Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit von festgesetzten Nachzahlungszinsen

Aktenzeichen  M 10 S 19.825

Datum:
29.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 22267
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 233a, § 238
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1. In einem Eilverfahren, in dem nur eine überschlägige Überprüfung der Sach- und Rechtslage stattfinden kann, ist grundsätzlich von der Gültigkeit einer Norm auszugehen, wenn nicht ausnahmsweise Gründe, die die Annahme der Nichtigkeit rechtfertigen, offen zu Tage treten. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 S. 1 AO für das Jahr 2012. (Rn. 28-32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.280,50 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Festsetzung von Nachzahlungszinsen für Gewerbesteuerschulden der Jahre 2008 bis 2012 durch Gewerbesteuerbescheid der Antragsgegnerin vom 11. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 18. Dezember 2018.
Mit Gewerbesteuerbescheid vom 11. Juni 2018 setzte die Antragsgegnerin Gewerbesteuern für die Jahre 2008 bis 2012 fest. Ferner wurden für dieselben Jahre Nachzahlungszinsen gemäß § 233a Abgabenordnung (AO) in Höhe von insgesamt 30.373 EUR festgesetzt. Diese Gewerbesteuerveranlagungen beruhten auf den Gewerbesteuermessbescheiden des Finanzamts … jeweils vom 25. Mai 2018.
Mit einem auf 6. Juni 2018 datierten Schreiben, das bei der Antragsgegnerin am 21. Juni 2018 einging, erhob der Antragsteller Widerspruch gegen diesen Bescheid. Mit Schreiben vom 18. Juni sowie 9. Juli 2018 wurde vorsorglich die zinslose Stundung der Gewerbesteuerschulden sowie Vollstreckungsschutz gemäß § 258 AO beantragt.
Zur Begründung wurde vorgetragen, gegen die zugrunde liegenden Gewerbesteuermessbescheide sei Einspruch eingelegt und Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt worden. Aufgrund dessen seien die Grundlagenbescheide derzeit von der Vollziehung ausgesetzt, so dass auch der Folgebescheid über die Gewerbesteuern für die Jahre 2008 bis 2012 nicht vollzogen werden könne.
Mit Bescheid vom 28. September 2018 lehnte das Finanzamt … den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2008 bis zu 2012 ab.
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2018 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Gewerbesteuerbescheides vom 11. Juni 2018 ab.
Aufgrund einer Änderung der Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2008 bis 2012 mit Bescheiden jeweils vom 3. Dezember 2018 erließ die Antragsgegnerin am 18. Dezember 2018 einen neuen Gewerbesteuerbescheid für die Jahre 2008 bis 2012. Wegen einer Verminderung der Steuerschuld wurden für diese Jahre Nachzahlungszinsen in Höhe von insgesamt 5.122 EUR festgesetzt. Ferner wurde gebeten mitzuteilen, ob auf einer formellen Behandlung des Widerspruchs gegen den Gewerbesteuerbescheid bestanden werde.
Mit Schreiben vom 3. Januar 2019 teilten die Bevollmächtigten des Antragstellers mit, dass die Widersprüche gegen die Bescheide vom 11. Juni und 18. Dezember 2018 aufrechterhalten, aber auf die Festsetzung der Nachzahlungszinsen für den Veranlagungszeitraum 2008 bis 2012 beschränkt würden. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. April 2018 und vom 3. September 2018 bestünden schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken, ob die Zinshöhe von 0,5% für jeden angefangenen Monat im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz und das Übermaßverbot verfassungsgemäß sei.
Mit Schreiben vom 21. Januar 2019 kündigte die Antragsgegnerin die Zwangsvollstreckung an.
Der Antragsteller hat mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 21. Februar 2019, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, wegen der Nachzahlungszinsen betreffend die Gewerbesteuer für die Jahre 2008 bis 2012 beantragt,
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 9. Juli 2018 gegen den Gewerbesteuerbescheid vom 11. Juni 2018 in der Fassung des Zinsbescheids vom 18. Dezember 2018 wird angeordnet.
Es bestünden erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe des Zinssatzes in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Nach der Entscheidung des BFH vom 3. September 2018 sei die aufschiebende Wirkung auch für Festsetzungen von Zinsen für Veranlagungszeiträume ab 2012 zu gewähren. Auch nach einem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 14. Dezember 2018 sei in steuerrechtlichen Verfahren Aussetzung der Vollziehung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. April 2012 zwingend zu gewähren. Es sei kein Grund ersichtlich, warum diese Frage im Verwaltungsverfahren rechtlich anders beurteilt werde. Hierzu seien im Übrigen derzeit zwei Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig.
Die Antragsgegnerin beantragt,
Der Antrag wird „abgewiesen“.
Die Höhe der Nachzahlungszinsen sei verfassungsgemäß; hierzu wird insbesondere auf die ständige Rechtsprechung des BFH bis zum Jahr 2017 (auch noch für das Veranlagungsjahr 2013) sowie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. September 2009 für den Veranlagungszeitraum 2003 bis 2006 verwiesen. Die Antragsgegnerin sei an Recht und Gesetz gebunden. Sie habe keinen Ermessensspielraum bei der Anwendung des Gesetzes.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Gewerbesteuerbescheid vom 11. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 18. Dezember 2018 ist nach dem erkennbaren Rechtsschutzbegehren des Antragstellers gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend zu verstehen, dass aufgrund der Beschränkung des Widerspruchs auf die Überprüfung der Nachzahlungszinsen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs nur insoweit begehrt wird, als durch den Gewerbesteuerbescheid der Antragsgegnerin vom 11. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 18. Dezember 2018 Nachzahlungszinsen festgesetzt werden.
2. Der so verstandene Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO zulässig; insbesondere ist die Voraussetzung des § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO erfüllt.
3. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung anordnen. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage einzubeziehen. Wird die Klage voraussichtlich erfolglos blieben, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des Bescheids das private Interesse des Antragstellers, da kein schutzwürdiges Interesse daran besteht, von dem Vollzug eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll die Anordnung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Abgabenbescheids bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Gründe dafür, dass die Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids der Antragsgegnerin vom 11. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 18. Dezember 2018 für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Darüber hinaus bestehen nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung zumindest keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der festgesetzten Nachzahlungszinsen. Nach summarischer Prüfung ist der angegriffene Gewerbesteuerbescheid vom 11. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 18. Dezember 2018 insoweit rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog).
a) Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Nachzahlungszinsen ist § 233a Abs. 5 Satz 1 HS. 1 AO, der über § 1 Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 2 AO Anwendung auf Gewerbesteuern findet.
b) Die Berechnung der Zinsen auf der Grundlage von § 233a Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 HS. 1 AO i.V.m. § 238 AO begegnet keinen rechtlichen Bedenken; sie wird auch vom Antragsteller nicht beanstandet.
c) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Festsetzung der Nachzahlungszinsen ergeben sich auch nicht aufgrund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO, wie sie der Bevollmächtigte des Antragstellers anführt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der die Kammer folgt, ist in einem Eilverfahren, in dem nur eine überschlägige Überprüfung der Sach- und Rechtslage stattfinden kann, grundsätzlich von der Gültigkeit einer Norm auszugehen, wenn nicht ausnahmsweise Gründe, die die Annahme der Nichtigkeit rechtfertigen, offen zu Tage treten (stRspr BayVGH, B.v. 30.3.2015 – 20 CS 15.88 – juris m.w.N.).
Im konkreten Fall steht der Veranlagungszeitraum 2008 bis 2012 inmitten, so dass die Anwendung der vom Bevollmächtigten des Antragstellers angeführten Rechtsprechung des BFH aus dem Jahr 2018 allenfalls für das Veranlagungsjahr 2012 in Betracht käme. Nach Auffassung des Gerichts tritt die vom Bevollmächtigten dargelegte Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO jedoch für das Veranlagungsjahr 2012 nicht offen zu Tage. Das Gericht hat nach summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für dieses Jahr, da die Rechtsprechung der Obergerichte zu dieser Frage divergiert, wobei die überwiegende Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ausgeht.
Zwar begegnet nach den Entscheidungen des 8. und 9. Senats des BFH vom 25. April 2018 (IX B 21/18 – BeckRS 2018, 001388) und 3. September 2018 (VIII B 15/18 – BeckRS 2018, 25898) die Höhe von Nachzahlungszinsen von 0,5% für jeden vollen Monat gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ab dem Veranlagungsjahr 2012 verfassungsrechtlichen Zweifeln. Insbesondere bestünden vor dem Hintergrund der Niedrigzinsphase Bedenken, ob die Zinshöhe realitätsgerecht bemessen und damit mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang stehe. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob die Zinssatzregelung gegen das Übermaßverbot verstoße. Aufgrund dessen sei Aussetzung der Vollziehung von Steuerbescheiden zu gewähren.
Aber die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung – insbesondere auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (B.v. 10.8.2017 – 4 ZB 17.279 – BeckRS 2017, 121545 noch für das Veranlagungsjahr 2014) – hat keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vorschrift des § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Auch die Rechtsprechung des BFH ist insoweit nicht eindeutig. Der 3. Senat des BFH geht nämlich in ständiger Rechtsprechung – zuletzt mit Urteil vom 9. November 2017 (III R 10/16 – BeckRS 2017, 142673 m.w.N.) sogar noch für den Veranlagungszeitraum 2013 – davon aus, dass die Höhe der Nachforderungszinsen weder gegen den Gleichheitssatz noch gegen das Übermaßverbot verstoße. Insbesondere habe eine ausführliche Untersuchung der Kreditzinsen ergeben, dass sich diese zwischen 0,15% und 14,7% bewegten, so dass der Zinssatz nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO auch im Jahr 2013 noch innerhalb der Bandbreite realitätsnaher Referenzwerte liege. Zum gleichen Ergebnis kommen auch das Bundesverfassungsgericht (B.v. 3.9.2009 – 1 BvR 2539/07 – BeckRS 2009, 39175) – wenn auch für den Veranlagungszeitraum 2003 bis 2006 – sowie das OVG Münster (B.v. 25.10.2018 – 14 B 1366/18 – BeckRS 2018, 27298) sogar für den Zinszeitraum 1. April 2017 bis 9. Juli 2018, wobei in diesen Entscheidungen auch noch die Zinsen auf dem Kapitalmarkt in den Blick genommen worden sind. Entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten setzt sich die Entscheidung des OVG Münster auch mit der aktuellen Rechtsprechung des BFH aus dem Jahr 2018 auseinander (a.a.O. Rn. 13).
Angesichts dieser divergierenden Rechtsprechung, die überwiegend von der Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe ausgeht, sind nach Auffassung des Gerichts ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Nachzahlungszinsen für das Veranlagungsjahr 2012 im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht anzunehmen (vgl. hierzu auch jüngst: VG München, B.v. 14.3.2019 – M 10 S 18.5944). Eine Sonderkonstellation, in der das Gericht die anzuwendende Norm für verfassungswidrig hält und zusätzlich aus Gründen effektiven Rechtschutzes gehalten ist, vorläufigen Rechtschutz zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 24. Juni 1992 – 1 BvR 1028/91 – BVerfGE 86, 382), liegt hier nicht vor.
Auch aus dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 14. Dezember 2018 ergibt sich nichts anderes; das Gericht ist hieran nicht gebunden.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung fußt auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 3.1 Streitwertkatalog.


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