Verwaltungsrecht

Rückerstattung von Asylbewerberleistungen

Aktenzeichen  S 11 AY 162/18

Datum:
28.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3148
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AsylbLG § 7 Abs. 1 S. 3
AsylDV § 21, § 22, § 29
SGG § 103, § 131 Abs. 5, § 192 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Bis 16. August 2016 ist die Pauschalierung von Asylbewerber-Erstattungsbeträgen mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig.  (Rn. 22 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur erstmaligen Ermittlung der konkreten anstelle der pauschalen Kosten ist das Gericht nicht verpflichtet. (Rn. 26 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. In Anfechtungsklagen ist das Gericht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu prüfen, nicht aber die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit erst zu schaffen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Erstattungsbescheide des Beklagten vom 29.08.2017 für den Zeitraum Januar bis März 2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 24.10.2018 in Form des Änderungsbescheides vom 26.02.2020 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Sie ist auch begründet.
1. Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide des Beklagten vom 29.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2018 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 26.02.2020. Die genannten Bescheide erweisen sich als rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.
Der Kläger ist zutreffend im Wege der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG vorgegangen. Der Bescheid vom 26.02.2020 wurde nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens, nachdem dieser die ursprünglich mit der Klage angefochtenen Bescheide abänderte.
2. Grundlage für die Erstattungsforderung ist § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG. Danach haben Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG bei der Unterbringung in einer Einrichtung, in der Sachleistungen gewährt werden, für die erhaltenen Leistungen dem Kostenträger für sich und ihre Familienangehörigen die Kosten in entsprechender Höhe der in § 3 Abs. 2 Satz 2 genannten Leistungen sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung zu erstatten, soweit Einkommen oder Vermögen im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG vorhanden ist; für die Kosten der Unterkunft und Heizung können die Länder Pauschalbeträge festsetzen oder die zuständige Behörde dazu ermächtigen. Im Rahmen der Erstattungsregelung des § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG sind die Vorschriften des Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über die Aufhebung und Erstattung von Verwaltungsakten (§§ 45 ff. SGB X) nicht entsprechend heranzuziehen. Es ist für die Erstattung nicht relevant, ob der Leistung überhaupt ein Verwaltungsakt zugrunde liegt und es spielt keine Rolle, ob die Leistungen ursprünglich rechtmäßig bzw. rechtswidrig erbracht wurden und inwieweit Vertrauensschutz bestand. Die Erstattung ist in Form eines Verwaltungsakts zu regeln (vgl. Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 7 AsylbLG (Stand: 01.02.2020), Rn. 60).
a. Es kann dahinstehen, ob der Kläger die Leistungen tatsächlich erhalten hat oder bereits ausgezogen war. Die vorgenommene Pauschalierung der Erstattungsbeträge ist rechtswidrig. Für den Zeitraum Januar bis März 2016 existiert keine gesetzliche Grundlage dafür, eine Pauschalierung vorzunehmen. Die §§ 21, 22 DVAsyl 2002 in der bis zum 31.08.2016 gültigen Fassung regeln eine Gebührenpflicht. Sie stellen keine Regelungen zur Pauschalierung von Kostenerstattungen dar. Dies folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut der §§ 21, 22 DVAsyl 2002, der sich alleine auf Gebühren bezieht. Auch inhaltlich werden ausgerechnet Leistungsbezieher nach § 3 AsylbLG – wie der Kläger – von der Gebührenpflicht grundsätzlich ausgenommen. Eine Gebührenpflicht ist nicht gleichbedeutend mit einer Erstattung von erbrachten Leistungen.
Auch aus der vom Beklagten angeführten Begründung der Verordnung zur DVAsyl 2002 folgt nichts anderes. Soweit dort überhaupt eine Pauschalierung der Erstattungskosten beabsichtigt war, hat die Absicht keinen Niederschlag in der Verordnung gefunden. Überdies wird die Absicht nicht ausdrücklich genannt. Vielmehr war im Rahmen der Gebührenerhebung ein Gleichlauf mit der Kostenerstattung beabsichtigt. Es kann vorliegend auch dahinstehen, ob überhaupt eine Ermächtigungsgrundlage des Landesgesetzgebers zur Regelung der Pauschalierung durch die Regierung bestanden hätte.
b. Soweit mit dem Änderungsbescheid vom 26.02.2020 nunmehr auf die DVAsyl vom 16. August 2016 verwiesen wird, kann diese auch nicht als Rechtsgrundlage dienen. Eine Rückwirkungsregelung für den hier maßgeblichen Zeitraum findet sich alleine in § 29a Abs. 2 DVAsyl in der Fassung vom 01.10.2019. Auch dort wird ausschließlich auf noch nicht bestandskräftige Gebührenbescheide und nicht auf eine Kosterstattung Bezug genommen. Eine Rückwirkungsregelung für Erstattungsforderungen iSd § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG existiert für den Zeitraum Januar bis März 2016 nicht.
c. Nachdem eine Pauschalierung der Kosten nach § 7 Abs. 1 S. 3 AsylbLG nach der derzeitigen Rechtslage für den Zeitraum Januar bis März 2016 für Unterbringungen in Bayern ausscheidet, ist es dem Beklagten grundsätzlich unbenommen, eine konkrete Berechnung der Kosten vorzunehmen. Das Sozialgericht war aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG indes nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung der konkret entstandenen Kosten als Voraussetzung für seinen Erstattungsbescheid nachzuholen.
Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen. Der Beklagte kann grundsätzlich auch im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe „nachschieben“. Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann. Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht andernfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung selbst aktiv in das Verwaltungsgeschehen eingreifen. Eine solche Änderung des „Wesens“ eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann, ist unter anderem angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient. Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs. 2 SGB X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs. 5 SGG), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs. 4 SGG). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig, wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt – bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen – mit einer wesentlich anderen Begründung Bestand hätte (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R -, Rn. 22ff m. w. N.).
Eine erstmalige Ermittlung der konkreten Kosten wäre nicht nur eine Ergänzung des Sachverhalts, sondern die umfassende Prüfung der Voraussetzungen für den angefochtenen Erstattungsbescheid, die der Beklagte bisher nicht beabsichtigt hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Außerdem wären hierdurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Klägers erheblich erschwert worden. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen.
3. Die Berufung war zuzulassen.
Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes – wie vorliegend – 750,00 EUR nicht übersteigt.
Gemäß § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Individualinteresse allein genügt nicht (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 144 Rn. 28). Klärungsfähig ist eine Rechtsfrage, wenn sie für den vorliegenden Fall entscheidungserheblich ist (Leitherer, a.a.O., § 160 Rn. 9). Zur Rechtmäßigkeit der Pauschalierung von Kosten nach § 7 Abs. 1 S. 3 AsylbLG hat weder das Bayerische Landessozialgericht noch das Bundessozialgericht bisher entschieden. Nachdem viele Personen von Erstattungsbescheiden betroffen sind, besteht ein Klärungsbedürfnis, das über das Individualinteresse des Klägers hinausgeht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.


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