Verwaltungsrecht

Verschuldete Versäumung der Klagefrist

Aktenzeichen  W 6 K 19.1142

Datum:
15.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 510
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 60, § 74

 

Leitsatz

1. Eine schuldhafte Fristversäumung liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war; dies gilt auch hinsichtlich der Kenntnis vom Wegfall des Hindernisses und der Erkenntnis, dass die Frist versäumt wurde sowie hinsichtlich möglicher, angesichts der kompletten Umstände des Falles zu erwartender zumutbarer Bemühungen, die bestehenden Hindernisse zu überwinden und zu beseitigen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch Fahrlässigkeit kann die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ausschließen, wenn dem Betroffenen nach dem gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat bzw. nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt; wesentlich sind immer die konkreten Umstände des Einzelfalls. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Krankheit ist nur dann ein entschuldbares Hindernis, wenn es sich um eine schwere und plötzliche Erkrankung handelt, infolgedessen der Erkrankte die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten damit beauftragen kann; nichts anderes kann bezüglich einer Überlastungssituation gelten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn ich die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
Die erhobene Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019 ist bereits unzulässig, da der Kläger die Klagefrist gemäß § 74 VwGO versäumt hat (hierzu unter Nr. 1). Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gemäß § 60 VwGO rechtfertigen könnten, lagen nicht vor und sind insbesondere nicht in der geltend gemachten “Postphobie” zu sehen. Auch wurden die Gründe nicht fristgemäß geltend gemacht (hierzu unter Nr. 2). Im Einzelnen:
1. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage – wenn ein Widerspruchsbescheid nicht erforderlich ist – innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe eines Verwaltungsakts erhoben werden. Die Frist beginnt nach § 58 Abs. 1 VwGO jedoch nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist, ansonsten die Einlegung des Rechtsbehelfs noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung möglich ist (§ 58 Abs. 2 VwGO).
Im vorliegenden Fall war der Bescheid der Beklagten vom 4. April 2019, mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung:versehen und wurde dem Kläger ausweislich der in der Behördenakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 9. April 2019 durch Einlegung in den zur Wohnung des Klägers gehörenden Briefkasten zugestellt. Dies wird vom Kläger auch nicht bestritten. Die Frist für die Klageerhebung begann somit am 10. April 2019 und endete am 9. Mai 2019 (§ 57 VwGO i.V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1, Abs. 12 Alt. 1 BGB). Die Klageerhebung erfolgte jedoch erst am 22. August 2019. Die Klagefrist war somit versäumt.
2. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 63 Abs. 2 VwGO). Über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet das Gericht, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat.
Eine schuldhafte Fristversäumung liegt vor, wenn der Betroffene hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dies gilt auch hinsichtlich der Kenntnis vom Wegfall des Hindernisses und der Erkenntnis, dass die Frist versäumt wurde sowie hinsichtlich möglicher, angesichts der kompletten Umstände des Falles zu erwartender zumutbarer Bemühungen, die bestehenden Hindernisse zu überwinden und zu beseitigen. Auch Fahrlässigkeit kann die Wiedereinsetzung ausschließen. Es kommt darauf an, ob dem Betroffenen nach dem gesamten Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat bzw. nicht alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, damit das Hindernis baldmöglichst wegfällt. Wesentlich sind immer die konkreten Umstände des Einzelfalls (Kopp/Schenke, VwGO, 25. A. 2019, § 60, Rn. 9).
2.2 Der Kläger hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 31. August 2019 ausgeführt, dass er gelegentlich Phasen habe, in denen er nicht in der Lage sei, amtliche Briefe zu öffnen. Er führe dies auf seine Scheidung zurück, die finanziell und nervlich sehr belastend gewesen sei. Entsprechendes wurde im Schriftsatz des Bevollmächtigten ausgeführt. In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar 2019 hat der Kläger auf Fragen des Gerichts ergänzend ausgeführt:
Seine Scheidung sei im Jahr 2007 erfolgt. Seine drei Kinder hätten dann bei seiner Frau gelebt. Er habe jedoch regelmäßigen Kontakt mit ihnen gehabt. Die Kinder seien zwischenzeitlich erwachsen. Er habe dann eine Lebensgefährtin gehabt mit vier problematischen Kindern. Von dieser habe er sich 2011/2012 getrennt. Es sei ihm damals alles über den Kopf gewachsen und es sei ihm die Kraft ausgegangen. Den Zimmereibetrieb habe er von 1993 bis 2015 betrieben. 2015 habe er seinen Bevollmächtigten wegen seiner Schulden konsultiert. Anfang letzten Jahres habe er nunmehr jemanden kennen gelernt. Diese Person motiviere ihn, sich durch seine Angelegenheiten durchzukämpfen.
Weiterhin erklärte der Kläger auf Fragen des Gerichts: Nachdem er auf dem Marktplatz in K. gerüchteweise erfahren habe, dass seine Gaststätte geschlossen werden solle, habe er sich an seinen Bevollmächtigten gewandt. Er sei dann mit seinem Sohn für vier Tage in den Bayerischen Wald in Urlaub gefahren. Nach Rückkehr habe er mit seinem Bevollmächtigten telefoniert und dieser habe ihm gesagt, dass der Bescheid existent sei. Daraufhin habe er dann begonnen mit Hilfe seiner Lebensgefährtin die Post zu öffnen und habe den streitgegenständlichen Bescheid gefunden. Er habe sich dann mit seinem Bevollmächtigten beraten, was zu tun sei.
Auf Frage des Gerichts, was der Kläger damit meine, dass er gelegentlich Phasen habe, in der er Post nicht öffnen könne, erklärt der Kläger: Dies sei dann der Fall, wenn er in schlechter Erwartung sei. Er neige dann dazu das Ganze beiseite zu legen. Seit der Trennung, auch der zweiten Trennung von der Lebensgefährtin, habe er gewusst, dass er da Probleme habe. Richtig schlimm sei es dann in den Jahren 2018 und 2019 geworden. Er habe sich noch um das “Überlebensnotwendige”, wie z.B. die Kfz-Versicherung, gekümmert; alles andere habe er schleifen lassen. Er sei seit 1993 selbständig gewesen. Er sehe es so, dass er eine Phase großer Überlastung gehabt habe, insbesondere die Zeit mit den “Stiefkindern”. Im Jahr 2012 sei er mit der Zimmerei auf 20.000,00 EUR sitzengeblieben. Im Jahr 2015 sei der letzte Auszubildende fertig geworden. Er habe dann die Zimmerei aufgegeben, weil es neben dem Betrieb der Gaststätte zu viel geworden sei.
Auf Frage, was der Kläger gegen die Postphobie unternommen habe, erklärt er: Bei einem Arzt sei er nicht gewesen, weil er davon ausgegangen sei, dass er dies alles selbst bezahlen müsse. Zum damaligen Zeitpunkt habe er keine Krankenversicherung gehabt. Mittlerweile habe er eine Krankenversicherung. Er befinde sich auch heute nicht in ärztlicher Behandlung. Es gehe ihm gut. Er habe eine neue Beziehung. Er könne seine Post öffnen.
2.3 Bei Würdigung des klägerischen Vorbringens kann eine unverschuldete Fristversäumung nicht festgestellt werden. Eine Krankheit ist nur dann ein entschuldbares Hindernis, wenn es sich um eine schwere und plötzliche Erkrankung handelt, infolgedessen der Erkrankte die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten damit beauftragen kann (Kopp/Schenke, a.a.O., § 60 Rn. 13 unter Hinweis auf weitere Rechtsprechung; FG Rheinland-Pfalz, U.v. 23.4.2008 – 1 K 2525/07 – juris, betreffend eine Phobie gegen amtliche Schreiben). Nichts anderes kann bezüglich einer Überlastungssituation gelten.
Aus dem oben dargestellten Vorbringen des Klägers wird deutlich, dass er bereits seit längerer Zeit – beginnend nach seiner Scheidung im Jahr 2007 und sich in den Folgejahren verstärkend – Probleme hatte, Post, bei der er in “schlechter Erwartung” gewesen ist, zu öffnen. Stattdessen legt er diese beiseite und beachtete sie nicht weiter (“Er neige dazu das Ganze beiseite zu legen.”). Diese problematische Verhaltensweise war ihm auch bewusst (“Seit der Trennung, auch der zweiten Trennung von der Lebensgefährtin habe er gewusst, dass er da Probleme habe. Richtig schlimm sei es in den Jahren 2018 und 2019 geworden”). Ob dieser Verhaltensweise Krankheitswert zugesprochen werden kann, kann dahinstehen. Aktuell sieht der Kläger für sich keinen ärztlichen Behandlungsbedarf (“Er habe eine neue Beziehung. Er könne die Post öffnen.”). Auch für die Vergangenheit, insbesondere für die Jahre 2018 und 2019, kann letztlich dahinstehen und bedarf keiner gutachterlichen Aufklärung, ob der Postphobie des Klägers Krankheitswert zugemessen werden kann, denn der Kläger war sich seiner problematischen Verhaltensweise bewusst und es kann auch nicht festgestellt werden, dass er handlungsunfähig gewesen wäre. Insofern handelte es sich weder um eine plötzliche und unvorhergesehene Erkrankung bzw. Überlastungssituation und der eigene Sachvortrag des Klägers zeigt, dass er – trotz der Postphobie – durchaus noch in der Lage war, angemessen auf für ihn schwierige Situationen zu reagieren. So hat er sich nach seinem Vortrag etwa anlässlich der früheren Anregung einer Gewerbeuntersagung im Jahr 2017 durch die AOK Bayern an seinen Bevollmächtigten gewandt, der diese Angelegenheit für ihn geregelt hat. Auch hat er sich, als er im August 2019 gerüchteweise von der Schließung seiner Gaststätte erfahren hat, sich umgehend an seinen Bevollmächtigten gewandt, der dieser Sache nachgehen sollte. Auch hat er, nachdem er von der Existenz des streitgegenständlichen Bescheides erfahren hat, mit Unterstützung seiner derzeitigen Lebensgefährtin am 10./11. 2019 seine Post geöffnet. Letztlich ursächlich für die Fristversäumnis war somit zur Überzeugung des Gerichts nicht eine eventuelle Erkrankung (Phobie), sondern der Umgang des Klägers mit dieser Problematik, nämlich “alles schleifen zu lassen” und sich nicht rechtzeitig Hilfe zu holen. Es wäre dem Kläger möglich gewesen, sich zumindest private Unterstützung zu holen. Dies wäre ihm auch zumutbar gewesen. Der Kläger hat drei erwachsene Kinder, zu denen er auch Kontakt hat, und es ist nicht ersichtlich, dass nicht auch sonstige Unterstützung (durch Freunde, Bekannte, Mitarbeiter, Bevollmächtigte, Betreuer) möglich gewesen wäre. Da sich der Kläger somit, obwohl er sich seiner Problematik bewusst und handlungsfähig war, weder in eine professionelle Behandlung begeben noch sonstige soziale Unterstützung organisiert hat, war er nicht ohne Verschulden gehindert gewesen, die Post der Beklagten zu öffnen und damit rechtzeitig Klage zu erheben. Der Wiedereinsetzungsantrag konnte deshalb keinen Erfolg haben.
Hinzu kommt, dass auch der Wiedereinsetzungsantrag auch verspätet erhoben wurde. Spätestens am 7. August 2019 hatte der Kläger anlässlich des Telefonats mit seinem Bevollmächtigten, der zuvor Akteneinsicht bei der Beklagten genommen hatte, positive Kenntnis von der Existenz des Bescheides und dessen Zustellung mit Postzustellungsurkunde. Ab diesem Zeitpunkt ist vom Wegfall des Hindernisses gemäß § 60 Abs. 2 VwGO auszugehen, sodass die 2-wöchige Frist zur Erhebung der Klage am (Mittwoch) 8. August 2019 begann und am (Mittwoch) 21. August 2019 endete (§ 57 VwGO i.V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1, Abs. 12 Alt. 1 BGB). Die Klageerhebung erfolgte jedoch erst am 22. August 2019. Gründe für eine Wiedereinsetzung in die versäumte Wiedereinsetzungsfrist wurden nicht vorgetragen.
Die Klage konnte daher insgesamt keinen Erfolg haben und war bereits mangels Zulässigkeit abzuweisen. Auf die Begründetheit der Klage war daher nicht mehr einzugehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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