Verwaltungsrecht

Subsidiär Schutzberechtigter, Abschiebungsverbot, Abschiebungsandrohung, Verwaltungsgerichte, Mitgliedstaaten, Ausreisefrist, Asylverfahrensgesetz, Befähigung zum Richteramt, Aufenthaltsverbot, Asylantragsteller, Erniedrigende Behandlung, Anerkannte Schutzberechtigte, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Unzulässigkeitsentscheidung, Prozeßbevollmächtigter, Bundsverwaltungsgericht, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Minderjähriges Kind, Verpflichtungsklage, Sitzungsniederschrift

Aktenzeichen  AN 17 K 18.50528

Datum:
7.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40015
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
§ 24 f., § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35, § 38 Abs. 1 AsylG
§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG
§ 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 AufenthG
§ 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG
Art. 14 f., Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU (Verfahrens-RL)
Art. 4 GRCh
Art. 3 EMRK

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten der Verfahren.
3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klagen sind zulässig, jedoch unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 8. Juni 2018 ist im Wesentlichen rechtmäßig. Er verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, 113 Abs. 5 VwGO), so dass die Klagen erfolglos bleiben.
1. Die Klagen sind in der in der mündlichen Verhandlung gestellten Form zulässig. Die Anfechtungsklage ist grundsätzlich die allein statthafte Klageart gegen den angefochtenen Bescheid. Hinsichtlich der hilfsweise begehrten Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für Ungarn ist die Verpflichtungsklage die richtige und zulässige Klageart.
Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zuge der Änderung des Asylverfahrensgesetzes infolge des Inkrafttretens des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I Nr. 39 v. 5.8.2016). Danach ist die Anfechtungsklage gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen, die alleinige statthafte Klageart. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 1.7.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; BayVGH U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris). Bei einer erfolgreichen Klage führt die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelung zur weiteren Prüfung der Anträge durch die Beklagte und damit zum erstrebten Rechtsschutzziel. Dabei bleibt es auch nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; zuvor schon angelegt in EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris), der lediglich inhaltliche Vorgaben im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz für international Anerkannte im Sinne des Art. 47 GRCh und Art. 46 Verfahrens-RL macht, aber keine prozessualen oder verfahrensrechtlichen Vorgaben, die dem nationalen Recht überlassen sind.
Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten in Bezug auf Ungarn gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist indes die Verpflichtungsklage deshalb zulässig, weil das Bundesamt insoweit gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG bereits eine Sachprüfung durchgeführt hat und deshalb eine gerichtliche Überprüfung möglich ist (vgl. BVerwG U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris, Rn. 20).
Die Klagen sind auch fristgerecht erhoben. Die in den Rechtsmittelbehrungen benannte Frist von zwei Wochen nach § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG ist eingehalten, so dass es nicht darauf ankommt, ob die Rechtsbehelfsbelehrung:en unrichtig sind, weil eigentlich die Wochenfrist nach § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gilt und die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO in Lauf gesetzt wurde.
2. Die Klagen sind jedoch unbegründet. Das Bundesamt hat die Anträge der Kläger – im Ergebnis – zu Recht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt und zu Recht die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Ungarn nicht vorliegen, getroffen.
a) Zunächst ist mit Blick auf die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 8. Juni 2018 unschädlich, dass nur der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2), nicht aber der am … 2001 geborene Kläger zu 3), die am … 2003 geborene Klägerin zu 4) und die am … 2017 geborene Klägerin zu 5) nach § 25 AsylG durch das Bundesamt angehört wurden. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG der Ausländer grundsätzlich persönlich anzuhören und kann eine unterlassene Anhörung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht mit Verweis auf § 46 VwVfG für unbeachtlich erklärt werden, da sonst gegen Art. 14 ff. der RL 2013/32/EU (Verfahrens-RL) verstoßen würde. Allein sei eine Heilung denkbar, wenn die Anhörung im Gerichtsverfahren und unter Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 15 der Verfahrens-RL nachgeholt werde (EuGH, U.v. 16.7.2020 – Addis, C-517/17 – ZAR 2020, 376 m. Anm. Pfersich).
Allerdings legt das Europarecht in Form von Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 4 der Verfahrens-RL die Frage, ob Minderjährige persönlich angehört werden müssen, in die Hände der Mitgliedstaaten. Da der deutsche Gesetzgeber aber über die Norm des § 24 Abs. 1 Satz 6 AsylG hinaus keine Regelung zur Anhörung des Minderjährigen getroffen hat und grundsätzlich von einem im Sinne des § 12 AsylG handlungsfähigen, also volljährigen Ausländer ausgeht, sowie minderjährige Kinder grundsätzlich als Teil der Familie betrachtet (§ 14a AsylG) werden, hat das Bundesamt seine Entscheidung über die Anhörung des Minderjährigen an der ihm gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG obliegenden Aufklärungspflicht auszurichten. Dabei liegt es nahe zwischen unbegleiteten und begleiteten Minderjährigen zu differenzieren, da in den letztgenannten Fällen eine persönliche Anhörung des Minderjährigen vielfach unter dem Gesichtspunkt der Sachverhaltsaufklärung nicht angezeigt sein wird, wenn für ihn von seinen Eltern keine besonderen Schutzgründe bzw. bei Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG keine abweichenden Angaben zu den Lebensverhältnissen im Zielland geltend gemacht werden (vgl. NdsOVG, B.v. 30.3.2020 – 2 LB 452/18 – BeckRS 2020, 5673 Rn. 17 ff.; Schönenbroicher/ Dickten in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 27. Ed. 1.10.2020, § 24 AsylG Rn. 9a). Bei den Klägern zu 3) bis 5) handelt es sich um in Begleitung ihrer Eltern geflohene, zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses, Minderjährige. Da es für die Rechtmäßigkeit von Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG maßgeblich auf die Lebensverhältnisse für zurückkehrende, anerkannte Schutzberechtigte im Zielland ankommt und ob diese eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, war von einer zusätzlichen Anhörung der Kläger zu 3) bis 5) keine weitere Sachverhaltsaufklärung zu erwarten; für die 2017 geborene Klägerin zu 5) ergibt sich die Entbehrlichkeit deren Anhörung bereits aus § 24 Abs. 1 Satz 6 AsylG. Daran ändert auch die zwischenzeitlich eingetretene Volljährigkeit des Klägers zu 3), geboren am 10. Mai 2001, nichts. Zwar kommt es gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung an. Allerdings ist auch nach aktueller Sach- und Rechtslage zwingend, dass die Anhörung als formelle Voraussetzung des Asylverwaltungsaktes nach § 24 f. AsylG vor dessen Erlass erfolgt, um dem Asylantragsteller rechtliches Gehör vor einer ihn möglicherweise belastenden Entscheidung zu gewähren. Wenn nun das Verwaltungsverfahrensrecht das Erfordernis der Anhörung nach dem Alter des Antragstellers differenziert und der Antragsteller nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens volljährig wird und er damit anzuhören wäre, kann daraus keine nachträgliche Pflicht zur Anhörung folgen, da diese überhaupt nicht mehr in den Verwaltungsakt einfließen könnte und damit ihres Sinns und Zwecks beraubt würde. Selbst wenn man dies mit Blick auf § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG anders beurteilt, wäre eine unterlassene etwa erforderliche Anhörung des Klägers zu 3) durch dessen Befragung – siehe insoweit die Sitzungsniederschrift – respektive Möglichkeit zur Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung am 7. Dezember 2020 im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 14 ff. der RL 2013/32/EU (Verfahrens-RL) geheilt (EuGH, U.v. 16.7.2020 – Addis, C-517/17 – ZAR 2020, 376 m. Anm. Pfersich).
b) In der Sache ist ein Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist für die Kläger der Fall; ihnen wurde in Ungarn am 12. April 2018 der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
Die Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes in Ziffer 1 des Bescheides vom 8. Juni 2018 sind auch unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL 2013/32/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris) – aa) – und der in Ungarn für international Anerkannte herrschenden tatsächlichen Verhältnisse (bb)) rechtmäßig (cc)).
aa) Nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL dürfen die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat internationalen Schutz gewährt hat. Nach der Entscheidung des EuGH vom 13. November 2019 ist es den Mitgliedsstaaten aber nicht möglich, von der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL Gebrauch zu machen und einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn dem Anerkannten in diesem Land Lebensverhältnisse erwarten, die für ihn eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh darstellen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist insofern auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.
Zwar ist nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht, der besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union, wie sie etwa in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen, grundsätzlich von einer rechtstaatlichen Behandlung von Flüchtlingen im gemeinsamen Rechtsraum auszugehen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut und unwiderlegbar. Die Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte haben zu überprüfen, ob das Asylsystem in der Praxis eines Staates auf größere Funktionsstörungen stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
Derartige Funktionsstörungen müssen jedoch eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Asylantragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89). Nicht ausreichend für das Erreichen dieser Schwelle ist der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Qualifikations-RL 2011/95/EU entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36). Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu fin-den und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu ge-langen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden ist, aufgrund derer sich die betreffende Person in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91).
Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedsstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn der Antragsteller sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befände. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97). Ebenso wenig ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96).
Bei dem so definierten Maßstab ist weiter zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige handelt oder eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität), die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 26). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Rahmen des Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist. Für die demnach zu treffende Prognoseentscheidung, ob dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung muss insoweit aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – BeckRS 2020, 5694 Rn. 28 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die für eine solche Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegensprechenden Tatsachen haben (OVG RhPf, a.a.O.; vgl. VGH BW, a.a.O., juris Rn. 187).
Diesen Maßstab zu Grunde gelegt, war die Ablehnung der Anträge der Kläger als unzulässig im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 7. Dezember 2020 rechtmäßig. Hinsichtlich der Prognoseentscheidung sind die Kläger in zwei Gruppen aufzuteilen, zum einen bestehend aus den Klägern zu 1), 2), 4) und 5) als Familie bestehend aus Vater, Mutter und zwei minderjährigen Kindern im Alter von 3 und 17 Jahren, zum anderen bestehend aus dem Kläger zu 3), der mit 19 Jahren volljährig und nicht mehr als Teil der Kernfamilie anzusehen ist. Da für die Kläger zu 1), 2), 4) und 5) keine aktuell behandlungsbedürftigen Krankheiten ersichtlich sind, ist mit der Rechtsprechung der Kammer davon auszugehen, dass bei einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie – Eltern und minderjährige Kinder – nach Ungarn angesichts der dortigen allgemeinen Lage für Rückkehrer nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit allgemein eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung droht (VG Ansbach, U.v. 12.9.2019 – AN 17 K 18.50204, U.v. 5.3.2020 – AN 17 K 18.50059/50411 – jeweils juris). Dies gilt erst recht für den isoliert zu betrachtenden Kläger zu 3) als jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, der zudem eigener Aussage nach etwas besser Englisch als Deutsch auf dem Niveau B1 spricht (VG Ansbach, U.v. 22.10.2020 – AN 17 K 20.50084 – juris, für einen jungen Erwachsenen sogar mit PTBS)
bb) Das Gericht geht nach Auswertung der zur Verfügung stehenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel von folgender Lage für in Ungarn anerkannte international Schutzberechtigte aus, die nach ihrer Anerkennung Ungarn verlassen haben und nun wieder zurückgeführt werden sollen:
In Ungarn anerkannte Schutzberechtigte (anerkannte Flüchtlinge ebenso wie subsidiär Schutzberechtigte) erhalten nach ihrer Anerkennung einen ungarischen Identitätsausweis mit einer Gültigkeit von drei Jahren. Nach Ablauf der drei Jahre findet von Amts wegen eine Regelüberprüfung statt, ob die Gründe für die Anerkennung weiterbestehen oder andere Gründe für eine Rücknahme der Zuerkennungsentscheidung existieren (Asylum Information Database – aida -, Country Report: Hungary Update 2018, S. 102 und 107; Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Bei einer Rückführung, die über den Flughafen Budapest erfolgt und von der ungarischen Polizei koordiniert wird, können Personen, die internationalen Schutz genießen, den Flughafen frei verlassen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018) und sich in Ungarn auch im Weiteren frei bewegen (aida, S. 112). Reisedokumente für den Grenzübertritt in andere Staaten werden international Schutzberechtigten erteilt, wobei die Ausstellung auf bürokratische Hindernisse im Zusammenhang mit der Vorlage hierfür notwendiger Dokumente stoßen kann (im Einzelnen aida, S. 112).
Zurückgeführte Schutzberechtigte sind ab ihrer Ankunft in Ungarn auf sich selbst gestellt. Sie erhalten keine spezielle staatliche Betreuung oder Unterstützung mehr (Liaisonbeamter Ungarn des Bundesamts zur Anfrage an das Auswärtiges Amt vom 2.8.2018), sie erhalten jedoch die gleichen sozialen Leistungen wie sie ungarischen Staatsangehörigen gewährt werden (Auswärtiges Amt, Anfragebeantwortungen an das VG Braunschweig vom 25.4.2018 und an das VG Trier vom 29.5.2018; aida, S. 117). Aufgrund von Sprachschwierigkeiten und bürokratischer Hürden sind international Schutzberechtigte dabei oftmals Problemen ausgesetzt (aida, S. 113, 115, 117). Die im Jahr 2013 eingeführte Möglichkeit einer Integrationsvereinbarung besteht in-folge von Gesetzesänderungen im April und Juni 2016 – anders als das Bundesamt dies in seinem Bescheid zugrunde legt – nicht mehr (aida, S. 113). Auch spezielle Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse werden anerkannt Schutzberechtigten staatlicherseits nicht mehr angeboten. Eine kostenlose staatliche Unterbringung von Schutzberechtigten ist nur noch innerhalb der ersten 30 Tage nach der Anerkennungsentscheidung möglich (aida, S. 113). Für die Vermittlung von Sozialwohnungen ist teilweise ein längerer Aufenthalt im entsprechenden Kommunalbezirk Voraussetzung (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018), sodass Rückkehrer auf Schwierigkeiten stoßen. Für die Vermittlung von Wohnungen an Obdachlose sind die Kommunalverwaltungen zuständig. In Budapest, wo sich die meisten Flüchtlinge auf-halten, ist die Budapest Methodological Centre of Social Policy and Its Institutions – BMSZKI -, offenbar eine kommunale Einrichtung mit Unterstützung von weiteren Trägern wie Caritas und ERASMUS (https://www.bmszki.hu), bei der Unterbringung von Obdachlosen tätig.
Das ungarische Sozialsystem gewährt grundsätzlich Versicherungsschutz für Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit. Der Bezug von Sozialhilfe setzt jedoch voraus, dass zuvor eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit mindestens ein Jahr lang ausgeübt worden ist (Auswärtiges Amt an das VG Schleswig vom 14.2.2020). Die Sozialhilfe betrug im Jahr 2018 dabei ca. 30% des Existenzminimums (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Kinder erhalten Hilfe in Form von Kindergeld, Eingliederungshilfen in der Schule und dort bei Bedarf kostenlose Schulverpflegung und Schulmaterialien (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Die Schulen sind zur adäquaten Unterstützung der Flüchtlingskinder tatsächlich je-doch kaum in der Lage (aida, S. 116).
Sozialhilfeberechtigte und Arbeitssuchende sind gesetzlich krankenversichert. Bei Bedürftigkeit besteht ein kostenloser Krankenversicherungsschutz auch für andere Personengruppen, auch international Schutzberechtigte (Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Nach den ungarischen Gesetzen hat jeder Patient in dringenden Fällen darüber hinaus das Recht auf eine lebensrettende Versorgung und auf Vorbeugung gegen schwere oder bleibende gesundheitliche Schäden, wobei eine Notfallversorgung gegebenenfalls auch ohne Feststellung der Identität erfolgt (Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Die staatliche Grundversorgung für Asylbewerber steht Anerkannten nur bis sechs Monate nach der Zuerkennung eines Schutzstatus zu (aida, S. 118, Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019).
Der Arbeitsmarkt steht Schutzberechtigten, bis auf einige Berufe, die ungarischen Staatsangehörigen vorbehalten sind, offen (aida, S. 115). Anerkannte Schutzberechtigten, die sich um eine Beschäftigung bemühen, haben aufgrund des Arbeitskräftemangels in Ungarn große Chancen und es relativ leicht, eine Anstellung zu finden (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018 und an das VG Greifswald vom 20.4.2020, Länderinformationsblatt Ungarn, Stand 9.3.2020, S. 20). Der ungarische Arbeitsmarkt ist – auch für ungelernte Kräfte – sehr aufnahme-fähig (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Es herrscht in Ungarn Vollbeschäftigung mit einer Arbeitslosenquote von lediglich 3,5%. Arbeitgeber stellen in der Regel über dem Mindestlohn ein und leisten teils auch Integrationshilfen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) können ungelernte Arbeitskräfte ein monatliches Einkommen von rund 180.000 bis 200.000 HUF erzielen. Das Existenzminimum liegt nach Angaben des Ungarischen Zentralen Amts für Statistik für eine Familie mit zwei Kindern bei rund 275.000 HUF (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Hauptschwierigkeit beim Finden einer Arbeitsstelle sind für Schutzberechtigte die fehlenden Sprachkenntnisse und ein mangelndes Wissen über die rechtlichen Möglichkeiten (Länderinformationsblatt Ungarn, S. 20).
Die fehlenden staatlichen Integrationsleistungen und Lücken im Sozialsystem schließen zahlreiche NGOs und kirchliche Träger, insbesondere die Organisationen Menedek (https://mene-dek/hu) und Kalunba, die Diakonie (http://diakoweb.webnode.hu), Malteser und in Budapest BMSZKI (https://www.bmszki.hu). Sie unterstützen anerkannt Schutzberechtigte in zahlreichen Bereichen (Länderinformationsblatt Ungarn. S.19). Sie helfen insbesondere bei der Vermittlung von Unterkünften und der sozialen Integration. Sie unterstützen zurückkehrende Schutzberechtigte in allen Bereichen des täglichen Lebens und bei der Integration in der Regel bis zu einem Jahr (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Sie bieten auch Hilfen direkt bei der Ankunft aus dem Ausland an, vermitteln Sprachkurse und andere Bildungsangebote wie Job-Trainings, bieten diese zum Teil auch selbst an und kümmern sich auch um vulnerable Personen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018; aida, S. 115/116). Rückkehrer können bis zu einem Jahr, auch kurzfristig, in von diesen Organisationen angemieteten Wohnungen untergebracht werden. Entsprechende Vermittlungen von Hilfsorganisationen waren in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). In Budapest bietet insbesondere BMSZKI Obdachlosenunterkünfte unterschiedlicher Art und Bedürfnisse an, die auch Schutzberechtigten offenstehen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ungarn, S. 19). Mit den Organisationen kann dabei bereits vor der Rücküberstellung vom Ausland aus Kontakt aufgenommen werden. Sie informieren auf ihren Internetseiten nicht nur in ungarischer, sondern auch in englischer, zum Teil zusätzlich in deutscher Sprache über ihre Leistungen und Möglichkeiten. Wie sich aktuellen Auftritten im Internet entnehmen lässt, sind diese Hilfsorganisationen weiter im Bereich der Unterstützung von anerkannten Migranten tätig. Sie werden zwar nicht mehr mit staatlichen Mitteln aus Ungarn und seit 2019 auch nicht mehr durch das European Asylum, Migration and Integration Fund-Programm (AMIF-Programm) mitfinanziert, existieren aber unverändert fort, sind weiter tätig und finanzieren sich nach deren Darlegungen aus privaten Geldern. Soweit NGOs anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte unterstützen, sind sie auch nicht von der ungarischen Gesetzgebung von Juni 2018 betroffen, die die Unterstützung von Flucht und Migration mit – insbesondere strafrechtlichen – Konsequenzen belegt. Lediglich die Gruppierung Migszol (http://www. migszol.com), die es sich vorwiegend zur Aufgabe gemacht hatte, Asylbewerber politisch zu unterstützen, hat – wie sich deren Internetauftritt entnehmen lässt – angesichts der politischen und rechtlichen Lage in Ungarn ihre Aktivitäten im ersten Halbjahr 2018 eingestellt.
cc) Nach dem anzuwendenden Rechtsmaßstab und den dargestellten tatsächlichen Verhältnissen steht nach der Ansicht des erkennenden Gerichts der Rückführung international Schutzberechtigter nach Ungarn grundsätzlich kein rechtliches Hindernis entgegen (s. bereits VG Ansbach für Familien mit minderjährigen Kindern, U.v. 12.9.20219 – AN 17 K 18.50204 und U.v. 5.3.2020 AN 17 K 18.50059/17 K 18.50411 und für einen alleinstehenden jungen Mann mit PTBS, U.v. 22.10.2020 – AN 17 K 20.50084 – jeweils juris, ebenso VG Cottbus, U.v. 9.1.2020 – 5 K 1960/ 18.A – juris, VG Berlin, B.v. 29.1.2020 – 33 L 1/20 A – juris; a.A. etwa SaarOVG, B.v. 12.3.2018 – 2 A 69/18 – juris). Mit der Situation von Asylbewerbern in Ungarn, die nach weitgehend übereinstimmender verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung aufgrund der dort zu erwartenden haftähnlichen Unterbringungen und der erheblichen Defizite im Asylverfahren, nicht zurückgeführt werden können, sondern systemische Mängel angenommen werden (vgl. etwa BayVGH, B.v. 23.1.2018 – 20 B 16.50073 – NVwZ-RR 2019, 78), ist die Situation von dort Anerkannten gerade nicht vergleichbar. Die Mängel des ungarischen Asylverfahrens treffen die dort bereits Anerkannten nicht mehr.
Hinsichtlich der aus den Klägern zu 1), 2), 4) und 5) bestehenden Kernfamilie – Vater, Mutter und zwei minderjährige Kinder im Alter von 3 und 17 Jahren – ist von der grundsätzlichen Arbeitsfähigkeit der Kläger zu 1), 2) und 4) auszugehen.
Aufgrund des betreuungsbedürftigen Kleinkindes, der Klägerin zu 5), ist derzeit aber nur von der Erwerbsarbeitsmöglichkeit entweder des Klägers zu 1) oder der Klägerin zu 2) und gegebenenfalls zusätzlich, soweit sie keine Schule mehr besucht oder ein Studium aufnimmt, der Klägerin zu 4), auszugehen. Angesichts des aufnahmefähigen ungarischen Arbeitsmarktes kann davon ausgegangen werden, dass die Kläger durch einen Erwerbsverdienst prognostisch – jedenfalls mittelfristig – in der Lage sein werden, die zum Lebensunterhalt und zum Wohnen erforderlichen Einkünfte für die gesamte Familie zu erwirtschaften. Dies gilt insbesondere angesichts des überdurchschnittlichen Bildungsgrades der Kläger zu 1) und 2), die beide das Abitur absolviert haben, die Klägerin zu 2) darüber hinaus eine Ausbildung als Friseuse; der Kläger zu 1) wiederum hat im Iran als Selbstständiger einen Imbiss betrieben. Kurzfristig und zur Überbrückung einer Anfangszeit können sie auf die Unterstützung der o.g. Hilfsorganisationen und kommunalen Einrichtungen zurückgreifen. Aufgrund der effektiven Arbeit der Hilfsorganisationen ist nicht ernsthaft zu befürchten, dass die Kläger ohne „Bett, Brot und Seife“ dastehen werden. Eine Kontaktaufnahme zu den Organisationen ist bereits von Deutschland aus möglich. Eine Unterstützung erfolgt insbesondere bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, dem Erlernen der ungarischen Sprache, bei organisatorischen und bürokratischen Problemen, z.B. bei Antragstellungen auf Sozialleistungen bei den ungarischen Behörden, außerdem sind finanzielle Unterstützungen zur Überbrückung bis zu einer Arbeitsaufnahme möglich. Insbesondere kann prognostisch von einer Wohnungsvermittlung durch NGOs ausgegangen werden. Angesichts der relativ geringen Anzahl von anerkannt Schutzberechtigten in Ungarn ist – bei entsprechender Eigeninitiative – hinreichend sicher, dass den Klägern von den Hilfsorganisationen tatsächlich Hilfe zu Teil wird und dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleibt. Durch die Integrationshilfe von Seiten der NGOs werden die Kläger auch in die Lage versetzt, ihren Alltag in Ungarn auf Dauer selbst zu bestreiten, das Leben dort in sprachlicher und organisatorischer Hinsicht zu meistern, so dass ihnen prognostisch auch auf Dauer keine Verelendung droht.
Der separat zu betrachtende, volljährige Kläger zu 3) ist ebenfalls arbeitsfähig. Hinsichtlich der Aufnahmefähigkeit des ungarischen Arbeitsmarktes und der gegebenen Hilfemöglichkeiten gilt das eben Ausgeführte.
Eine grundlegend abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht durch die derzeitige Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in Europa und auch in Ungarn. Laut der in das Verfahren eingeführten Zahlen der Johns-Hopkins-Universität vom 7. Dezember 2020 gibt es in Ungarn bisher etwa 250.000 Corona-Fälle, wovon 71.682 wieder genesen sind. Die Zahl der Todesfälle wird mit 5.868 beziffert. Bei einer Einwohnerzahl von circa 10 Millionen Menschen ergibt sich daraus keine etwa im Vergleich zu Deutschland übersteigerte Belastung. Aus den Erkenntnismitteln geht jedenfalls nicht hervor, dass das ungarische Gesundheits- und Sozialsystem in Folge der Corona-Pandemie überlastet ist. Hinsichtlich des Arbeitsmarktes ist zwar von Einschränkungen im Niedriglohnbereich auszugehen, die jedoch die oben geschilderten positiven Beschäftigungsaussichten im Ganzen und über Branchengrenzen hinweg nicht zu erschüttern vermögen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Ausgewählte Dublin-Länder, Balkan und Ukraine, Aktuelle Lage im Zusammenhang mit COVID-19, Stand 17.7.2020, S. 2), überdies ist hinsichtlich der Kläger zu 1) und 2) deren überdurchschnittliche Bildungs- und berufliche Qualifikation Rechnung zu stellen, sowie hinsichtlich des Klägers zu 3) dessen Englischkenntnisse, die eine Verständigung in Ungarn in der Ankunftszeit erleichtern dürften.
c) Die Ablehnung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des AufenthG in Ziffer 2 des Bescheids vom 8. Juni 2018 erweist sich ebenfalls als rechtmäßig.
Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stellen sich inhaltlich die gleichen rechtlichen Fragen wie bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung, deren Maßstab letztlich Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK ist. Ein Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ergibt sich aus der allgemeinen Lage für international Schutzberechtigte in Ungarn für die Kläger nicht. Auf die vorstehenden Ausführungen wird insoweit verwiesen.
Ferner können die Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG geltend machen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Norm setzt voraus, dass der Ausländer bei einer Rückkehr mit hoher – und nicht nur beachtlicher – Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage hinsichtlich der genannten Rechtsgüter ausgesetzt wäre (BVerwG, U.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 13). Er müsste „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ sein. Nur dann gebieten es die Grundrechte der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG trotz fehlender politischer Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris Rn. 60).
Unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs steht den Klägern kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Sie tragen jeweils keine individuellen Umstände wie akut behandlungsbedürftige Erkrankungen vor. Ein Abschiebungshindernis ergibt sich auch nicht aus dem Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit dem SARS-CoV-2-Virus. Insoweit besteht keine ein Abschiebungsverbot begründende Ansteckungswahrscheinlichkeit (s.o.) und auch im Fall einer Ansteckung keine allgemeine Lebens- oder erhebliche Gesundheitsgefahr. Im Übrigen liegt insoweit eine Allgemeingefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG vor, die ein Abschiebungsverbot grundsätzlich nicht begründet.
d) Weiter begegnen auch die Abschiebungsandrohungen unter Ziffer 3 des Bescheides vom 8. Juni 2018 – im Ergebnis – keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar erweist sich die Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bekanntgabe bzw. Rechtskraft der Entscheidung anstatt einer Woche als objektiv rechtswidrig (BVerwG, U.v. 15.1.2019 – 1 C 15/18 – juris), dies verletzt die Kläger aber nicht in ihren Rechten (BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris).
Auch dass die Ausreisefrist von 30 Tagen zunächst mit Bekanntgabe des Bescheides beginnt, führt im Ergebnis nicht zur Aufhebung der Abschiebungsandrohung. Der Beginn der Ausreisefrist mit Bekanntgabe des Bescheides könnte zwar mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Gnandi“ (U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – NVwZ 2018, 1625) zweifelhaft erscheinen. Allerdings ist schon fraglich, ob die Grundsätze der „Gnandi“- Entscheidung überhaupt auf die vorliegende Konstellation einer Abschiebungsandrohung mit 30-tägiger freiwilliger Ausreisefrist ab Bekanntgabe des Bescheids nach § 35 und § 38 Abs. 1 AsylG in Folge einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG übertragbar sind (dafür wohl Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 25. Edition Stand 1.3.2020, § 36 AsylG Rn. 3 ff.; offenlassend etwa VG Würzburg, B.v. 19.12.2019 – W 4 S 19.32094 – BeckRS 2019, 34656). Denn die RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL), auf die sich der Europäische Gerichtshof in der „Gnandi“ – Entscheidung maßgeblich stützt, definiert in deren Art. 3 Nr. 3 eine Rückkehr grundsätzlich als Rückführung in Drittländer, die keine EU-Mitgliedstaaten sind (so VG Würzburg, B.v. 19.12.2019 – W 4 S 19.32094 – BeckRS 2019, 34656 Rn. 27). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls wurde die „Gnandi“ – Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bislang nur für die hier nicht gegebenen Fälle einer inhaltlichen Ablehnung des Asylantrages als (einfach oder offensichtlich) unbegründet verbunden mit einer Abschiebungsandrohung nachvollzogen (BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 22.19 – BeckRS 2020, 12399; BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – BeckRS 2020, 8202).
Selbst wenn man aber die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in Sachen „Gnandi“ für übertragbar hielte, käme man nicht zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung nach Ungarn. Denn jedenfalls wäre durch die Klageerhebung ein europarechtskonformer Zustand hergestellt worden und entfiele die Rechtsverletzung der Kläger im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da nach Ziffer 3 des Bescheides vom 8. Juni 2018 im Falle der Klageerhebung die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet (BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – BeckRS 2020, 8202 Rn. 28). Die durch den Europäischen Gerichtshof im Weiteren statuierten Informationspflichten bei einer Verbindung von ablehnender Asylentscheidung und Rückkehrentscheidung hätten auch im Fall ihrer Missachtung keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – BeckRS 2020, 8202 Ls. 4 und Rn. 34 ff.; BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 22.19 – BeckRS 2020, 12399 Ls. 4 und Rn. 60 ff.).
e) Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung gemäß §§ 11 Abs. 1, Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
Auch unter Berücksichtigung des nunmehr geltenden § 11 Abs. 1 AufenthG, wonach das Ein-reise- und Aufenthaltsverbot nicht mehr aufgrund einer gesetzgeberischen Entscheidung eintritt, sondern es hierfür vielmehr einer behördlichen Entscheidung bedarf (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 71), bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Ziffer 4 des Bescheides vom 8. Juni 2018. Die nunmehr geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer ist in unionsrechtskonformer Auslegung regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG zu sehen (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72). Eine solche hat die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid wirksam getroffen und in Ausübung des ihr nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessens eine Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung vorgesehen. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind unter Berücksichtigung des maßgeblichen Entscheidungszeitpunkts der letzten mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG, im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, da es keine zugunsten der Kläger berücksichtigungsfähige, in Deutschland dauerhaft bleibeberechtigte Kernfamilie gibt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben