Verwaltungsrecht

Subsidiärer Schutz für einen Minderjährigen der Minderheit der Tawergha in Libyen

Aktenzeichen  W 8 K 18.30790

Datum:
27.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 25624
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

In Libyen ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Nummern 2 bis 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juni 2017 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu voll-streckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juni 2017 ist in seinen Nrn. 2 bis 5 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) sowie zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG war nicht zu entscheiden.
Unter Berücksichtigung der aktuell abschiebungsrelevanten Lage in Libyen hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt unter anderem Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
Hinsichtlich des Klägers ist aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Volk der Tawergha und deren sich daraus für ihn ergebenden besonders schwierigen Situation in Libyen eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens und seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG festzustellen.
Nach der Erkenntnislage ist in Libyen von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen (vgl. VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris; ebenso im Ergebnis VG Ansbach, U.v. 29.3.2018 – AN 10 K 16.32482 – juris; offengelassen VG Chemnitz, U.v. 31.5.2018 – 7 K 2166/16.A – juris; U.v. 24.5.2018 – 7 K 3986/16.A – juris; U.v. 15.3.2018 – 7 K 2975/16.A – juris; U.v. 2.1.2018 – 7 K 692/16.A – juris; jeweils mit weiteren Nachweisen). Das Gericht schließt sich der Rechtsprechung des VG Dresden, auf die es in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, an und nimmt auf die dortigen Ausführungen im Einzelnen Bezug (vgl. VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris Rn. 52 ff.). Dort ist unter Bezug auf zahlreiche Quellen ausgeführt, dass nach dem Sturz Gaddafis und der Befreiung ganz Libyens am 23. Oktober 2011 in Libyen ein Machtvakuum entstanden ist, dass die Ausbreitung von Milizen und bewaffneten Gruppen ermöglichte, die brutal um Gebiete und Öl kämpften. Weite Teile des Landes standen und stehen unter Kontrolle bewaffneter Gruppierungen mit Milizcharakter.
Aktuelle Erkenntnisse rechtfertigen die Annahme eines fortbestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Libyen.
Nach dem Auswärtigen Amt (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018) befindet sich Libyen Mitte 2018 im siebten Jahr nach dem Tod des Diktators Gaddafi weiterhin im politischen Umbruch. Landesweite Sicherheit bleibt die größte und wichtigste Herausforderung des seit Dezember 2015 bestehenden Präsidialrats. Große Teile des Landes und der Gesellschaft werden von Milizen kontrolliert, andere Teile sind praktisch unregiert. Bewaffnete Gruppen beanspruchen jeweils auf ihrem Gebiet die Ausübung einer Art staatlicher Kontrolle. Eine der größten Gefahren für die Bevölkerung ist es, als Unbeteiligte in die immer wieder aufflammenden Auseinandersetzungen zwischen Milizen zu geraten bzw. Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden. Menschenrechtsverletzungen in Libyen sind an der Tagesordnung. Die vulnerabelste Gruppe sind Migranten und Flüchtlinge. Aber auch Libyer sind Menschenrechtsverletzungen durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, ohne sich dagegen wirksam schützen zu können. Ein einheitliches funktionierendes Rechtssystem steht nicht zur Verfügung. Besonders betroffen sind Minderheiten. Die Sicherheitslage in Libyen ist instabil. Dem Präsidialrat gegenüber loyalen Milizen aus der westlibyschen Stadt Misrata gelang es den sogenannten IS im Dezember 2016 aus seiner Hochburg in der zentralibyschen Küstenstadt Sirte zu vertreiben. Er ist weiterhin in Libyen aktiv und hat auch 2017 bis 2018 Anschläge verübt. In Ostlibyen geht General … gegen islamistische und dschihadistische Gruppen mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vor. Auch Tripolis ist faktisch im Einflussbereich von vier Milizen. Eine davon ist die salafistische Rada-Miliz. Diese Miliz übt inzwischen die vollständige Kontrolle über den einzigen funktionstüchtigen Flughafen (Mitiga) von Tripolis und das dort gelegene größte Gefängnis Westlibyens aus. Einer Vielzahl von Milizen werden Folter und standrechtliche Hinrichtungen vorgeworfen. Auch die im Osten vorherrschende LNA ist kein einheitliches Gebilde, vielmehr eine Klammer für einzelne Milizen, die auch eigene Interessen verfolgen und denen ihrerseits Menschenrechtsverletzungen sowie die Hinnahme ziviler Opfer nachgesagt werden.
Alle Konfliktparteien verübten wahllose sowie gezielte Angriffe auf dicht besiedelte Gebiete, die zum Tod von Zivilpersonen und der rechtswidrigen Tötungen führten. Tausende Menschen wurden von bewaffneten Gruppen verschleppt, willkürlich festgenommen und zeitlich unbegrenzt inhaftiert. In den Gefängnissen waren Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung. Menschen wurden aufgrund ihrer Überzeugung, ihrer Herkunft, ihrer vermuteten politischen Zugehörigkeit und ihres mutmaßlichen Reichtums von bewaffneten Gruppen und Milizen verschleppt und rechtswidrig inhaftiert (Amnesty International, Report Libyen 2017/2018).
Die Lage im ganzen Land ist extrem unübersichtlich und unsicher. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In großen Teilen des Landes herrschen bewaffnete Milizen oder sonstige bewaffnete Kräfte. In Abwesenheit staatlicher Kontrolle über das gesamte Territorium setzen sich Dutzende rivalisierende Milizen und militärischen Streitkräfte mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Allianzen straffrei über internationales Recht hinweg. Rivalisierende Milizen und militärische Streitkräfte entführen Personen und lassen diese verschwinden, foltern, inhaftieren willkürlich und führen ungesetzliche Tötungen durch (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libyen vom 20.10.2017).
Im Ergebnis ist weiterhin aufgrund des Vorhandenseins verschiedener Regierungen sowie die fragile Situation ausnutzende terroristische Elemente, aufgrund deren die Lage nach wie vor unübersichtlich und unsicher ist, vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen.
Darüber hinaus ist das Gericht überzeugt, dass dem Kläger mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen dieses innerstaatlichen Konflikts bei einer Rückkehr droht. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann in erster Linie auf gefahrerhöhende persönliche Umstände beruhen. Diese sind solche Umstände, die den Betreffenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere.
Aufgrund der Zugehörigkeit der Kläger zur Minderheit der Tawergha liegen gefahrerhöhende Umstände vor, die dazu führen, dass auch das Vorliegen eines geringeren Niveaus an willkürlicher Gewalt zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus führt (vgl. VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris Rn. 63 ff., 68 ff.). Denn aus der Situation der Tawergha in Libyen ergibt sich, dass der Kläger allein aufgrund seiner Zugehörigkeit dieser Minderheit zum einen von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen ist als andere und zum anderen wegen des bestehenden bewaffneten innerstaatlichen Konflikts zusätzlich die Gefahr gezielter Gewaltakte ausgesetzt ist. Denn die Tawergha sind schon aufgrund ihrer Hautfarbe nach außen erkennbar. Ihnen wird des Weiteren eine Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes zugeschrieben, so dass sie besonders Repressalien unterschiedlichster Art ausgesetzt sind wie Beleidigungen, Belästigungen, Angriffe, Entführungen, Misshandlungen bis hin zur Folter und legalen Tötungen durch bewaffnete Milizen. Besonders häufig und anhaltend sind die willkürliche Festnahmen (vgl. VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris Rn. 69 m.w.N.).
Das Auswärtige Amt schreibt in seinem Ad-hoc-Lagebericht (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018): Angriffe auf politische Gegner sind weit verbreitet, insbesondere auf Politiker, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Juristen, religiöse Führer und (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis. Die Kämpfe betrafen wiederholt die Zivilbevölkerung. In verschiedenen Städten kam es wiederholt zu Tötungen, standrechtlichen Hinrichtungen, Geiselnahmen, willkürlichen Festnahmen, Folter, und Übergriffe auf zivile Einrichtungen und Häuser. Die kleinere ethnische Minderheit, die ca. 42.000 Angehörige zählt, sind die Tawergha, dunkelhäutige Nachfahren ehemaliger Sklaven aus der gleichnamigen Stadt. Sie wurden 2011 im Zuge der Kämpfe gegen Gaddafi durch Milizen aus dem benachbarten Misrata aus ihrer Stadt vertrieben und sind seither in Lagern in Tripolis, Bengasi und anderen Städten des Landes untergebracht. Die Tawergha stellen einen beträchtlichen Teil der derzeit ca. 200.000 Binnenflüchtlinge in Libyen. Ihre Lebensbedingungen sind besorgniserregend. Ein im August 2016 geschlossenes Versöhnungsabkommen sieht die Rückkehr der Tawergha in ihre Heimatstadt vor. Bis Juli 2018 kehrte eine einzige Familie heim. Anfeindungen durch Teile des Misratis, zerstörte Infrastruktur und die Minengefahr stellen erhebliche Hindernisse dar. In dem Bericht über Binnenvertriebene, zu denen auch die Tawergha gehören, bemängelt die VN-Sonderberichterstatterin in ihrem Bericht im Juli, den in Libyen inexistenten Rechtsrahmen zum Schutz von Binnenvertriebenen sowie deren schlechte Versorgungs- und Sicherheitslage. Sie ruft die libysche Regierung dazu auf, die dramatische Situation der Binnenvertriebenen nicht länger kleinzureden. Zudem appelliert sie auch an bewaffnete Gruppen, die Kontrolle über Gebiete ausüben, die Bevölkerung besser zu schützen als bisher und sich im Umgang mit humanitären Akteuren kooperativer zu verhalten. Bis zum Jahresende 2017 hat es bezüglich der Rückkehr von Menschen nach Tawergha keine Fortschritte gegeben und die Vereinbarung war nicht ungesetzt (Amnesty International, Report Libyen 2017/2018).
Gefahrerhöhende Momente in der besonderen Situation des Klägers sind des Weiteren, dass der Kläger minderjährig ist; seine Eltern sowie sein Bruder tot sind, so dass er keine Kernfamilie mehr hat. Des Weiteren weist der Kläger Schussverletzungen auf und ist aufgrund des Todes seiner Eltern und seines Bruders sowie der ihn betreffenden gewaltsamen Auseinandersetzungen auch traumatisiert, woraus seine psychischen Probleme resultieren, die sich in Deutschland nach seiner Aussage zuletzt verbessert haben. Liegen somit im Fall des Klägers gefahrerhöhende Umstände vor genügt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch ein geringes Niveau willkürlicher Gewalt. In dem betreffenden Gebiet um die Voraussetzung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG zu bejahen. Das Verwaltungsgericht Dresden (VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris Rn. 70 ff.) hat die Opferzahlen dargestellt mit dem Ergebnis, dass das festgestellte Risiko je nach Zielgebiet in Libyen teilweise noch weit von dem vom Bundesverwaltungsgericht in anderer Sache für unbedenklich gehaltenen Risiko zu 1:800 bzw. 1:1000 (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – NVwZ 2012, 454 – juris Rn. 22 und 10 C 11.10 – juris Rn. 20) entfernt ist (vgl. auch VG Ansbach, U.v. 29.3.2018 – AN 10 K 16.32482 – juris Rn. 32).
Gleichwohl ist aufgrund der besonderen Situation des Klägers als Angehöriger der Volksgruppe der Tawergha eine erhöhte individuelle Bedrohung zu bejahen, wobei festzustellen ist, dass aufgrund der Vertreibung und Zerstörung der Heimatstadt Tawergha und der fehlenden zumutbaren Rückkehrmöglichkeit aufgrund der bestehenden – oben zitierten – Hindernisse auf die landesweite Lage abzustellen und insoweit eine landesweite Gefahr für den Kläger festzustellen ist. Dies gilt zum einen schon wegen der persönlichen gefahrerhöhenden Merkmale wie Zugehörigkeit zur Minderheit der Tawergha, Hautfarbe, Minderjährigkeit, Traumatisierung, fehlende Kernfamilie aufgrund der Tötung von Eltern und Bruder, Schussverletzungen. Hinzu kommt die dem Volk der Tawergha zugeschriebene Unterstützung des früheren Gaddafi-Regimes, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch ausdrücklich bestätigt hat.
Letzteres wird durch die Erkenntnislage bestätigt (vgl. Accord, Anfragebeantwortung zu Libyen: Lage von Menschen, die im Verdacht stehen UnterstützerInnen des Gaddafi-Regimes zu sein, 2014 bis heute vom 19. Januar 2017), wonach die Milizen tausende Soldaten und auch Anhänger, auch vermeintliche Anhänger des Gaddafi-Regimes festgenommen, ihre Häuser und Orte geplündert und niedergebrannt haben, wie etwa auch die Stadt Tawergha. Das Auswärtige Amt berichtete, dass Angriffe auch politische Gegner wie auch (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis in Libyen heute noch weit verbreitet sind (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018).
Der Kläger erklärte selbst, sein Stamm sei auf verschiedene Gebiete verteilt. Er könne nicht mehr nach Bengasi zurückkehren, weil er dort gegen die dortigen Kämpfer gekämpft habe. Er bzw. sein ganzer Stamm sei zurzeit nicht sehr beliebt in Libyen. Er habe noch Kontakt zu Verwandten in Libyen. Sie lebten in Bengasi. Dort in Bengasi gebe es jeden Tag Tote. Jeden Tag sterbe einer.
Im Ergebnis ist unter Gesamtbetrachtung aller Umstände im vorliegenden Einzelfall bei einer wertenden Betrachtung auch unter Berücksichtigung der Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung und der medizinischen Versorgungslage der Opferzahl sowie der individuellen gefahrerhöhenden Momente, speziell wie beim Kläger durch seine Zugehörigkeit zum Volk der Tawergha und seiner persönlichen Umstände, vorliegend von der ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auszugehen, so dass sich ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes ergibt (ebenso im Ergebnis VG Dresden, U.v. 22.9.2017 – 12 K 1598/16.A – Asylmagazin 4/2018, S. 123 [auszugsweise] – juris).
Des Weiteren spricht beim Kläger auch viel dafür, die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG zu bejahen, weil bei ihm aufgrund seiner persönlichen Umstände (einerseits Angehöriger der Volksgruppe der Tawergha, andererseits seine Minderjährigkeit, der Verlust der Kernfamilie, die dreifache Schussverletzung infolge einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit einer Miliz und die daraus basierende Traumatisierung) die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Schadens durch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei einer Rückkehr nach Libyen besteht.
Denn nach dem Auswärtigen Amt (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen vom 3. August 2018, Stand Juli 2018) werden in Libyen immer wieder Menschen von staatlichen Stellen sowie von bewaffneten Gruppen ohne jegliches Verfahren und ohne Einhaltung ihres justiziellen Rechte zum Teil jahrelang ihrer Freiheit beraubt. Die meisten Gefängnisse werden von Milizen kontrolliert. Einer der größten Haftanstalten ist das von der Rada-Miliz geführte Mitiga-Gefängnis am gleichen Ort wie der Flughafen in Tripolis. Nach Zeugenaussagen ist dort von Folter, rechtswidrigen Tötungen und Verweigerung des Zugangs zur medizinischen Versorgung und anderer unmenschlicher Behandlung berichtet. Auch sonst gibt es Hinweise, dass Insassen in von Milizen geführten Gefängnissen teils in Isolationshaft und unter Folter zur Abgabe von Geständnissen gezwungen werden. Folter ist in Libyen weit verbreitet und bleibt in der Regel straflos. Sie kommt insbesondere bei Festnahmen, Entführungen und Haft in inoffiziellen und in offiziellen Gefängnissen vor.
Nach Aussage des Auswärtigen Amts ist weiter davon auszugehen, dass zurückkehrende Libyer, insbesondere (aber wohl nicht nur) dann, wenn sie durch ausländische Polizei begleitet werden, Aufmerksamkeit und gegebenenfalls Misstrauen erwecken und bei der Einreise strengen Kontrollen unterzogen werden. Eine anschließende Inhaftierung ist insbesondere am Flughafen Mitiga, der von der salafistischen Rada-Miliz kontrolliert wird, nicht auszuschließen. Organisationen berichten von Menschenrechtsverletzungen in diesem Gefängnis. Weiter ist davon auszugehen, dass die salafistische Rada-Miliz, die den Flughafen Mitiga in Tripolis und das dort befindliche Gefängnis kontrolliert, Listen von gesuchten Libyern einsehen kann und bei der Einreisekontrolle strenge Maßstäbe anlegt. Auch die anderen libyschen Flughäfen werden von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die meist ihre eigenen Kriterien für Einreise, Befragung und Festnahme setzen. Das Auswärtige Amt betont ausdrücklich das Einzelfalluntersuchungen des Risikos für Abzuschiebende in diesem Lichte durchzuführen sein werden. Nach Aussage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libyen vom 20.10.2017) ist eine Rückkehr nach Libyen derzeit nicht sinnvollerweise aktualisierbar.
Auch wenn sich ein Asylbewerber nicht auf gefahrerhöhende Momente infolge einer Abschiebung anstatt einer freiwilligen Rückkehr berufen kann, weil er nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen kann, wenn er durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere eine freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann (vgl. BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – BverwGE 104, 265; VGH BW, U.v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris), sieht das Gericht, wie erwähnt, auch bei einer freiwilligen Rückkehr des Klägers über einen Flughafen in seiner speziellen Situation zahlreiche gefahrerhöhende Momente als gegeben an, die eine Rückkehr wegen drohender Inhaftierung und dabei drohender Folter bzw. unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung auch unter diesem Aspekt unzumutbar erscheinen lassen.
Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheides der subsidiäre Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen.
Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides ebenfalls aufzuheben war (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über den hilfsweise gestellten Antrag zu den nationalen Abschiebungsverboten war nicht zu entscheiden.
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreisefristbestimmung (Nr. 4 des Bundesamtsbescheides) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn dem Ausländer unter anderen nicht der subsidiäre Schutz zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Zuerkennung des subsidiären Schutzes eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
Schließlich war auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheides) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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