehr zu Lasten der behinderten Menschen bzw. der Schnelligkeit und der Qualität der Leistungen gehen; durch eine rasche Klärung der Zuständigkeit soll das Verwaltungsverfahren deutlich vereinfacht werden, damit die Berechtigten die erforderlichen Leistungen so schnell wie möglich erhalten. Dies liegt im Interesse der Leistungsberechtigten, aber auch der Rehabilitationsträger. Die Vorschrift nimmt es insoweit in Kauf, dass eine endgültige Klärung der Zuständigkeit mit entsprechendem Kostenausgleich zwischen den Rehabilitationsträgern erst nach der Leistungsbewilligung durch vorläufig zuständige Rehabilitationsträger erfolgt (§ 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX).
Im vorliegenden Fall wurde der am 5. Juli 2010 beim Landkreis … (Beigeladener) eingegangene Leistungsantrag vom 2. Juli 2010 an den Kläger weitergeleitet und ging dort innerhalb der Zwei-Wochenfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX am 9. Juli 2010 ein. Der Kläger war damit an die Feststellung des erstangegangenen Trägers über die Zuständigkeit gebunden, konnte den Antrag nicht erneut weiterleiten und hatte den geltend gemachten Bedarf ungeachtet seiner tatsächlichen Zuständigkeit unverzüglich festzustellen und über den Antrag nach den Vorschriften des SGB VIII zu entscheiden. Dies hat der Kläger unterlassen, weshalb er mit Urteil des Verwaltungsgerichts … vom 22. Oktober 2014 (5 K 918/12.KS) verurteilt wurde, den Betrag in Höhe von 94.213,23 EUR an die Hilfebedürftige zu zahlen.
Unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Zwecks der Vorschrift des § 14 SGB IX und der Entscheidung des Gesetzgebers, dass nicht der zweitangegangene Rehabilitationsträger auf Dauer die Kosten der von ihm verlangten Maßnahme zu tragen hat, sondern der jeweils zuständige Rehabilitationsträger, muss auch für den Fall, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger seiner Pflicht zur Entscheidung und Leistungserbringung nicht freiwillig nachgekommen ist, sondern erst durch ein Gerichtsurteil dazu angehalten werden musste, die Erstattungspflicht des zuständigen Leistungsträgers nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX gelten. Eine Sanktionierung des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers für den Fall, dass er seine Leistungspflicht nach § 14 Abs. 2 SGB IX nicht erfüllt, wäre zwar zur Vermeidung unberechtigter Leistungsverweigerung und Untätigkeit vorstellbar, jedoch würde ein solche Sanktion eine erhebliche Rechtsbeeinträchtigung des zweitangegangenen Rehabilitationsträgers darstellen, die ausdrücklich im Gesetz geregelt sein müsste und die im Übrigen dem in § 14 Abs. 4 SGB IX zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Gedanken widersprechen würde, dass letztlich immer der zuständige Leistungsträger die Kosten zu tragen habe.
Zuständig für die Leistung nach §§ 41, 35 a, 34 SGB VIII war zweifelsohne der Beklagte. Dies ist im Verfahren nicht mehr streitig. Der Beklagte selbst hat im gerichtlichen Verfahren mit Schriftsatz vom 15. September 2015 zu erkennen gegeben, dass er örtlich zuständig gewesen wäre, da die Hilfebedürftige vor Hilfebeginn zumindestens ihren tatsächlichen Aufenthalt im Landkreis … hatte und wohl andernorts keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr begründet hat. Diese Auffassung stimmt mit der Beurteilung des Gerichts überein.
Die Hilfebedürftige war zum Zeitpunkt des Beginns des streitgegenständlichen Zeitraums am 5. Juli 2010 … Jahre alt, so dass Hilfe für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 SGB VIII bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen möglich gewesen ist. Eingliederungshilfe ist nach der gesetzlichen Konzeption noch bis zum 27. Lebensjahr möglich (§ 41 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII). Bei Personen, die bereits volljährig sind, wie es die Hilfebedürftige war, genügt es, dass die Hilfe erstmals zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr gewährt wurde oder hätte gewährt werden müssen; ein tatsächlicher Leistungsbeginn während der Minderjährigkeit ist nicht erforderlich (Urteil des VG Köln vom 28.6.2012 – 26 K 5569/11 -; Entscheidung des BayVGH vom 11.2.1994 – 12 CE 93/3053 -).
Allerdings handelt es sich hier bei den geltend gemachten Kosten um Kosten, die durch die Selbstbeschaffung der stationären Hilfe bei …e.V. durch die Hilfebedürftige selbst entstanden sind. Nach § 36 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB VIII ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für die vom Leistungsberechtigten selbst beschaffte Hilfe nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis setzt (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3 a). Im Verfahren wurde (vom Beklagten) in Zweifel gezogen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und ob eine Unaufschiebbarkeit des Hilfebedarfs gegeben war. Eine Entscheidung des … Verwaltungsgerichtshofs vom 17. Januar 2012, die den Beschluss des Verwaltungsgerichts … vom 28. Oktober 2011 (5 L 1225/11.KS) abgeändert hat, hat dies ebenfalls in Zweifel gezogen. Allerdings konnte diese Entscheidung ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2012 (5 C 21/11) aus zeitlichen Gründen noch nicht berücksichtigen. In dieser Entscheidung weist das Bundesverwaltungsgericht unmissverständlich darauf hin, dass in dem Fall, in dem ein Jugendamt nicht rechtzeitig oder nicht in einer den vorgenannten Anforderungen entsprechenden Weise über die begehrte Hilfeleistung entscheidet, der Hilfebedürftige den sonst nur der Behörde zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen kann. Grundsätzlich sei zwar zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Hilfemaßnahme um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten soll, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Dabei ist die verwaltungsgerichtliche Überprüfung darauf zu beschränken, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (vgl. dazu BVerwGE 109, 155, 167).
Für den der streitgegenständlichen Entscheidung zugrunde liegenden Fall, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger, hier der Kläger, über die begehrte Hilfeleistung nicht rechtzeitig entschieden hat, darf aber der Hilfebedürftige im Rahmen der Selbstbeschaffung des § 36 a Abs. 3 SGB VIII eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme treffen. Da nun dem Hilfebedürftigen die Entscheidung aufgebürdet worden ist, eine angemessene Lösung für seine Belastungssituation zu treffen, hat dies zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt zu prüfen haben, sich hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe aber auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der exante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung der Berechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr etwa im Nachhinein nicht mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet gehalten (vgl. dazu Urteil des BVerwG vom 18.10.2012, a.a.O. m.w.N.).
Die Hilfebedürftige hat ohne Zweifel mit ihrem Antrag auf Hilfen nach §§ 41, 35 a SGB VIII vom 2. Juli 2010 den Beigeladenen und den Kläger über ihre Hilfebedürftigkeit unterrichtet (§ 36 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII). Auch der Beklagte war spätestens am 16. August 2010 ebenfalls von der Hilfebedürftigkeit unterrichtet worden durch Weiterleitung des Antrages an das Kreisjugendamt … Maßgeblich ist hier jedoch nicht die Kenntnis des Beklagten, sondern die Kenntnis desjenigen Rehabilitationsträgers, bei dem der Antrag auf Hilfe eingebracht wurde. Mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts … auf Grund mündlicher Verhandlung vom 22. Oktober 2014 am 3. November 2014 ist auch die Kammer der Auffassung, dass die Leistungsvoraussetzungen für eine stationäre Eingliederungshilfe bei der Hilfebedürftigen vorlagen. So wurde eine seelische Beeinträchtigung in der Stellungnahme von Frau … vom 15. Januar 2010 und von Dr. … in seiner Stellungnahme vom 25. Juni 2010 angenommen. Auch die Einschätzungen des Jugendamtes des Kreises … vom 8. April 2011, die Begutachtung der Diplom-Psychologin … von der Agentur für Arbeit vom 13. April 2011 und die Einschätzung des Jugendamtes des Kreises … vom 22. Juni 2011 legen ganz deutlich eine massive Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit der Klägerin nahe. In einer ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. … vom 17. Januar 2011 wird deutlich, dass bei der Hilfebedürftigen ein diagnostizierbares Störungsbild/Erkrankung vorlag, die seelische Gesundheit auf Grund dieses Störungsbildes länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und deutliche soziale Beeinträchtigungen in mindestens einem oder zwei Bereichen bereits vorhanden sind. Der Facharzt vertrat daher die Auffassung, dass wegen der festgestellten psychischen Störung die Voraussetzungen zur Prüfung des Bedarfs einer Hilfe nach § 35 a SGB VIII oder § 53 ff. SGB XII durch das Jugendamt/Sozialamt gegeben seien.
Soweit im Verfahren darauf hingewiesen wurde, dass die Hilfebedürftige am Ende des streitgegenständlichen Zeitraums bereits das … Lebensjahr (am …2013) vollendet hat und § 41 die Hilfe für junge Volljährige in der Regel bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres begrenzt und nur in begründeten Einzelfällen für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden soll, ist darauf hinzuweisen, dass einerseits die Frage, ob ein begründeter Einzelfall bei der Hilfebedürftigen vorlag, grundsätzlich von dem zweitangegangenen Jugendhilfeträger hätte entschieden werden müssen. Da dies unterblieben ist, ist die Frage der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe, hier insbesondere über das 21. Lebensjahr hinaus, auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der exante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken. Dabei ist hier darauf hinzuweisen, dass offensichtlich die Hilfebedürftige selbst die Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe über das 21. Lebensjahr hinaus für erforderlich hielt und im Übrigen diese Beurteilung der Hilfebedürftigen bestätigt wird durch die Bewilligung von Eingliederungshilfe nach dem SGB XII durch den Landeswohlfahrtsverband …, der die vollstationäre Unterbringung der Hilfebedürftigen über den 30. September 2013 hinaus fortsetzte. Unter Berücksichtigung der Erforderlichkeit von stationären Maßnahmen auch über das 23. Lebensjahr hinaus (Entscheidung des Landeswohlfahrtsverbandes …) ist auch die Frage, ob eine vollstationäre Aufnahme notwendig gewesen ist oder ambulante Maßnahmen ausgereicht hätten, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Oktober 2012 (a.a.O.) zugunsten des Hilfebedürftigen, der sich eine solche Maßnahme selbst beschafft hat, zu entscheiden. Deutet doch zum einen die Fortführung der stationären Unterbringung auch über das 23. Lebensjahr hinaus durch den Landeswohlfahrtsverband … darauf hin, dass die Entscheidung des Hilfebedürftigen, sich eine vollstationäre Unterbringung zu verschaffen, fachlich vertretbar war. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass es vorrangige Aufgabe des Jugendamtes und nicht des Hilfesuchenden ist, innerhalb eines Hilfeplans, bei dem alle Beteiligten und Fachkräfte mitwirken, die Geeignetheit und Erforderlichkeit von Maßnahmen festzustellen. Unterlässt der Leistungsträger dies und ist der Hilfebedürftige gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung des § 36 a Abs. 3 SGB VIII eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen, ist eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der exante-Betrachtung des Hilfebedürftigen vorzunehmen und darauf zu beschränken. Ist die Entscheidung in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet gehalten. Bei dieser Beurteilung berücksichtigt das Gericht auch eine informatorische Anhörung durch das Verwaltungsgericht … am 16. Juli 2014. Hier hat die Hilfebedürftige ausgeführt, dass sie zum Ende ihres freiwilligen sozialen Jahres in … bei der Agentur für Arbeit um die Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes vorgesprochen habe und ihr dort empfohlen worden sei, eine Eingliederung in einer entsprechenden Therapieform zu betreiben, weshalb in der Folgezeit die Arbeitsplatzsuche beiderseits nicht weiterverfolgt worden sei. Ihre Bemühungen seien deswegen in Richtung einer therapeutischen Einrichtung gegangen, weil sie eine Stagnierung ihrer Ängste vermeiden wollte, sich selbst nicht als vermittelbar im ersten Arbeitsmarkt angesehen habe und befürchtet habe, andernfalls in einer Werkstatt für psychisch Behinderte zu landen. Hierzu habe sie sich eigenen Angaben zufolge auch bei weiteren Einrichtungen um Aufnahme beworben, bei denen aber keine freien Plätze gewesen seien, so dass es zu der schließlich gewählten Einrichtung … nach einem Probewohnen gekommen sei.
Eine solche Vorgehensweise der Hilfebedürftigen erscheint nachvollziehbar und fachlich vertretbar. Die positiven Ergebnisse ihres Aufenthalts bei … hinsichtlich Berufsausbildung, psychosozialer Stabilisierung und Erwerb eines Führerscheins deuten darauf hin, dass der von der Hilfebedürftigen eingeschlagene Weg nicht nur vertretbar, sondern richtig war. Dafür spricht nach der Auffassung des Gerichts ganz entschieden – wie bereits erwähnt – auch die Tatsache, dass der Landeswohlfahrtsverband … zu dem Ergebnis gekommen ist, die vollstationäre Unterbringung der Hilfebedürftigen über den 30. September 2013 hinaus fortzusetzen.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass auch § 15 SGB IX diesem Ergebnis nicht entgegensteht, da nach § 15 Abs. 1 Satz 5 SGB IX die Sätze 1 bis 3 des Abs. 1 nicht für die Träger der Sozialhilfe, der öffentlichen Jugendhilfe und der Kriegsopferfürsorge gelten. Die Hilfebedürftige musste daher dem Rehabilitationsträger keine angemessene Frist setzen, bevor sie sich die Leistung selbst beschafft.
Auch § 111 SGB X (Ausschlussfrist) steht dem Anspruch des Klägers nicht im Wege. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der Frist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger (hier: Kläger) von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers (hier: Beklagter) über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Ausweislich der Jugendhilfeakte des Beklagten wurde der Erstattungsanspruch für den Zeitraum vom 5. Juli 2010 bis 30. September 2013 erstmals mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2013 des Klägers geltend gemacht. Damit wurde sie innerhalb von zwölf Monaten nach Ablauf des Leistungszeitraums geltend gemacht.
Auch eine Verjährung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 113 SGB X ist nicht erfolgt. Nach Abs. 1 der Vorschrift verjähren Erstattungsansprüche in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über dessen Leistungspflicht Kenntnis erlangt. Im vorliegenden Kostenerstattungsfall hatte im Verhältnis zum Hilfeberechtigten allein der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger (Kläger) eine Entscheidung über den Leistungsanspruch zu treffen, nicht aber der erstattungspflichtige Träger, wie in der Vorschrift benannt. Somit kann der erstattungsberechtigte Leistungsträger auch keine Kenntnis von einer solchen Entscheidung erlangen. Aus diesem Grunde ist die in § 113 Abs. 1 Satz 1 SGB X getroffene Verjährungsregelung nicht unmittelbar anwendbar. Hinsichtlich des Verjährungsbeginns besteht eine unbeabsichtigte planwidrige Regelungslücke, die mangels einer Regelung im Kinder- und Jugendhilferecht durch eine entsprechende Anwendung der sozialhilferechtlichen Verjährungsvorschriften des § 111 Abs. 1 SGB XII zu schließen ist mit der Folge, dass die vierjährige Verjährungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem der Kostenerstattungsanspruch entstanden ist (OVG Saarland, Urteil vom 23.5.2012 – 3 A 410/11 – m.w.N. sowie VG Würzburg, Urteil vom 24.1.2013 – W 3 K 11.1060 -). § 111 Abs. 1 SGB XII regelt den Verjährungsbeginn für im Hinblick auf die zu entscheidende Interessenlage vergleichbare Fälle und kann deshalb zur Lückenschließung herangezogen werden. Der kostenerstattungspflichtige Träger der Sozialhilfe wird nach dem Inhalt der einschlägigen sozialhilferechtlichen Erstattungsvorschriften gegenüber dem Hilfeempfänger nicht tätig, so dass es auch in diesen Fällen an einer Entscheidung über seine Leistungspflicht fehlt (vgl. dazu Urteile des BayVGH vom 23.11.2009 – 12 BV 08.2146 – und vom 3.12.2009 – 12 BV 08.2147 -). Der Erstattungsanspruch des Klägers ist mit Eintritt der Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Kassel vom 3. November 2014 (5 K 918/12.KS) entstanden, so dass die Verjährung nicht eingetreten ist.
Die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX liegen somit vor, da nach Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger (Kläger) festgestellt wurde, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Leistung zuständig ist. Der Beklagte hat daher dem Kläger die Aufwendungen nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zu erstatten. Da der Beklagte keine Einwendungen gegen die Berechnung in Höhe des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs vorgetragen hat, war der Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 94.213,23 zu erstatten. Auch der geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz (§§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB) seit Rechtshängigkeit ist begründet. Insbesondere beseitigt § 108 Abs. 2 SGB X nicht die Anwendung von § 291 BGB (Prozesszinsen). Prozesszinsen sind nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Januar 2014 (5 C 8/13) kein Unterfall von Verzugszinsen oder von „Lastenausgleichszinsen“ des § 108 Abs. 2 SGB X, so dass nicht der Schluss gezogen werden kann, der Gesetzgeber habe eine stillschweigende Ausschlussregelung zu Prozesszinsen mit § 108 Abs. 2 SGB X treffen wollen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nicht nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei, da eine Erstattungsstreitigkeit zwischen Sozialleistungsträgern von der Vorschrift des § 188 VwGO ausdrücklich ausgenommen sind. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst, er hat im Verfahren weder einen Antrag gestellt noch schriftsätzlich inhaltlich vorgetragen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 709 ZPO.
Hinsichtlich der Frage, ob § 14 Abs. 4 SGB X auf die vorliegende Konstellation Anwendung finden kann, hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, die Berufung war daher gemäß § 124 a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.


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