Verwaltungsrecht

Verlustfeststellung Freizügigkeitsrecht – erfolglose Beschwerde gegen Ablehnung von Prozesskostenhilfe

Aktenzeichen  19 C 21.847

Datum:
9.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 15845
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungs- und Verlustfeststellungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Entzugstherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 6 K 20.903 2021-02-24 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
Der Kläger, ein am … 1967 geborener rumänischer Staatsangehöriger, der in den Jahren 1992/1993 im Bundesgebiet erfolglos ein Asylverfahren betrieb, sich 1997 erneut in Deutschland aufhielt und mit Bescheid vom 16. Oktober 1997 ausgewiesen und sodann abgeschoben wurde, ersichtlich zu späteren Zeitpunkten erneut in das Bundesgebiet (ersichtlich zur Begehung von Straftaten) einreiste und zuletzt mit seit dem 31. März 2020 rechtskräftigen Urteil des Landgerichts B. vom 31. Januar 2020 wegen schweren Bandendiebstahls in sieben Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren (mit Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, Vorwegvollzug 1 Jahr 6 Monate) verurteilt wurde, verfolgt mit der Beschwerde seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klage gegen die mit Bescheid des Beklagten vom 24. August 2020 verfügte Verlustfeststellung seines unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts weiter.
Mit Beschluss vom 24. Februar 2021 hat das Verwaltungsgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die vom Kläger erhobene (nicht unterschriebene) Klage wohl zulässig sein dürfte, ohne aber in der Sache voraussichtlich Erfolg zu haben. Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung sei § 6 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (im Folgenden FreizügG/EU). Es liege eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigende hinreichende schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Kläger vor, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Der Kläger habe in regelmäßigen Abständen immer wieder Eigentumsdelikte begangen, ohne sich von strafrechtlichen Verurteilungen beeindrucken zu lassen. Es bestehe die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten gegen das Eigentum und das Vermögen Dritter. Der Kläger habe in Deutschland nie gearbeitet, verfüge über keinen festen Wohnsitz und habe keine familiären Beziehungen im Bundesgebiet. Er habe seinen familiären, sozialen und wirtschaftlichen Lebensmittelpunkt vor seiner Inhaftierung nicht in Deutschland, sondern in seinem Heimatland Rumänien gehabt. Der Umstand, dass er sich im Maßregelvollzug zur Behandlung seiner Suchterkrankung befinde, lasse die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Dem Urteil des Landgerichts vom 31. Januar 2020 sei zu entnehmen, dass die abgeurteilten Taten maßgeblich auf der Suchterkrankung beruhten, der Kläger die Taten jedenfalls auch zur Finanzierung seiner Suchterkrankung begangen habe und aufgrund der langjährigen Abhängigkeit die künftige Begehung weiterer erheblicher Straftaten zu befürchten sei. Der Beklagte habe auch nach pflichtgemäßem Ermessen gehandelt. Der Kläger habe keinen Anspruch darauf, dass mit der erforderlichen Gefährdungsprognose bis zum etwaigen Abschluss einer Therapie zugewartet werde. Auch die Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet für die Dauer von sieben Jahren sei rechtlich nicht zu beanstanden.
Hiergegen richtet sich die nicht begründete Beschwerde des Klägers.
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen, weil die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten besitzt.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die bereits dann gegeben ist, wenn bei summarischer Überprüfung ein Obsiegen ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. Happ in Eyermann, VwGO Komm., 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, wenn also dieser vollständig vorliegt und der Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung hatte.
Nach diesen Maßgaben ist vorliegend weder zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine hinreichende oder auch nur offene Erfolgsaussicht zu erkennen.
Der Kläger, der die erhobene Beschwerde nicht begründet hat und zur Begründung seines Prozesskostenhilfeantrags vorgetragen hatte, die zuständige Strafvollstreckungskammer habe festgestellt, dass eine Behandlung seiner Alkoholsucht in einer Entziehungsanstalt erforderlich und deshalb ein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland notwendig sei, erfüllt (wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat) die Voraussetzungen für den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 FreizügG/EU.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungs- und Verlustfeststellungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
Zu Recht weist das Verwaltungsgericht darauf hin, dass der Kläger (selbst wenn einzelne oder alle der Verurteilung vom 31.1.2020 vorangegangenen strafrechtlichen Verurteilungen zwischenzeitlich nicht mehr verwertbar sein sollten, vgl. § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU) schon allein durch die dem strafgerichtlichen Urteil vom 31. Januar 2020 zugrundeliegenden Taten in erheblichem Maße strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Zu Recht führt das Verwaltungsgericht aus, dass (bereits) diese strafrechtliche Verurteilung hinreichenden Anlass für eine rechtmäßige Verlustfeststellung bietet. Auch hat nach den strafgerichtlichen Feststellungen der Kläger die Taten auch begangen, um seine eigene Alkoholsucht zu finanzieren. Der Sachverständige Dr. M. stellte in seinem Gutachten fest, dass der Kläger unter einem Abhängigkeitssyndrom von Alkohol sowie an Spielsucht leide. Das Strafgericht bejahte deshalb das Vorliegen der Voraussetzungen des § 64 StGB, da beim Kläger ein Hang vorliege, Alkohol im Übermaß zu konsumieren, die abgeurteilten Straftaten maßgeblich auf diesem Hang beruhten, da die Taten im Wesentlichen zur Beschaffung von Geldmitteln bzw. Geldquellen und jedenfalls auch zur Finanzierung der Abhängigkeit dienten, zudem ausgehend von den Taten im vorliegenden Verfahren und dem bisherigen Lebensweg mit einer langjährigen Abhängigkeit des Klägers die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er zukünftig weitere erhebliche rechtswidrige Taten, insbesondere zur Finanzierung seiner Sucht und zum Begleichen von Spielschulden begehen werde, wenn seine Abhängigkeit nicht wirksam und nachhaltig behandelt werde.
Die durch die Delinquenz indizierte Gefährlichkeit des Klägers ist bislang nicht beseitigt.
Der Kläger befindet sich seit dem 24. September 2020 im Maßregelvollzug. Er kann bislang keinen erfolgreichen Abschluss der Therapie vorweisen. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann daher schon aus diesem Grund nicht ausgegangen werden.
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Entzugstherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (z.B. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – juris Rn. 9). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Dahinstehen kann, inwieweit beim Kläger eine von der Suchtproblematik unabhängige durch die Delinquenz indizierte Gefährlichkeit vorliegt.
Ebenso wenig ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Beklagte habe das ihm eingeräumte Ermessen bei Erlass der Verlustfeststellung pflichtgemäß ausgeübt, zu beanstanden. Insbesondere weist das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hin, dass der Kläger keinen Anspruch darauf hat, solange in einer Therapieeinrichtung in der Bundesrepublik zu verbleiben, bis seine Suchterkrankung geheilt ist und keine negative Gefahrenprognose mehr besteht (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 16.4.2020 – 10 ZB 20.536 – juris Rn. 9; B.v. 3.4.2019 – 19 ZB 18.1011 – juris Rn. 18; OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.5.2019 – OVG 11 N 123.16 – juris Rn. 11). Relevante soziale Bindungen und Verhältnisse betreffend das Bundesgebiet hat der Kläger im Übrigen nicht vorgetragen.
Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die verfügte Befristung der Wirkungen der Verlustfeststellung auf eine Dauer von sieben Jahren unverhältnismäßig und damit ermessensfehlerhaft sein könnte. Zu Recht weist das Verwaltungsgericht insoweit auf die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten durch den Kläger und dessen fehlende schutzwürdige Bindungen im Bundesgebiet hin. Auch ist grundsätzlich eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht vorgesehen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 23). Die vom Beklagten getroffene Abwägung ist insoweit nicht zu beanstanden.
Anzumerken ist, dass das im Verlustfeststellungsbescheid dargelegte Verhalten des Klägers auch eine schwerwiegende Gefahr der öffentlichen Ordnung im Sinn des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU belegen würde.
Die Kostentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO). Einer Streitwertfestsetzung bedurfte es im Hinblick auf § 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum GKG nicht.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO).


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