Verwaltungsrecht

Unmittelbare und ausschließliche Unterhaltsgewährung als Voraussetzung für ein nach § 44 SGB X abgeleitetes Freizügigkeitsrecht

Aktenzeichen  S 14 AS 845/18 ER

Datum:
7.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 31394
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 Nr. 2
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2
SGB X § 44
SGB XII § 23 Abs. 3 S. 3
SGG § 86b Abs. 2 S. 4

 

Leitsatz

Ein nur von der Tochter abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU setzt deren unmittelbare und ausschließliche Unterhaltsgewährung voraus, um ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht zu vermitteln. (Rn. 30)

Tenor

I. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Der Klägerin wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg ab Antragstellung Prozesskostenhilfe bewilligt und Frau Rechtsanwältin T., B-Straße, A-Stadt, beigeordnet.

Gründe

I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bzw. nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Streit.
Die 1964 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie reiste im September 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und nimmt seit 11.12.2017 am Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekt „E.“ der N. A. gGmbH in N. teil, welches mittlerweile bis Ende 2018 verlängert worden sei.
Nach der Meldebestätigung aus der Verwaltungsakte war die Antragstellerin seit 12.04.2017 in der im Antrag genannten Wohnung gemeldet. Sie bewohnt diese zusammen mit Ihrer damals mit eingereisten Tochter E. (geb. 1987), ebenfalls bulgarischer Staatsangehörigkeit, und werde von dieser unterhalten. Eigenes Einkommen, etwa aufgrund einer Arbeitstätigkeit oder als Unterhalt vom geschiedenen Ehemann, habe sie nicht. Die Tochter ist beim Antragsgegner aktuell im Leistungsbezug. Im vorgelegten Leistungsbescheid nach SGB II wurde eine Teilzeitbeschäftigung angerechnet und die Unterkunfts- und Heizkosten aufgrund des Zusammenlebens mit der Mutter nur hälftig berücksichtigt.
Die Antragstellerin beantragte am 05.01.2018 erstmals Arbeitslosengeld II (ALG II) beim Antragsgegner. Im Antrag gab sie an, mietfrei bei der Tochter zu wohnen. Der Antrag wurde mit Verweis auf ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitssuche durch Bescheid vom 09.01.2018 abgelehnt. Der Widerspruch vom 16.01.2018 wurde am 23.04.2018 durch Widerspruchsbescheid (347/18) aufgrund Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II als unbegründet zurückgewiesen.
Am 26.06.2018 beantragte die Antragstellerin erneut ALG II-Leistungen. Mietkosten wurden erstmals geltend gemacht. Der Ablehnungsbescheid vom 27.06.2018 erging ebenfalls unter Verweis auf den o.g. Ausschlussgrund. Der dagegen eingelegte Widerspruch vom 05.07.2018 (W 2125/18) wurde bislang noch nicht beschieden. Die Antragstellerin ergänzte am 15.08.2018 die Widerspruchsbegründung und stellte zugleich einen Antrag auf Überprüfung des Ablehnungsbescheids vom 09.01.2018 gemäß § 44 SGB X.
Am 28.08.2018 hat die Antragstellerin einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Nürnberg beantragt. Die Antragstellerin sei leistungsberechtigt, das Existenzminimum beider Frauen erheblich unterdeckt. Die Antragstellerin meint, sie besitze ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) bzw. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügigkeitsG/EU. Die Unterhaltsgewährung der Tochter sei dazu ausreichend, da diese aus ihrem Verdienst und den Aufstockungsleistungen die gesamten Unterkunfts- und Heizkosten der gemeinsamen Wohnung übernehme und für ihre Ernährungs- und Krankheitskosten aufkomme. Sie verweist auf zwei vergleichbare Urteile (LSG Nordrhein-Westfalen, Az. L 7 AS 1512/17 vom 22.03.2018 und SG Augsburg, Az. S 8 AS 1071/17 vom 20.10.2017). Ausreichend für einen Leistungsanspruch sei, wenn, wie hier, nur eine Unterhaltsgewährung im geringfügigen Umfang erfolgen könne. Ein Leistungsausschluss nach SGB II läge nicht vor, deshalb kämen Leistungen nach SGB XII nicht in Betracht.
Die Antragstellerin beantragt,
der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung aufgrund des Widerspruchs vom 05.07.2018 gegen den Ablehnungsbescheid vom 27.06.2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung der hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten für die Wohnung A-Straße, A-Stadt in Höhe von 272,50 € zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Es liege kein Freizügigkeitsgrund nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG/EU (niedergelassene selbständige Erwerbstätige) vor, denn dafür genüge allein die Möglichkeit der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit nicht. Diese sei vielmehr tatsächlich auszuüben. Dies belege die Legaldefinition und ein Vergleich mit der Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügigkeitsG/EU. An einer tatsächlichen Ausübung fehle es hier.
Ferner meint der Antragsgegner, dass mangels Krankenversicherungsschutz auch § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügigkeitsG/EU nicht in Betracht komme. Die Freizügigkeitsberechtigung des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügigkeitsG/EU liege ebenfalls nicht vor. Die Antragstellerin würde nach deren Angaben zur Mietzahlung verpflichtet sein, was dazu führe, dass das zitierte Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen nicht einschlägig sei. Das Urteil des SG Augsburg könne ebenfalls nicht herangezogen werden können, da dort der Unterhalt einem Kind geleistet worden sei, eine entsprechende Lebenserfahrung oder Abhängigkeit habe hier nicht bestanden.
Würden der Antragstellerin ALG II-Leistungen gewährt, so entfiele das Freizügigkeitsrecht, da diese Leistungen dann an Stelle der bisherigen Unterhaltsgewährung durch die Tochter träten. Der Antragsgegner meint, dass die Antragstellerin allenfalls ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitssuche habe, was zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II führe.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts wegen der Einzelheiten auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Akte des Sozialgerichts verwiesen.
II.
Der Antrag ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Streitgegenständlich sind ALG II-Leistungen. Das Antragsbegehren umfasst nach Auslegung, § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG), aber auch (hilfsweise) etwaige Leistungen nach SGB XII, da die Antragstellerin im Schriftsatz nur aufgrund des von ihr abgelehnten Leistungsausschlusses dazu nicht näher ausführt. Es ist aufgrund des Meistbegünstigungsgrundsatzes und bei Erforschung des wirklichen Willens im Zweifel von einem umfassenden Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin auszugehen, die alles das zugesprochen haben möchte, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte (Lüdtke/Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, SGG § 123 Rn. 5-7, beck-online).
Nicht Gegenstand des Verfahrens sind, mangels Ausreiseabsichten, sog. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII. Diese Leistungen stellen kein „minus“ zu einer originären Leistungsbeantragung auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dar, sondern ein „aliud“, denn Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII dienen regelmäßig der existenziellen Absicherung eines rechtmäßigen Aufenthalts, die Überbrückungsleistungen zielen jedoch nur auf eine kurze überbrückende Absicherung des Aufenthalts bis zur Ausreise ab (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 02. August 2017 – L 8 SO 130/17 B ER -, Rn. 64).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer solchen Regelungsanordnung setzt voraus, dass nach materiellem Recht ein Anspruch auf die begehrte Leistung besteht (Anordnungsanspruch) und dass die Regelungsanordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig ist (Anordnungsgrund). Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl., § 86b Rn. 41).
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit – und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches – das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der Antragsteller sein Begehren stützt – voraus. Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und deshalb eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in den Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, droht, ist eine Versagung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur dann möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 – 1 BvR 1335/13); eine lediglich summarische Prüfung genügt nicht. Für eine Entscheidung aufgrund einer sorgfältigen und hinreichend substantiierten Folgenabwägung ist nur dann Raum, wenn eine – nach vorstehenden Maßstäben durchzuführende – Rechtmäßigkeitsprüfung auch unter Berücksichtigung der Kürze der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelmäßig zur Verfügung stehenden Zeit nicht verwirklicht werden kann, was vom zur Entscheidung berufenen Gericht erkennbar darzulegen ist (LSG Bayern, Beschluss vom 12.12.2017 – L 11 AS 850/17 B, Rn. 11 ff.).
Vorliegend fehlt es – bei abschließender Prüfung – an einem Anordnungsanspruch, da die Antragstellerin sowohl von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II, als auch von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB XII ausgeschlossen ist.
Für die Antragstellerin ergibt sich kein Aufenthaltsrecht, dass über eines zum Zweck der Arbeitssuche hinausginge, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b) SGB II. An der Europarechtskonformität dieses Leistungsausschlusses bestehen im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 02.06.2016 – C-233/14 (Rs. Alimanovic) – NVwZ 2016, 1076ff) und des BSG (Urteil vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 43) keine Zweifel (Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06. Februar 2017 – L 11 AS 887/16 B ER -, Rn. 8 – 15, juris). Von diesem Leistungsausschluss umfasst sind die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der EU, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (EU-Ausländer) und nicht über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verfügen (BSG, Urteil vom 30. August 2017 – B 14 AS 31/16 R -, BSGE (vorgesehen), SozR 4-4200 § 7 Nr. 53, Rn. 22).
Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig (i.S.d. § 8 SGB II) sowie hilfebedürftig (i.S.d. § 9 SGB II) sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin. Sie hat die maximale Altersgrenze für den ALG IIBezug noch nicht erreicht, Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit sind nicht dargelegt und sie ist nach der vorgelegten eidesstattlichen Erklärung derzeit nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen oder Vermögen zu bestreiten.
Allerdings verfügt sie über kein eigenes materielles Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 1, 2 FreizügigkeitsG/EU. Sie ist bislang nicht als Arbeitnehmerin in Deutschland tätig gewesen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügigkeitsG/EU) und hat auch keine ernsthaften Bemühungen der Arbeitssuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG/EU) in der entsprechenden Zeitspanne glaubhaft gemacht. Unionsbürger können sich grundsätzlich lediglich sechs Monate auf ihr Freizügigkeitsrecht als Arbeitssuchende berufen können. Ein längerer Aufenthalt ist nach dieser Vorschrift nur zulässig, wenn der Unionsbürger nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und begründete Aussicht darauf hat, eingestellt zu werden (BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 2 Rn. 26-30g, beck-online).
Für die im Rechtsschutzantrag geltend gemachte Niederlassungsfreiheit (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügigkeitsG/EU) genügt noch nicht einmal die Anmeldung eines Gewerbes oder ein Internetauftritt (Greiser in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23, Rn. 14).
Ausschlaggebend ist das Gesamtbild der Tätigkeit (OVG Hamburg, Beschluss vom 21.6.2010 – 1 B 137/10; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.1.2013 – L 14 AS 3133/12 B ER; Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 2 FreizügG/EU Rn. 70). Sie muss tatsächlich ausgeübt werden, eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen und darf – in Anlehnung an die Kriterien zur Arbeitnehmerfreizügigkeit – nicht „völlig untergeordnet und unwesentlich sein“ (EuGH, Urteil vom 23.3.1982 Rs. 53/81 Levin). Aufgrund dessen kann die bloße theoretische Möglichkeit einer Niederlassung nicht ausreichend sein.
Aufgrund dieser Feststellungen kommt die Fortwirkung der entsprechenden Status’ nach § 2 Abs. 3 FreizügigkeitsG/EU nicht in Betracht.
Da die Antragstellerin weder über ausreichenden Krankenversicherungsschutz noch über ausreichende Existenzmittel verfügt, scheidet ein Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU aus. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügigkeitsG/EU wurden nicht dargelegt. Mangels Ablauf entsprechender Aufenthaltszeiten besteht auch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügigkeitsG/EU. Auch für ein abgeleitetes Daueraufenthaltsrecht fehlen die erforderlichen Verbleibezeiten in Deutschland.
Da die Tochter über 25 Jahre alt ist, besteht keine Bedarfsgemeinschaft zwischen Antragstellerin und Tochter (§ 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II), so dass auch kein Anspruch der Antragstellerin aus § 7 Abs. 2 SGB II besteht.
Ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht aufgrund des Aufenthaltsrechts der Tochter besteht ebenfalls nicht. Diese ist als Bulgarin Unionsbürgerin. Wie sich aus den übermittelten Bezügemitteilungen ergibt, übt sie eine Teilzeitbeschäftigung aus. Daraus ergibt sich für die Tochter der Antragstellerin ein materielles Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügigkeitsG/EU bzw. bei einem – theoretisch möglichen – Beschäftigungsende zumindest eine aktuell noch bestehende Nachwirkung aus § 2 Abs. 3 Satz 1 oder 2 FreizügigkeitsG/EU.
Für die Antragstellerin kann sich daraus ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht aus § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG/EU ergeben, da sie als Mutter eine Verwandte aufsteigender Linie darstellt, mithin Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügigkeitsG/EU ist. Nach Auffassung des Gerichts fehlt es hier aber an einer ausreichenden Unterhaltsgewährung durch die Tochter. Die von der Antragstellerin zitierten Entscheidungen sind mit der vorliegenden Konstellation nicht vergleichbar, da sie entweder drittstaatsangehörige Familienangehörige betreffen oder aber unterhaltsbedürftige Unionsbürger, welche stets Verwandte absteigender Linie darstellten bzw. sie noch darüber hinaus aufgrund Schwangerschaft besonders schutzbedürftig und abhängig waren.
Aus der Gesetzesbegründung des FreizügigkeitsG/EU (Drucksache 15/420 vom 07. 02. 2003, S. 103, download unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/15/004/1500420.pdf) ist zwar ersichtlich, dass in § 4 FreizügigkeitsG/EU keine Bedarfseckwerte o.ä. als Orientierungswerte für eine ausreichende Unterhaltssicherung übernommen wurden. Somit ist auch davon auszugehen, dass eine Unterhaltssicherung in § 3 FreizügigkeitsG/EU entsprechend auszulegen ist und keine volle Unterhaltsleistung nach SGB II- oder SGB XII-Maßstäben erfolgen muss.
Dennoch fordert § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG/EU, dass die Unterhaltssicherung gerade durch den Unionsbürger, von welchem das Freizügigkeitsrecht abgeleitet wird, zu erfolgen hat – hier also durch die Tochter. Das Gericht hält es zwar für zulässig, an den Familienangehörigen nur eine anteilige Unterhaltsleistung oder aber einen Unterhalt in Form von Naturalien zu erbringen. Erfolgt die Unterhaltsleistung, wie hier, jedoch durch eine selbst ALG II in Anspruch nehmende Unionsbürgerin, dann wird der Unterhalt mittelbar auch durch den Sozialleistungsträger, nicht aber ausschließlich durch den nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG/EU verpflichteten Unionsbürger geleistet, da dieser ja bereits den eigenen Bedarf nicht abschließend decken kann. Sinn und Zweck dieser Regelung sprechen jedoch gegen ein solches Vorgehen. Das FreizügigkeitG/EU ist vor dem Hintergrund der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 zu interpretieren. Diese versucht, wie ihre Vorläuferregelungen, fiskalische Interessen der Aufnahmestaaten mit Freizügigkeitswägungen in Ausgleich zu bringen. Aus der zehnten Begründungserwägung der Richtlinie 2004/38/EG ergibt sich, dass das Aufenthaltsrecht von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen für eine Dauer von über drei Monaten bestimmten Bedingungen unterliegen darf. Begründungserwägung 16 weist auf die unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen als Grenze des Aufenthaltsrechts hin. Vor diesem Hintergrund ist § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigkeitsG dahingehend zu verstehen, dass zwingend eine Unterhaltsgewährung unmittelbar und ausschließlich durch den leistenden Unionsbürger sichergestellt sein muss, um ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht zu vermitteln.
Darüber hinaus würde eine künftige Übernahme der Existenzsicherung der Antragstellerin durch die beantragten ALG II-Leistungen dazu führen, dass dann der Bedarf abschließend dadurch gedeckt würde, wodurch das freizügigkeitsrechtsvermittelnde Unterhaltselement der Tochter wegfiele, was konsequenterweise auch auf das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin Auswirkungen zeigt und spätestens dann zu einem Leistungsausschluss führen würde.
Art. 7 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG zeigt durch den Verweis auf Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass dem Verwandten in aufsteigender Linie im Herkunftsland bereits Unterhalt gewährt worden sein muss oder der leistende Unionsbürger mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat bzw. schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen. Entsprechend fordern Nr. 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum FreizügigkeitsG/EU (AVV zum FreizügigkeitsG/EU) vom 03.02.2016, GMBl 2016 Nr. 5, S. 86 ff., dass zwar kein Unterhaltsanspruch, aber zumindest ein Abhängigkeitsverhältnis bereits im Herkunftsland bestanden haben muss (vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Az. L 4 AS 913/17 B ER, Beschluss vom 23.05.2018, Rn. 41, BeckOK AuslR/Tewocht FreizügG/EU § 3 Rn. 15-18, beck-online). Dieser Ansicht schließt sich das Gericht an. Entsprechende Aspekte wurden hier jedoch nicht glaubhaft gemacht.
Ein Aufenthaltsrecht der Klägerin nach dem Aufenthaltsgesetz, insbesondere vermittels der Günstigkeitsregelung in § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügigkeitsG/EU, das eine Ausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu rechtfertigen vermag, ist nicht ersichtlich.
Somit ergibt sich für die Antragstellerin kein Aufenthaltsrecht, welches über den Zweck der Arbeitssuche hinausginge. Aufgrund dessen steht neben dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. b) SGB II auch der Leistungsausschluss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII. Deshalb kann es dahinstehen, ob die Antragstellerin die weiteren Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen nach §§ 19 ff. SGB XII, §§ 27 ff. SGB XII oder §§ 41 ff. SGB XII erfüllen würde.
Die Beiladung des örtlichen Sozialhilfeträgers kann deshalb unterbleiben. Eine notwendige Beiladung setzt voraus, dass ein Anspruch gegen den Grundsicherungsträger in Betracht kommt, § 75 Abs. 2 SGG. Hierfür ist die ernsthafte Möglichkeit nötig, dass anstelle des Antragsgegners ein anderer Leistungsträger leistungspflichtig ist (Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 75, Rn. 12). Ein Anspruch gegenüber dem SGB XII-Leistungsträger auf Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung besteht nunmehr auf Grund des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Br. 2 SGB XII in der seit 29.12.2016 geltenden Fassung nicht mehr.
Das Gleichbehandlungsgebot des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) steht dem Leistungsausschluss der Klägerin als bulgarischer Staatsangehöriger nicht entgegen, denn das EFA ist schon nach seinem persönlichen Anwendungsbereich nicht einschlägig. Bulgarien ist kein Unterzeichnerstaat dieses Abkommens (BSG vom 20.1.2016 – B 14 AS 35/15 R – SozR 4-4200 § 7 Nr. 47 Rn. 30). Aufgrund deshalb kommt es auch nicht auf den von der Bundesregierung für den Anwendungsbereich des SGB II erklärten Vorbehalt an.
Eine Leistungsgewährung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer Folgenabwägung hat ebenfalls nicht zu erfolgen, da der Anordnungsanspruch der Antragstellerin abschließend verneint werden kann und grundgesetzliche Wertungen kein abweichendes Ergebnis gebieten (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, Az. 1 BvR 569/05 m.w.N. – zitiert nach juris). Der Leistungsausschluss nach SGB II und SGB XII ist zulässig. Den grundgesetzlichen Vorgaben genügend sind ggf. Überbrückungsleistungen zu gewähren (s.o), die – auch aufgrund der möglichen Härtefallregelung – dazu führen, dass ein Verstoß gegen Grundrechte nicht vorliegt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.02.2017, Az. L 23 SO 30/17 B ER – zitiert nach juris). Diese sind jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes wird daher abgelehnt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Gemäß § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhalten Beteiligte, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen können, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und die Rechtsverfolgung im Hinblick darauf, dass es sich um schwierige, höchstrichterlich nicht abschließend geklärte Rechtsfragen handelt, nicht mutwillig erschien (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO).


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