Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, Aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen, Antragsgegner, Angaben des Antragstellers, Geplante Abschiebung, Abschiebungsverbot, Aussetzung der Abschiebung, Unmöglichkeit der Abschiebung, Abschiebungshindernis, Abschiebungsversuch, Abschiebungsgewahrsam, Abschiebungsschutz, Abschiebungsandrohung, Ausreisepflicht, Einstweilige Anordnung, Prozeßbevollmächtigter, Elterliche Verantwortung, Erteilung einer Duldung, Unmöglichkeit der Ausreise, Bestandskräftiger Bescheid

Aktenzeichen  M 10 E 20.6771

Datum:
21.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1176
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 60a

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Aussetzung seiner Abschiebung in die Ukraine.
Der Antragsteller wurde am … April 1988 in der ehemaligen Sowjetunion geboren und hat die ukrainische Staatsangehörigkeit. Zusammen mit seinen Eltern reiste er im Dezember 1994 im Rahmen der Aufnahme jüdischer Emigranten aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ebenfalls im Dezember 1994 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Der Antragsteller ist an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankt und befindet sich seit längerem in psychiatrischer Behandlung.
Am 29. Oktober 2020 schloss er mit einer deutschen Staatsangehörigen die Ehe. Nach Angaben des Antragstellers besteht die Lebensgemeinschaft seit längerem. Er fungiere als eine Art Ersatzvater für den Sohn seiner Frau aus einer früheren Beziehung. Hierzu wurde eine ärztliche Bescheinigung der Kinderarztpraxis am …park in … vom 19. Mai 2020 vorgelegt, wonach der Sohn der Ehefrau des Antragstellers von klein auf mit seiner leiblichen Mutter und seinem Stiefvater aufwachse, zu dem er eine vertrauens- und liebevolle Bindung habe und dem nun eine Abschiebung drohe (BA Bl. 1012). Die Ehefrau des Antragstellers ist schwanger. Der Geburtstermin wurde auf den 17. April 2021 berechnet.
Wegen diverser Straftaten wurde der Antragsteller mit bestandskräftigem Bescheid vom 11. Februar 2008 (BA Bl. 146) aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ihm die Wiedereinreise untersagt. Zudem enthielt der Bescheid die Angabe, dass der Antragsteller, für den Fall, dass er der bestehenden Ausreisepflicht nicht nachkomme, geduldet werde.
Seit dem Jahr 2015 wurden dem Antragsteller wiederholt Duldungen ausgestellt, zuletzt am 10. Dezember 2019 mit Befristung bis 4. Juni 2020 (BA Bl. 755).
Mit Bescheid vom 12. März 2020 (BA Bl. 540 ff.) widerrief die Antragsgegnerin die bis 4. Juni 2020 gültige Duldung des Antragstellers, forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung des Bescheids zu verlassen und drohte ihm andernfalls die Abschiebung in die Ukraine an. Zudem erließ sie (erneut) ein Einreise- und Aufenthaltsverbot und befristete dieses unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit auf sechs Jahre, andernfalls auf acht Jahre ab dem Tag der Ausreise.
Die hiergegen erhobene und zudem auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Duldung gerichtete Klage wurde von dem Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 6. August 2020 abgewiesen (M 12 K 20.1283 – bisher nicht veröffentlicht). Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, der Antragsteller habe widersprüchliche Angaben zur Frage des Zusammenwohnens mit seiner Lebensgefährtin und deren Kind gemacht. So habe er im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vortragen lassen, er wohne seit zwei Jahren mit der Lebensgefährtin zusammen und beabsichtige, deren Kind zu adoptieren. Unter dem 6. Mai 2020 habe der Prozessbevollmächtigte vorgetragen, der Antragsteller beabsichtige mit seiner Verlobten „im Falle der Klärung seiner ausländerrechtlichen Situation zusammenzuziehen und deren Kind zu adoptieren“. In der mündlichen Verhandlung habe der Antragsteller vorgetragen, er wohne ab und zu auch in der Wohnung seiner Lebensgefährtin in … Diese Angaben des Antragstellers lassen sich auch der in diesem Verfahren vorgelegten Behördenakte entnehmen (BA Bl. 1036, 1076).
Mit Beschluss vom 12. November 2020 lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil vom 6. August 2020 ab (10 ZB 20.2257 – juris). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung zulasten des Antragstellers zu berücksichtigen sei, dass die Ehe mit seiner Lebensgefährtin im beiderseitigen Wissen um seine vollziehbare Ausreisepflicht und unsichere Aufenthaltsperspektive geschlossen worden sei. Bezüglich des noch ungeborenen Kindes sei ebenfalls nicht aufgezeigt, dass ein Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Duldung wegen der aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen von Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) bestehe. Zum einen sei nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bereits fraglich, ob bei dem Kläger tatsächlich mit der Übernahme der elterlichen Verantwortung und der gemeinsamen Erziehung des Kindes gerechnet werden könne. Zum anderen sei mangels einer bereits gelebten schützenswerten Vater-Kind-Beziehung mit Blick auf den voraussichtlichen Geburtstermin im April 2021 auch insoweit nicht dargelegt, dass die Nachholung eines Visumsverfahrens zur Erteilung einer familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG für den Antragsteller – zum Beispiel infolge einer Risikoschwangerschaft oder einer sonstigen besonderen Hilfsbedürftigkeit der Ehefrau – unzumutbar sei.
Am 8. September 2020 stellte der Antragsteller einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. Oktober 2020 als offensichtlich unbegründet abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen und ihm unter Setzung einer einwöchigen Ausreisefrist die Abschiebung in die Ukraine angedroht. Die hiergegen erhobene Klage ist noch am Verwaltungsgericht München anhängig (M 29 K 20.32988). Der ebenfalls gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wurde mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 abgelehnt (M 29 S 20.33390).
Seit 16. Dezember 2020 befindet sich der Antragsteller in Abschiebegewahrsam in der Justizvollzugsanstalt
Für den Antragsteller war zunächst für den 18. Dezember 2020 eine Abschiebung in die Ukraine geplant. Weil sich der Antragsteller selbst verletzte, als er zum Flughafen verbracht werden sollte, wurde die Abschiebung storniert. Der Antragsteller hatte zudem damit gedroht, sich eine Überdosis Insulin zu spritzen, sollte er abgeschoben werden (BA Bl.1244 ff.).
Ein erneuter Abschiebungsversuch ist für den 29. Januar 2021 im Rahmen einer Sammelabschiebung in die Ukraine geplant.
Mit Schreiben vom 21. Dezember 2020 (BA Bl. 807) beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG.
Ebenfalls mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2020 ließ der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht München beantragen,
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, einstweilen von der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragstellers durch Abschiebung in die Ukraine abzusehen.
Zur Begründung wird vorgetragen, dem Antragsteller sei es vor dem Hintergrund der Wertentscheidung des Art. 6 GG nicht zumutbar, seine familiären Beziehungen dauerhaft oder über einen nicht absehbaren Zeitraum durch seine Ausreise zu unterbrechen. Es sprächen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger – anders als vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 12. November 2020 angenommen – bereit sei, elterliche Verantwortung zu übernehmen. So habe er seine Lebensgefährtin geheiratet und kümmere sich um deren minderjährigen Sohn aus einer früheren Beziehung. Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung sei die bevorstehende Vaterschaft eines bereits im Bundesgebiet lebenden Ausländers hinsichtlich eines ungeborenen Kindes einer deutschen Staatsangehörigen geeignet, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses zu begründen, wenn entweder der Schutz der Familie nach Art. 6 GG oder die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitende Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter oder des ungeborenen Kindes dies gebieten würden oder wenn beide Elternteile wie im vorliegenden Fall bereits in Verhältnissen leben, welche eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten ließen und eine vorübergehende Ausreise zur Durchführung eines Sichtvermerkverfahrens nicht zumutbar sei.
Der Antragsteller legte eine ärztliche Bescheinigung der Frauenklinik am Englischen Garten vom 21. Dezember 2020 vor, ausweislich derer sich seine Ehefrau seit dem 19. Dezember 2020 stationär in der Klinik befinde. Bei ihr sei eine vorzeitige Wehentätigkeit mit Frühgeburtsbestrebungen diagnostiziert worden. Die Ehefrau des Antragstellers befinde sich in einer besonderen Stresssituation. Zudem sei bei einer Untersuchung am 14. Dezember 2020 bei dem Säugling eine Fehlbildung der Füße (sog. Klumpfuß) festgestellt worden. Im Übrigen wird auf die Bescheinigung Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 29. Dezember 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Duldung ab, da aus ausländerbehördlicher Sicht kein Duldungsgrund erkennbar sei (BA Bl. 810).
Mit Schriftsatz vom 8. Januar 2021 beantragt die Antragsgegnerin:
Der Antrag wird abgelehnt.
Zur Begründung wird vorgetragen, dass ein Anordnungsanspruch nicht gegeben sei. Die Ausreise des Antragstellers sei nicht rechtlich unmöglich. Der Antragsteller habe die Vaterschaft nach Kenntnis der Antragsgegnerin nicht anerkannt. Nach Kenntnis der Antragsgegnerin werde die Ehefrau des Antragstellers nicht mehr stationär behandelt und habe den Antragsteller in mindestens einem Fall in der Justizvollzugsanstalt besucht. Es sei unklar, ob die Eheleute vor der Inhaftierung in häuslicher Lebensgemeinschaft zusammengelebt hätten. In einem früheren Rechtsmittelverfahren sei zunächst vorgetragen worden, dass eine häusliche Gemeinschaft bestehe. Nachdem dies dem Sozialamt bekannt geworden sei und die Leistungen der damaligen Lebensgefährtin gekürzt worden seien, habe man die häusliche Gemeinschaft verneint. Der Antragsteller sei nach wie vor ausschließlich in … gemeldet, seine Ehefrau ausschließlich in …
Am 26. Mai 2020 war die Polizei zu einer Streitigkeit in die Wohnung der Ehefrau des Antragstellers in … gerufen worden. Anwesend waren dabei der Antragsteller, seine Ehefrau und deren Sohn. Seine Ehefrau und deren Sohn wurden zur Vermeidung einer Gefährdung der Wohnung verwiesen. Die Wohnung war bereits bei Eintreffen der Polizeibeamten verwüstet. So wurden unter anderem Blutspuren an den Wänden, herausgerissene Türen, fehlende Teile an Einrichtungsgegenständen, ein angebrochenes Waschbecken sowie vom Balkon geworfene Balkonmöbel festgestellt. Der Antragsteller drohte den Polizeibeamten mit dem Tode und einem Amoklauf und ging zeitweise mit einem Messer bewaffnet auf die Polizeibeamten zu (BA Bl. 1129 ff., Bl. 1160 ff.).
Die Ehefrau des Antragstellers hat diesen am 18. Dezember 2020 und am 14. Januar 2021 in der Justizvollzugsanstalt besucht.
Am 28. Dezember 2020 stellte die Ehefrau des Antragstellers in dessen Namen einen Antrag auf Beurkundung der Anerkennung der Vaterschaft für das ungeborene Kind.
Mit Schreiben vom 14. Januar 2021 forderte das Gericht den Antragsteller auf, ein aussagekräftiges fachärztliches Attest zur Schwangerschaft seiner Ehefrau vorzulegen und zur tatsächlichen Wohnsituation des Antragstellers vor dem Abschiebegewahrsam Stellung zu nehmen.
Unter dem 15. Januar 2021 führte der Bevollmächtigte des Antragstellers aus, die Eheleute hätten vor der Inhaftierung zusammengelebt. Bei der Münchner Adresse des Antragstellers handle es sich um seine Meldeadresse, tatsächlich habe er mit seiner Ehefrau und deren gemeinsamen Sohn in … zusammengelebt. Die Ehefrau des Antragstellers sei mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen worden. Trotzdem handle es sich um eine Risikoschwangerschaft, bei der jederzeit mit vorzeitiger Wehentätigkeit mit Frühgeburtsbestrebungen zu rechnen sei. Zum anderen liege bei dem Säugling eine Fehlbildung der Füße vor.
Zudem wurde ein ärztliches Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin vom 18. Januar 2021 vorgelegt. Danach habe sich die Ehefrau des Antragstellers am selben Tag in der hausärztlichen Praxis vorgestellt. Sie sei schwer psychisch belastet, was die Schwangerschaft gefährde. Aus medizinischer Sicht bestehe eine Risikoschwangerschaft mit der Gefahr einer Frühgeburt. Die Ehefrau des Antragstellers benötige äußerst dringend Bettruhe und sei auf die Hilfe ihres Ehemannes dringend angewiesen.
Die Antragsgegnerin hat in Vorbereitung der nun geplanten Abschiebung eine Stellungnahme des Anstaltspsychologen der Justizvollzugsanstalt … zum Haftverhalten des Antragstellers und dessen Einstellung zur Abschiebung sowie eine Stellungnahme des Anstaltsarztes zur Notwendigkeit einer ärztlichen Begleitung während der Luftabschiebung eingeholt (BA Bl. 831 ff.). Zudem wurde hinsichtlich der vergangenen Abschiebungsversuche Sicherheitsbegleitung angeordnet.
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO bleibt ohne Erfolg.
1. Im vorliegenden Fall ist der Antrag nach § 123 VwGO zwar zulässig, insbesondere ist eine besondere Dringlichkeit gegeben. Der Antragsteller soll im Rahmen einer Sammelabschiebung am 29. Januar 2021 in die Ukraine abgeschoben werden.
Der Antrag nach § 123 VwGO ist aber unbegründet, da der Antragsteller keinen nach § 123 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a AufenthG glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO).
a) Der Antragsteller ist gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG abzuschieben. Nach bestandskräftiger Ausweisung und Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet, ist er vollziehbar zur Ausreise verpflichtet (§§ 50 Abs. 1 Satz 1, 58 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG). Die für die Dauer des Asylverfahrens bestehende Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist mit Eintritt der Vollziehbarkeit der mit Bescheid des Bundesamts vom 22. Oktober 2020 erlassenen Abschiebungsandrohung erloschen, § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG. Der verspätet gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts hat die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht unterbrochen (§ 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG) und wurde zudem bereits unanfechtbar abgelehnt. Sowohl die mit bestandskräftigem Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. März 2020 gesetzte 30-tägige Ausreisefrist als auch die mit Bescheid des Bundesamts vom 22. Oktober 2020 gesetzte einwöchige Ausreisefrist sind mittlerweile erfolglos verstrichen und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht durch den Antragsteller ist nicht gesichert.
b) Die Abschiebung ist auch durchführbar. Es liegen weder Abschiebungshindernisse noch Abschiebungsverbote vor.
aa) Der Antragsgegner ist an die Entscheidung des Bundesamts über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gebunden (§ 42 Satz 1 AsylG). Dass der Bescheid des Bundesamts vom 22. Oktober 2020 aufgrund des noch anhängigen Klageverfahrens nicht bestandskräftig ist, ändert an der Bindungswirkung nichts. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang allein die Bekanntgabe des Bescheids (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition, Stand: 1.10.2020, § 42 AsylG Rn. 7 m.w.N.).
bb) Auch eine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Die Abschiebung eines Ausländers ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
aaa) Anhaltspunkte für eine tatsächliche Unmöglichkeit im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
bbb) Die Abschiebung ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
(1) Ein rechtliches Ausreisehindernis ergibt sich insbesondere nicht unter Berücksichtigung der familiären Situation des Antragstellers aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK.
Weder Art. 6 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch des Ausländers auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde und das Gericht, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 f.). Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seinem anderen Elternteil das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Rechtspositionen des Kindes und seiner Eltern im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere sei deshalb maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris.; vgl. auch BVerwG, U.v. 20.2.2003 – 1 C 13/02 – BVerwGE 117, 380, 390 f.).
Diese Grundsätze, die den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz für den ausländischen Elternteil eines deutschen Kindes bilden, können bereits vor der Geburt des Kindes aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen entfalten. Die genannten Grundsätze bedürfen jedoch – da die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen den Eltern und dem Kind erst bevorsteht – einer den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden modifizierten Anwendung. Insoweit ist in der Rechtsprechung hinsichtlich der Vaterschaft eines ungeborenen Kindes und dessen aufenthaltsrechtlichen Vorwirkungen entschieden, dass – anstelle des Bestehens einer bereits gelebten familiären Gemeinschaft – zunächst regelmäßig zu fordern ist, dass der ausländische Vater gegenüber den zuständigen Behörden seine Vaterschaft anerkannt hat und die Eltern in Verhältnissen leben, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten lassen (BayVGH, B.v. 11.10.2017 – 19 CE 17.2007 – juris Rn. 13; vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.9.2012 – OVG 11 S 40.12; B.v. 30.3.2009 – OVG 12 S 28.09; B.v. 18.11.2013 – OVG 7 S 92.13; SächsOVG, B.v. 2.10.2009 – 3 B 482/09; B.v. 25.1.2006 – 3 BS 274/05; OVG LSA, B.v. 10.12.2014 – 2 M 127/14; OVG Hamburg, B.v. 10.12.2009 – 3 Bs 209/09; B.v. 14.8.2008 – 4 Bs 84/08 – jeweils juris).
Hinsichtlich der im Oktober 2020 geschlossenen Ehe des Antragstellers hat bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung und Interessenabwägung zulasten des Antragstellers zu berücksichtigen ist, dass er die Ehe mit seiner Lebensgefährtin im beiderseitigen Wissen um seine vollziehbare Ausreisepflicht und unsichere Aufenthaltsperspektive geschlossen hat. Gerade vor diesem Hintergrund sei vom Antragsteller weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass mit Blick auf die familiäre Bindung Art. 6 GG die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gebieten würde, weil für ihn eine wenn auch nur vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau unzumutbar wäre (U.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.2257 – juris Rn. 7). Diesen Ausführungen schließt sich auch die erkennende Kammer an.
Zu einer abweichenden Beurteilung führt insoweit auch nicht die Tatsache, dass bei der Ehefrau des Antragstellers im Dezember 2020 eine vorzeitige Wehentätigkeit mit Frühgeburtsbestrebungen festgestellt wurde (vgl. ärztliche Bescheinigung vom 21.12.2020). So wurde seitens des Antragstellers bereits nicht glaubhaft gemacht, dass seine Anwesenheit zur Unterstützung seiner Ehefrau auch noch zum aktuellen Zeitpunkt erforderlich wäre. Seine Ehefrau wurde ausweislich der Bescheinigung zwar vor ca. einem Monat in einer Klinik stationär behandelt, wurde aber bereits wieder entlassen. Dass der Gesundheitszustand der Ehefrau des Antragstellers aber gerade nach der Entlassung aus der Klinik die Anwesenheit des Antragstellers zwingend erfordern würde, ergibt sich aus der nur wenige Sätze umfassenden Bestätigung nicht. Diese stellt jedenfalls im Hinblick auf die festgestellte vorzeitige Wehentätigkeit nur eine Momentaufnahme dar und äußert sich nicht zu dem voraussichtlichen weiteren Verlauf der Schwangerschaft. Auch das zuletzt vorgelegte ärztliche Attest genügt zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs nicht. Dies ergibt sich zum einen bereits aus dem Umstand, dass das Attest – entgegen der ausdrücklichen Aufforderung des Gerichts – nicht von einem Facharzt, sondern einem Allgemeinmediziner ausgestellt wurde. Nach gefestigter Auffassung der Kammer sind Nachweise zum Gesundheitszustand einer Schwangeren grundsätzlich von einem Spezialisten einzuholen. Weil sich Schwangere, insbesondere im Rahmen einer Risikoschwangerschaft, in der Regel in ständiger fachärztlicher Betreuung befinden und mangels entgegenstehendem Vortrag geht das Gericht davon aus, dass es der Ehefrau des Antragstellers ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen wäre, ein fachärztliches Attest einzuholen. Auch inhaltlich ist das vorgelegte ärztliche Attest vom 18. Januar 2021 nicht dazu geeignet, ein Abschiebungsverbot zu begründen. So stellt es zwar eine Risikoschwangerschaft fest, enthält jedoch keine Ausführungen dazu, worauf sich diese Diagnose stützt sowie keine Angaben dazu, welcher Verlauf der Schwangerschaft zu erwarten ist. Der Aussage, dass die Ehefrau des Antragstellers dringend Bettruhe benötige, erscheint zweifelhaft, immerhin hat sie den Antragsteller zuletzt am 14. Januar 2021 in der Justizvollzugsanstalt in … besucht.
Auch im Hinblick auf das noch ungeborene Kind des Antragstellers lässt sich keine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise annehmen. So ist zunächst festzuhalten, dass der Antragsteller aufgrund seiner Ehe mit der Kindsmutter, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch noch bei Geburt des Kindes bestehen wird, sowie der in Gang befindlichen Vaterschaftsanerkennung nach § 1592 Nr. 1 bzw. Nr. 2 BGB rechtlicher Vater des Kindes sein wird.
Eine aufenthaltsrechtliche Vorwirkung des Art. 6 GG, die eine derzeitige Unmöglichkeit der Ausreise begründen könnte, ist jedoch schon deshalb nicht anzunehmen, weil bisher nicht zur Überzeugung der Kammer belegt wurde, dass der Antragsteller und seine Ehefrau bereits in Verhältnissen leben, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten ließen. So bestehen nach wie vor Unklarheiten hinsichtlich des zurückliegenden Zusammenlebens des Antragstellers mit seiner Ehefrau. In seinem Urteil vom 6. August 2020 hat das Verwaltungsgericht München ausgeführt, dass im dortigen Verfahren widersprüchliche Angaben zur Frage des Zusammenlebens mit seiner damaligen Lebensgefährtin gemacht wurden. An dieser Feststellung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof keine Zweifel geäußert (BayVGH, a.a.O., Rn. 8). Im vorliegenden Verfahren äußert der Bevollmächtigte des Antragstellers zuletzt, dass die Eheleute vor der Inhaftierung in … zusammengelebt hätten. Die widersprüchlichen früheren Angaben wurden aber auch im vorliegenden Verfahren nicht erklärt. Gerade deshalb, weil sein Vortrag in den früheren Verfahren noch vor kurzem als nicht ausreichend und widersprüchlich erachtet wurde, hätte es dem Antragsteller oblegen, die Wohnverhältnisse und damit das eheliche Zusammenleben nun widerspruchsfrei darzulegen. Zum anderen bestehen aus Sicht der erkennenden Kammer Zweifel daran, dass die Beziehung des Antragstellers zu seiner Ehefrau die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten lassen. Wie die Vorkommnisse vom 26. Mai 2020 zeigen, neigt der Antragsteller auch in seiner Beziehung dazu, bei Konflikten aggressiv zu reagieren. So wurde der Antragsteller zwar, soweit derzeit ersichtlich, weder gegenüber seiner Ehefrau noch deren Kind gewalttätig, beschädigte jedoch im Beisein seiner Ehefrau und sogar seines Stiefsohns die Wohnung seiner Ehefrau in nicht unerheblichem Maße. Dass die Beziehung des Antragstellers und seiner Ehefrau bis zur Geburt und darüber hinaus bestehen wird, erscheint keinesfalls als gesichert. Dies gilt insbesondere deshalb, weil der Antragsteller aufgrund der derzeit in Aussicht stehenden Abschiebung und dem inzwischen seit einiger Zeit andauernden Ausreisegewahrsam unter erheblichem psychischen Druck steht.
Zudem würde aus Art. 6 GG auch im Rahmen einer Vorwirkung kein Anspruch des Antragstellers auf Aufenthalt folgen, sondern eine Verpflichtung der entscheidenden Behörden und Gerichte zur angemessenen Berücksichtigung der familiären Beziehung. Aufgrund der vielfachen Straffälligkeit des Antragstellers und des nach wie vor bestehenden Aggressionspotentials des Antragstellers ist auch in der Zukunft von weitern Konflikten auszugehen, die sowohl das familiäre Verhältnis beeinträchtigen würden als auch weitere Freiheitsstrafen erwarten ließen. Das Interesse des Antragstellers an einem Zusammenleben mit seinem derzeit noch ungeborenen Kind drängt das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Antragstellers damit ohnehin nicht zurück.
Dass bei dem ungeborenen Kind eine Fehlbildung der Füße (sog. Klumpfuß) festgestellt wurde, führt ebenfalls nicht zur Unmöglichkeit der Ausreise. Die Fehlbildung ist behandelbar (vgl. Ausführung einer Klinik zu den Behandlungsmöglichkeiten: https://www.schoen-klinik.de/klumpfuss-bei-neugeborenen/behandlung, abgerufen am 21.1.2021). Dass der Antragsteller zwingend anwesend sein müsste, während eine Behandlung mit Gips und Schiene erfolgt, ist nicht ersichtlich. Für einen eventuell notwendigen Eingriff könnte ihm eine Betretenserlaubnis erteilt werden.
(2) Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise ergibt sich zudem nicht aus einer eventuell bestehenden Suizidgefahr. Zum einen hat der Antragsteller im vorliegenden Verfahren bereits nicht vorgetragen, dass er aufgrund einer zu befürchtenden (erneuten) Selbstverletzung reiseunfähig wäre und hat damit einen Anordnungsanspruch insoweit weder geltend noch glaubhaft gemacht (zur Einordnung eines drohenden Suizids im Zusammenhang mit der Abschiebung als Reiseunfähigkeit „im weiteren Sinne“: Kluth/Breidenbach in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition, Stand: 1.10.2020, § 60a AufenthG Rn. 13 f. m.w.N.). Zum anderen ist es Sache der Ausländerbehörde, eine Selbstgefährdung des Antragstellers durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen auszuschließen (Kluth/Breidenbach, a.a.O., Rn. 14 m.w.N.). Wie das bisherige Vorgehen der Antragsgegnerin zeigt, ist ihr die mögliche Gefahr bewusst. So wurden bereits Stellungnahmen zum erwarteten Verhalten des Antragstellers eingeholt und eine Sicherheitsbegleitung eingeleitet. Eine Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich aus der psychischen Erkrankung des Antragstellers damit nicht.
2. Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 8.1 analog des Streitwertkatalogs.


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