Verwaltungsrecht

Verlust des Freizügigkeitsrechts wegen strafrechtlicher Verurteilungen

Aktenzeichen  Au 1 K 19.614

Datum:
10.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27511
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 166
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
FreizügG/EU § 4a Abs. 7, § 6 Abs. 1 S. 1, S. 3, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (Rn. 22). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der am … 1982 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er wendet sich gegen den Verlust seines Freizügigkeitsrechts.
Er wurde in … geboren und besuchte hier die Grund- und Hauptschule, die er ohne Schulabschluss verließ. Der Kläger ist Vater eines 2003 geborenen Sohnes, welcher bei der Kindesmutter in Deutschland lebt. Der 5 Jahre jüngere Bruder, eine seiner Schwestern sowie seine Mutter leben in, eine Schwester in Italien. Zum Vater hat der Kläger keinen Kontakt mehr.
Der Kläger verbüßte von 1998 bis 2002 eine Jugendhaftstrafe und wurde mit Bescheid der Beklagten vom 20. September 1999 ausgewiesen, wobei die Sperrwirkung nachträglich auf den 31. Mai 2014 festgelegt wurde. Nach Ende der Haft verzog der Kläger zu seinem Onkel nach Italien, wo er sich im Wesentlichen bis April 2011 aufhielt. Lediglich von April 2005 bis Juli 2006 hielt er sich zur Verbüßung einer zweiten Haftstrafe in der Bundesrepublik auf. Nach seiner Wiedereinreise verbüßte er eine weitere Haftstrafe bis Mai 2013. Von seiner Entlassung an arbeitete er insgesamt 14 Monate in verschiedenen Arbeitsverhältnissen und bezog von September 2014 bis Dezember 2015 Leistungen nach dem SGB II. Von November 2016 bis April 2018 war der Kläger erneut inhaftiert und befindet sich seit April 2018 im Bezirkskrankenhaus ….
Der Auszug des Klägers aus dem Bundeszentralregister weist folgende Eintragungen auf: 1. Am 10. Februar 1998 verurteilte ihn das Amtsgericht … wegen versuchter bzw. vollendeter räuberischer Erpressung, Raubes bzw. schweren Raubes, gefährlicher Körperverletzung sowie versuchten bzw. vollendeten Diebstahls zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und neun Monaten.
2. Wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 40 Fällen, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 2 Fällen, Betrugs i.V.m. versuchtem unerlaubten Erwerb von Betäubungsmitteln in 2 Fällen und Diebstahl verhängte das Amtsgericht … am 26. September 2005 eine Jugendstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten.
3. Mit Urteil vom 30. August 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht … zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen aufgrund des Zulassens von Fahren ohne Fahrerlaubnis.
4. Wegen gemeinschaftlichen versuchten Diebstahls verhängte das Amtsgericht … am 9. September 2014 eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten.
5. Zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen verurteilte ihn das Amtsgericht … am 22. August 2016 wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln.
6. Mit Urteil vom 9. Juni 2017 verurteilte das Landgericht … den Kläger zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Der Kläger fuhr am 21. November 2016 zusammen mit seinem jüngerem Bruder und einem weiteren Mittäter nach, um dort Heroin zu erwerben. Dort kauften sie insgesamt 31,4 g Heroin zu einem Preis von 23,00 EUR bis 26,00 EUR pro Gramm. Anschließend traten sie in einem … ihre Heimreise nach … an und transportierten dabei das Heroin versteckt zwischen einem Sitzplatz und der Busaußenwand. Das Heroin war zum Eigenkonsum bestimmt. Bei einer Kontrolle an einem Autohof wurde das Heroin aufgefunden und sichergestellt. Das Geld für den Erwerb des Heroins und die Fahrkarten hatte der Kläger zur Verfügung gestellt.
Der Kläger begann während seiner ersten Inhaftierung, Haschisch und Heroin zu konsumieren. Seit dem 18. Lebensjahr konsumierte er Haschisch, Speed, Ecstasy, Kokain, Liquid Ecstasy, LSD, Meskalin und Heroin. Er leidet seit 2006 an Hepatitis C. Der Kläger nahm bereits dreimal an Methadonprogrammen teil. Seit dem 5. April 2018 befindet er sich in Behandlung in der Forensischen Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses …. Ausweislich eines Berichts vom 5. November 2018 sei ein positiver therapeutischer Verlauf feststellbar. Der Kläger setze sich intensiv mit seiner Straffälligkeit und Suchtproblematik auseinander, sei offen und hilfsbereit und halte sich an die Regeln. Die abgenommenen Drogenurinkontrollen seien unauffällig und auch aus dem klinischen Eindruck heraus gebe es keine Hinweise für einen Konsum. Der Kläger dürfe sich inzwischen auf dem Klinikgelände ohne Personalbegleitung bewegen und sei zuverlässig. Zwingende Gründe, warum die Therapie nicht erfolgreich durchlaufen werden könne, seien nicht ersichtlich.
Die Verurteilung des Landgerichts … vom 9. Juli 2017 nahm die Beklagte zum Anlass, mit Bescheid vom 12. April 2019 den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festzustellen (Ziffer 1). Die Wirkungen der Verlustfeststellung wurden auf vier Jahre ab der Ausreise befristet (Ziffer 2). In den Ziffern 3 und 4 wurde die Abschiebung des Klägers aus der Haft angeordnet bzw. für den Fall der Haftentlassung angedroht. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts stütze sich auf die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr. Er habe aufgrund seiner langjährigen Betäubungsmittelabhängigkeit Straftaten in erheblichem Umfang begangen und sei bereits in der Vergangenheit wegen seiner Suchterkrankung behandelt worden, jedoch immer wieder rückfällig geworden. Mangels beruflicher Qualifikation und hoher Schulden in Höhe von insgesamt 30.000 EUR sowie der zu Tage getretenen kriminellen Energie sei zweifelhaft, ob er sich künftig straffrei verhalten werde. Ihm sei eine Rückkehr nach Italien möglich und zumutbar, da er sich lange Jahre dort aufgehalten habe und Familienangehörige dort lebten. Dem Kläger stehe auch nicht der Schutz des Daueraufenthaltsrechts nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu, da er sich nicht fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zwar habe er sich ursprünglich auf einen rechtmäßigen Daueraufenthalt berufen können, dieser sei jedoch durch die Verlegung seines Lebensmittelpunkts in den Jahren 2002 und 2006 nach Italien erloschen. Unter Berücksichtigung des Wiedereinreisezeitpunkts 2011, der Sperrwirkung der Ausweisung bis 31. Mai 2014 sowie der verbüßten Haftzeiten sei seither kein erneuter Daueraufenthalt entstanden.
Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 30. April 2019 Klage erheben. Der Kläger fürchte im Falle einer Abschiebung nach Italien um sein Leben, da sein Onkel bei der Mafia sei und er aufgrund der familiären Bindungen ebenfalls ein Ziel darstelle. Er habe zudem mittlerweile wieder Kontakt zu seinem Sohn, der Lebensmittelpunkt sowie die wesentlichen sozialen Bindungen lägen in Deutschland. Nicht jeder begangene Rechtsverstoß bedrohe die öffentliche Ordnung. Dem Kläger sei zugute zu halten, dass er trotz verhängter Freiheitsstrafe nach Deutschland eingereist sei, um seine Haft anzutreten. Ursächlich für die zahlreichen Verurteilungen sei die Suchtmittelerkrankung des Klägers, welche durch die derzeitige Maßregel im Bezirkskrankenhaus … erfolgreich angegangen werde. Die Beklagte verkenne den anfänglichen Erfolg dieser Maßnahme, welcher mit ärztlichem Bericht vom 5. November 2018 festgestellt sei. Die Wiederholungsgefahr habe sich aufgrund dieser Maßnahme verringert. Soweit die Beklagte darauf abstelle, dass erst ein längerer drogenfreier Zeitraum nach Abschluss der Therapie vonnöten sei, verkenne sie die Tatsache, dass es sich vorliegend um eine Prognoseentscheidung handelt und die Prognose zum jetzigen Zeitpunkt zu treffen sei.
Der Kläger beantragt,
Der Bescheid der Beklagten vom 12. April 2019,, wird aufgehoben.
Für dieses Verfahren begehrt der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zunächst auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids. Eine konkrete Bedrohungslage bei der Rückkehr des Klägers nach Italien würde der Verlustfeststellung nicht entgegenstehen. Sie sei allerdings auch nicht erkennbar, da sich der Kläger zwischen 2006 und 2011 in Italien bzw. seit 2011 in Deutschland befunden habe, ohne durch die Mafia behelligt worden zu sein. Die familiären Bindungen des Klägers seien im Bescheid berücksichtigt worden, hierbei wären jedoch überwiegend erwachsene Familienmitglieder betroffen, die auf die Anwesenheit des Klägers nicht angewiesen seien. Der Sohn des Klägers sei bereits ohne den Kläger aufgewachsen und befinde sich in einem Alter, in dem er nachvollziehen könne, dass eine ausländerrechtliche Maßnahme nicht zum dauerhaften Verlust des Vaters führe. Von einer erfolgreichen Bekämpfung der Sucht sei nicht auszugehen, da die Therapiemaßnahme nach wie vor nicht (erfolgreich) abgeschlossen sei.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe konnte nicht entsprochen werden.
1. Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt. Denn die Rechtsverfolgung darf nicht in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert werden und unbemittelten Personen soll ein weitgehend gleicher Zugang zum Gericht ermöglicht werden wie Personen, denen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG, B.v. 4.5.2015 – 1 BvR 2096/13; Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 166 Rn. 26).
2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die in der Hauptsache erhobene Klage wird aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben. Die angegriffene Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts wird sich wohl als rechtmäßig erweisen und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheids ist die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berührt. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU darüber hinaus insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
b) Eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt vor. Der Kläger ist abhängig von Opiaten und wurde zuletzt mit Urteil des Landgerichts … vom 9. Juni 2017 wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Der Kläger war am 21. November 2016 zusammen mit seinem jüngeren Bruder und einem weiteren Mittäter nach Berlin gefahren, um dort Heroin zu erwerben. Bereits im Alter von 18 Jahren kam es bei ihm zum Erstkontakt mit Heroin. Seit diesem Zeitpunkt konsumierte er eine Vielzahl von Suchtmitteln, darunter Haschisch, Speed, Ecstasy, Kokain, Liquid Ecstasy, LSD, Meskalin und Heroin. Der Kläger nahm von 2002 bis 2003, 2007 bis 2010 sowie 2014 bis 2017 an Methadon- und Suchtprogrammen teil. Bis zum heutigen Tag ist es ihm dennoch nicht gelungen, von seiner Sucht loszukommen. Seit dem 5. April 2018 befindet sich der Kläger im Rahmen des Maßregelvollzugs in stationärer Behandlung des Bezirkskrankenhauses …. Zwar stellte das Bezirkskrankenhaus mit Bericht vom 5. November 2018 Fortschritte des Klägers bei der Bekämpfung der Sucht fest, diese Feststellungen lassen jedoch nicht auf eine geringere Wiederholungsgefahr schließen. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – juris Rn. 7; B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würden (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 4). Darüber hinaus erscheint ein Therapieerfolg aufgrund der bereits drei erfolglosen Versuche in der Vergangenheit äußerst fraglich. Angesichts der Gefährlichkeit der Droge Heroin sowie ihrem erheblichen Suchtpotential und der damit verbundenen Gefahr der Beschaffungskriminalität, welche sich im Falle des Klägers bereits realisiert hat, ist die zu erwartende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als so erheblich einzuschätzen, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt ist.
c) Den nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts (§ 4a FreizügG/EU) eintretenden erhöhten Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU kann der Kläger nicht für sich beanspruchen, da er sich nicht seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Ausweislich des in den Akten befindlichen Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung hat der Kläger nach seiner Rückkehr aus Italien und Verbüßung einer Haftstrafe im Juni 2013 ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis aufgenommen, so dass er ab diesem Zeitpunkt gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt war. Dieses Recht, dessen Fortbestand aufgrund des Sozialleistungsbezugs von September 2014 bis Dezember 2015 und des fehlenden Nachweises für die ernsthafte Absicht einer Arbeitsaufnahme ohnehin fraglich ist, endete spätestens mit seiner Inhaftierung am 22. November 2016, da er danach keinen der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU aufgeführten Tatbestände mehr erfüllte und sein Freizügigkeitsrecht davon auch nicht nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU unberührt blieb. Auf die Sperrwirkung der Ausweisungsverfügung vom 20. September 1999 kommt es nicht entscheidungserheblich an.
Das nach der Geburt bis zum Fortzug nach Italien im Jahr 2002 erworbene Daueraufenthaltsrecht ist gemäß § 4a Abs. 7 FreizügG/EU erloschen, da die Abwesenheit des Klägers von mehr als zwei aufeinanderfolgenden Jahren aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts führte. Auch eine besondere Privilegierung des Klägers nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kommt nicht in Betracht, da er sich nicht in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet aufgehalten hat, zumal die Verbüßung einer Freiheitsstrafe grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen (EuGH U.v. 16.1.2014 – C-400/12)
d) Die Beklagte hat ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Sie hat alle in § 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU aufgeführten Belange in ihre Entscheidung einbezogen und vertretbar gewichtet (§ 114 VwGO). Insbesondere hat sie zugunsten des Klägers seine Geburt in Deutschland, seine lange Aufenthaltszeit sowie seine hier bestehenden familiären Bindungen, insbesondere auch den Sohn, berücksichtigt. Trotz dieser gewichtigen Belange kam sie ermessensfehlerfrei zu dem Ergebnis, dass dem Kläger ein Leben in Italien möglich und zumutbar sei. Er hat dort bereits von 2002 bis 2005 bzw. 2006 bis 2011 gelebt und ist somit mit der Sprache sowie den Lebensverhältnissen dort vertraut. Es kann nicht beanstandet werden, dass die Beklagte den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Vorrang gegeben und die Wiederholungsgefahr als derart schwerwiegend gewichtet hat, dass die persönlichen Belange des Klägers zurückzutreten haben. Die Behauptung des Klägers, er werde von der Mafia verfolgt, wurde bislang weder substantiiert dargelegt noch bewiesen.
3. Auch die angegriffene Befristungsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Grundlage der Befristungsentscheidung ist § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU. Hiernach ist das mit der Verlustfeststellung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Die Vorschrift gewährt Unionsbürgern einen strikten Rechtsanspruch auf die Befristung (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 22). Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen.
Die von der Beklagten getroffene Befristungsentscheidung in Höhe von 4 Jahren ist nach Auffassung der Kammer rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die massive Drogenabhängigkeit des Klägers sowie die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr bezüglich Betäubungsmittelstraftaten in Relation zu seinen familiären und sozialen Beziehungen in Deutschland gesetzt und zutreffend gewichtet. Zu seinen Lasten spricht die massive Drogensucht. Trotz entsprechender Motivation ist es ihm bisher nicht gelungen, seine Suchterkrankung zu überwinden. Es besteht deshalb ein öffentliches Interesse an einer langjährigen gesetzlichen Sperrfrist, das die persönlichen Interessen des Klägers an einer baldigen Rückkehr überwiegt. Die Frist ist angesichts der derzeit vom Kläger ausgehenden Gefahr auch deshalb angemessen, weil die Sperrfrist, wenn dies aufgrund einer Veränderung der Prognosegrundlagen bzw. familiären Situation des Klägers gerechtfertigt ist, auf Antrag oder von Amts wegen zu verkürzen ist.
4. Auch die angegriffene Entscheidung über die Abschiebung aus der Haft bzw. aus dem Maßregelvollzug ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist der Kläger zur Ausreise verpflichtet, weil die Ausländerbehörde den Verlust seines Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. Da er sich im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids in Haft bzw. Maßregelvollzug befand, war eine freiwillige Erfüllung dieser Ausreisepflicht nicht gesichert. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG war deshalb die Abschiebung aus der Haft bzw. dem Maßregelvollzug heraus anzuordnen. Die für den Fall der Entlassung verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreisefrist findet ihre rechtliche Grundlage in § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU.


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