Verwaltungsrecht

vorherige Schutzzuerkennung in Italien, keine Sicherung des Existenzminimums durch Kläger bei Abstellen auf gesamte Kernfamilie bei anzustellender Rückkehrprognose

Aktenzeichen  W 4 K 20.31210

Datum:
5.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40136
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GrCh Art. 4
GrCh Art. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. April 2018 wird mit Ausnahme von Ziffer 3, Satz 4 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
1. Die Klage ist weitestgehend zulässig.
Unzulässig ist die Klage jedoch hinsichtlich des klägerischen Hauptantrags, soweit er sich auf Ziffer 3, Satz 4 des streitgegenständlichen Bescheids bezieht, da diese Feststellung für den Kläger lediglich rechtlich vorteilhaft ist und damit eine Klagebefugnis des Klägers mangels Rechtsverletzung nicht ersichtlich ist.
Statthafte Klageart hinsichtlich der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung unter Berücksichtigung der gesetzlichen Regelungssystematik, wie sie etwa in § 37 Abs. 1 AsylG zum Ausdruck kommt, die (isolierte) Anfechtungsklage (vgl. hierzu etwa BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 16 ff.).
2. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. April 2018 ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) mit Ausnahme der Ziffer 3, Satz 4, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.1. Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war aufzuheben, weil unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Italien, der persönlichen Umstände des Klägers und des Umstandes, dass im Falle des Klägers hinsichtlich der anzustellenden Rückkehrprognose auf die gesamte Familie des Klägers, die zwei Kleinkinder mitumfasst, abzustellen ist, davon auszugehen ist, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
2.1.1. Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. juris Rn. 83 f.).
Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.
Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GrCh) erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn.89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127 ff.).
Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Auch der Umstand, dass der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GrCh verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 93).
Solche Bedingungen können etwa anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln zu haben. Das dazu geforderte Mindestmaß an Schwere ist allerdings relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen. Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn der Betroffene seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Letztlich bedarf es einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalles (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 9.1.2020 – 20 ZB 18.32705 – juris mit Verweis auf BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 m.w.N.).
Ist ernsthaft zu befürchten, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bzw. anerkannte Schutzberechtigte im zuständigen Mitgliedstaat derartige Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Personen im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK zur Folge haben, ist eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 87; BVerwG, B.v. 19.3.2014 -10 B 6.14 – juris Rn. 6).
Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N. stRspr).
Der Tatrichter muss sich unter Berücksichtigung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) somit zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N.) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 90 f.). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-528/11 – juris Rn. 44).
2.1.2. Vorliegend gilt es zudem zu berücksichtigen, dass es sich beim Kläger mit seinen beiden Kleinkindern und seiner Lebensgefährten/Ehefrau um eine in familiärer Gemeinschaft lebender Kernfamilie handelt, die somit aus Rechtsgründen (vgl. Art. 7 GrCh bzw. Art. 6 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 8 EMRK) auch nur zusammen nach Italien abgeschoben werden können. Damit ist im Rahmen der Rückkehrprognose auch auf die gesamte Familie des Klägers abzustellen, selbst wenn der Lebensgefährtin/Ehefrau und den Kindern hier bereits subsidiärer Schutz zuerkannt wurde (vgl. zur Rückkehrprognose im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris). Denn die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr im Familienverband als regelmäßige Grundlage der Rückkehrprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris) ist aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen auf die vorliegende Konstellation übertragbar (in diesem Sinne etwa auch OVG Münster, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris Rn. 207; OVG Koblenz, B.v. 20.10.2020 – 7 A 10889/18 – juris Rn. 68; OVG Lüneburg, B.v. 19.12.2019 – 10 LA 64/19 – juris Rn. 20; VG Hamburg, U.v. 20.11.2020 – 9 AE 4489/20 – juris; VG Bremen, U.v. 10.11.2020 – 6 V 796/20 – juris Rn. 19; VG Freiburg, U.v. 27.8.2020 – A 1 K 7629/12; enger dagegen OVG Bautzen, U.v. 15.6.2020 – 5 A 384/18.A – juris Rn. 35, das insoweit zumindest einen Bezug auch der Familienmitglieder zum jeweiligen Mitgliedsstaat fordert). Der EuGH hat sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, noch nicht dezidiert geäußert.
Auch in der vorliegenden Konstellation ist es unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 7 GrCh i.Vm. Art. 8 EMRK, die bei der Umsetzung und Anwendung des Art. 33 Asylverfahrens-RL zu beachten sind, erforderlich, eine möglichst realitätsnahe Beurteilung der Situation im Rückkehrfall vorzunehmen. Dies umso mehr, als eine gelebte Kernfamilie in aller Regel aus Rechtsgründen (vgl. Art. 7 GrCh bzw. Art. 6 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 8 EMRK) nur zusammen abgeschoben werden kann. Schließlich mindert diese Betrachtungsweise auch hier Friktionen, die sich daraus ergeben können, dass über die Schutzanträge der einzelnen Familienmitglieder nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden wird (vgl. hierzu nochmals BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 22). Andernfalls hinge es vom Zufall ab, ob für die Rückkehrprognose eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen ist (vgl. hierzu nur VG Bremen, B.v. 10.11.2020 – 6 V 796/20 – juris Rn. 19).
Eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die vorliegenden Fallkonstellation steht schließlich auch nicht der Umstand entgegen, dass der Kläger nicht in sein Herkunftsland, sondern in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben werden soll (so aber VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 32 a.E.). Denn die Grundrechte, insb. Art. 4 und Art. 7 GrCh, gelten gerade in und gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der anzustellenden Rückkehrprognose müsste in der vorliegenden Konstellation vielmehr nur dann ausscheiden, wenn eine Rückführung auch der Familienangehörigen des Klägers in den jeweiligen Zielmitgliedsstaat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen von vornherein unmöglich wäre. Dies ist bei in Italien anerkannten Schutzberechtigten jedoch nicht der Fall, da das Recht der Familienzusammenführung dort unabhängig vom Nachweis ausreichenden Wohnraums oder ausreichenden Einkommens besteht (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italiy, 31.12.2020, S. 178). Dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers mangels notwendiger Dokumente (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 178) nicht nach Italien reisen könnten, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Auch ist es nicht überzeugend, wenn eine Übertragung der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur anzustellenden Rückkehrprognose bei einer gelebten Kernfamilie nur dann in Frage kommen soll, wenn alle Familienmitgliedern bereits einen Bezug zum Mitgliedsstaat hatten, in dem der Asylbewerber bereits anerkannt wurde (so aber OVG Bautzen, U.v. 15.6.2020 – 5 A 384/18.A – juris Rn. 35). Eine auf die gesamte Kernfamilie abstellende Rückkehrprognose kann bei tatsachengestützten Missbrauchsfällen oder überwiegenden öffentlichen Interessen unabhängig von dieser weiteren Einschränkung unterbleiben (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 23). Der nicht näher begründeten Einschränkung des „vorherigen Bezugs zum Zielmitgliedsstaat“ bedarf es somit nicht.
Schließlich ist vorliegend auch kein solcher Missbrauchsfall ersichtlich, der es rechtfertigen würde, trotz gelebter Kernfamilie hinsichtlich der Rückkehrprognose allein auf den Kläger abzustellen (vgl. zur Frage etwaiger Missbrauchsfälle BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 23). Der Kläger hat seine Lebensgefährtin/Ehefrau bereits im Juni 2017 in Italien religiös geheiratet. Auch war die Ehefrau des Klägers bei seiner Einreise ins Bundesgebiet im Februar 2018 mit der älteren Tochter bereits schwanger; die Tochter kam am … … 2018 im Bundesgebiet zur Welt.
Damit ist im Rahmen der auch hier anzustellenden Rückkehrprognose auf die gesamte Familie des Klägers abzustellen.
2.2. Zwar geht der Einzelrichter unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel davon aus, dass arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen, denen in Italien bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, auch derzeit nach Italien rücküberstellt werden können (vgl. hierzu zuletzt etwa VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 – W 4 K 20.30192; U.v. 5.10.2021 – W 4 K 21.30647). Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass bei der Rückkehrprognose des Klägers auf seine gesamte Familie, die zwei Kleinkinder mitumfasst, abzustellen ist und aufgrund seiner persönlichen Umstände geht das Gericht allerdings davon aus, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der aktuellen Erkenntnislage in Italien dabei wie folgt dar:
2.2.1. Anerkannte Schutzberechtigte erhalten in Italien eine Aufenthaltserlaubnis, die für fünf Jahre gültig ist und die in der Folge erneuert bzw. verlängert werden kann (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, Stand: 31.12.2020, S. 169; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 22). Die Erneuerung – oder im Falle des Verlusts die Ausstellung einer Kopie – beantragt man durch das Ausfüllen entsprechender Formulare und deren Versand per Post an die zuständige Questura (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 31.12.2020, S. 169). Für den Verlängerungs- bzw. Erneuerungsantrag benötigt man zudem einen eingetragenen Wohnsitz oder eine sogenannte „Erklärung der Gastfreundschaft“ („dichiarazione di ospitalita“, vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien: 18.9.2020, S. 5). Eine solche Erklärung der Gastfreundschaft kann dabei insbesondere auch von Privatpersonen abgegeben werden (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5). Bei der Erneuerung einer Aufenthaltserlaubnis kommt es nach vorliegenden Erkenntnismitteln jedenfalls in einigen Provinzen zu ganz erheblichen Zeitverzögerungen. Dies stellt im Alltag aber in aller Regel deswegen kein Problem dar, weil Antragsteller nach der Beantragung eine Bestätigung (sog. „cedolino“) erhalten, die in allen Fällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis benötigt wird, vorgezeigt werden kann und allgemein akzeptiert wird (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5).
2.2.2. Was die Unterkunftssituation anbelangt, so können anerkannte Flüchtlinge bzw. Schutzberechtigte in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einer Unterkunft des Zweitaufnahmesystems untergebracht war.
Dieses Unterbringungssystem besteht derzeit aus 760 kleineren, dezentralisierten Projekten und ist primär für die Unterbringung für bereits anerkannte Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige vorgesehen (Aida, Country Report: Italy, 21.12.2020, S. 180 f.) Im Januar 2021 gab es in SAI-Zentren 30.049 Unterkunftsplätze, von denen zum 31. Dezember 2020 25.574 belegt waren (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, 21.12.2020, S. 182 u. 180).
Auch Rückkehrern mit einem abgelaufenen Aufenthaltstitel kann dabei auf Antrag eine Unterkunft in einem SAI-Zentrum zugeteilt werden. Jeder Fall eines internationalen Schutztitelinhabers, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. „Servizio Centrale“ geprüft. Bei der Prüfung durch den Servizio Centrale ist es aber nicht unbedingt nötig, im Besitz eines gültigen Aufenthaltspapiers zu sein; wichtig ist vielmehr, dass das Aufenthaltspapier ohne rechtliche Probleme verlängerbar ist. Rückkehrerinnen und Rückkehrer können dabei auch bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 19.5.2021 – 28 K 84.18 A – juris Rn. 29; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 7 f).
Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um sechs weitere Monate verlängert werden, beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italiy, 31.12.2020, S. 182).
In den SAI-Zentren stehen anerkannten Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu Rechten und Pflichten, die in der Verfassung der Italienischen Republik verankert sind, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12, AIDA, Country Report, 31.12.2020, S. 183).
Die Möglichkeit über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn einer Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. hierzu SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56; zu den Entzugsgründen im Einzelnen vgl. AIDA, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183).
Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für anerkannte Schutzberechtigte auch die Möglichkeit, eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9). Anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte haben dabei das selbe Recht auf Zugang zu sozialen Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183 f; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.).
In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Region Friaul – Venezien, wo der Zugang zu Sozialwohnungen auf Personen beschränkt ist, die nachweislich und ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben. Darüber hinaus ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang, in Rom beispielsweise beträgt die entsprechende Wartezeit rund sieben Jahre. Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet in der Praxis, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.).
Darüber hinaus bieten NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen auch Schlafplätze an, deren Kapazitäten jedoch beschränkt sind. Nicht selten leben Menschen mit internationalem Schutzstatus jedenfalls vorübergehend auch in Notunterkünften, die lediglich einen Platz zum Schlafen anbieten und die nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet sind, sondern auch italienischen Staatsbürgern in Notsituationen offenstehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 23).
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben besteht für anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar die Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der anerkannten Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist ein im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (= Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ – Second edition, Stand: 8.2.2018), unter denen sich auch anerkannte Schutzberechtigte befinden. Dass anerkannt Schutzberechtigte damit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln somit gerade nicht entnehmen, selbst wenn es auch unter diesen immer wieder zu Obdachlosigkeit kommen kann (vgl. hierzu BFA, Länderinformationsblatt – Italien, Stand: 26.2.2019, S. 25).
2.2.3. Durch die anerkannten Schutzberechtigten erteilte Aufenthaltserlaubnis haben diese Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausübung wie italienische Staatsangehörige. Das italienische Asylsystem geht dabei davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst besorgen. Besondere Bedeutung für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt kommt dabei den örtlichen Arbeitsämtern sowie den SAI-Zentren zu. Anerkannte Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer entsprechenden Registrierung über Stellenangebote informiert (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10).
Anerkannte Schutzberechtigte haben somit rein rechtlich den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie italienische Staatsangehörige. Die Situation für Arbeitssuchende stellt sich in Italien aufgrund der hohen Arbeitslosenzahl jedoch generell als schwierig dar. Dieser Umstand wurde durch die Corona-Pandemie und deren wirtschaftliche Auswirkungen zunächst noch weiter verschärft (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13 f.). Weitere tatsächliche Zugangshindernisse zum Arbeitsmarkt stellen häufig fehlende Sprachkenntnisse und eine fehlende Berufsqualifikation bzw. die fehlende Anerkennung von solchen Qualifikationen dar (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Nicht selten finden Schutzberechtigte nur Arbeit auf dem „informellen Arbeitsmarkt“, wo sie häufig ausgebeutet werden (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13).
Unabhängig von der insbesondere im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich schwierigeren Arbeitsmarktsituation in Italien, die sich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie zunächst deutlich verschlechtert hat, ging die Erwerbslosenquote in Italien zuletzt allerdings wieder auf 9,3 Prozent zurück (vgl. Eurostat, Arbeitslosenquote im Euroraum im Juli 2021, 1.9.2021) und liegt damit aktuell sogar unter den Arbeitslosenquoten in den Jahren 2019 und früher, als die Arbeitslosigkeit in Italien durchgängig (und teilweise deutlich) über 10,0 Prozent lag (vgl. Eurostat, Arbeitslosigkeit nach Geschlecht und Alter (1992-2020) – jährliche Daten; abgerufen am 14.9.2021: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=une_rt_a_h& lang=de). Die Wirtschaft Italiens ist im Jahr 2021 wieder deutlich gewachsen und dies voraussichtlich sogar stärker als zunächst prognostiziert (die Wachstumsprognose für Italien lag bei 5,8 Prozent; vgl. hierzu etwa Wirtschaftswoche, Italienische Regierung hält 2021 stärkstes Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten für möglich, 5.9.2021). Insbesondere im Handwerk und im Hotel- und Gaststättengewerbe, fehlt es an Arbeitskräften. Im Hotel- und Gaststättengewerbe fehlten zuletzt 50.000 Arbeitskräfte (vgl. hierzu Reuters, Harder to attract staff than visitors at Italy`s tourist hotspots, 29.6.2021; Südtirol-News, Handwerk in Südtirol: Zwischen Tradition und Digitalisierung, 8.4.2021). Auch im Handwerk besteht jedenfalls regional ein erheblicher Bedarf an entsprechenden Fachkräften und Lehrlingen (vgl. hierzu etwa Eures, Arbeitsmarktinformationen zu Italien nach Regionen, Stand: 11/2020; Nachrichten für Südtirol, Handwerk in Südtirol: Zwischen Tradition und Digitalisierung, vom 8.4.2021; zuletzt abgerufen am 13.9.2021 unter: www.stol.it/artikel/wirtschaft/handwerk-in-suedtirol-zwischen-tradition-und-digitalisierung). Für ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben zudem in den Bereichen Hausarbeit, Reinigungsgewerbe und Landwirtschaft, in dem die Corona-Pandemie sogar zeitweise eine stark erhöhte Nachfrage zur Folge hatte, weil die sonst regelmäßig nach Italien reisenden Saisonarbeiter in Folge der eingeschränkten Mobilität in Europa ausgeblieben sind, auch weiterhin Arbeitsmöglichkeiten (vgl. hierzu EURES, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt in Italien, Stand: 11/2020). Auch wenn gerade im Bereich der Landwirtschaft eine nicht unerhebliche Quote an illegal Beschäftigten anzutreffen sein dürfte (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13), so liegen doch keine Erkenntnismittel vor, dass in diesem Bereich landesweit auch nur überwiegend allein eine illegale Beschäftigung möglich wäre (in diesem Sinne aber wohl OVG Münster, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris Rn. 166).
Darüber hinaus haben anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar keinen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe, die mit der in Deutschland gewährten Sozialhilfe vergleichbar wäre (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 8/2016, S. 52). Einen solchen Anspruch haben aber auch italienische Staatsangehörige nicht. Das italienische Sozialsystem ist insgesamt sehr schwach ausgebildet, was daran liegt, dass es auf die in Italien traditionell starken Familienstrukturen aufsetzt und daher insbesondere keinerlei Nothilfen garantiert (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Italien, 11.11.2020, S. 24 f.).
Gleichwohl gibt es seit März 2019 eine Art Grundeinkommen, ein sog. Bürgergeld. Voraussetzung für dessen Bezug ist jedoch, dass man mindestens die letzten zehn Jahre in Italien gewohnt hat, so dass anerkannt Schutzberechtigte diese Voraussetzungen in aller Regel nicht erfüllen (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Italien, 11.11.2020, S. 24).
Darüber hinaus gibt es in Italien einzelne, in den Zuständigkeitsbereich der Regionen oder Kommunen fallende Fürsorgeleistungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, des Empfängerkreises und der Leistungshöhe jedoch stark variieren (Raphaelswerk, 6/2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11 f.).
2.2.4. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung haben Anerkannte in Italien die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger, sobald sie beim Nationalen Gesundheitsdienst registriert sind. Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung und erlischt auch nicht in der Verlängerungsphase. Für die Registrierung ist dabei eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder ein Nachweis, dass die Verlängerung bzw. Ausstellung angefordert wurde, ein Wohnnachweis oder bei Nichtvorhandensein eine Erklärung zum aktuellen Wohnort sowie eine Steuernummer notwendig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11). Nach der neueren Rechtslage ist die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst jedoch bereits auf Basis des sog. „domicilio“ garantiert, der üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 20).
Unabhängig davon besteht auch für anerkannte Schutzberechtigte bis zur Registrierung im Gesundheitssystem ein Zugang zu medizinischen Basisleistungen und insbesondere einer medizinischen Notfallversorgung (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 19 u. S. 20).
2.2.5. Unter Berücksichtigung der dargestellten Aufnahmebedingungen in Italien, der persönlichen Umstände des Klägers und des Umstandes, dass im Falle des Klägers hinsichtlich der Rückkehrprognose auf seine gesamte Familie samt der zwei Kleinkinder abzustellen ist, ist zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Einzelfall davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
Der Kläger hat in Somalia lediglich die Koranschule besucht (vgl. Blatt 14 BA sowie Seite 2 der Sitzungsniederschrift) und sonst keine weitere Schulbildung genossen. Auch eine Berufsausbildung kann der Kläger nicht vorweisen und hat bisher – abgesehen von seiner aktuellen Beschäftigung – kaum Berufserfahrung. Italienischkenntnisse hatte der Kläger nur rudimentäre, die zudem schon mehrere Jahre zurückliegen.
Damit geht das Gericht davon aus, dass der Kläger in Italien aktuell zwar eine Beschäftigung als ungelernte Arbeitskraft finden kann, die für ihn alleine auch zur Sicherung des Existenzminimums reichen würde. Für ihn und die gesamte Familie reicht eine solche Arbeit, die regelmäßig dem Niedriglohnsektor zuzuordnen ist, allerdings nicht aus (vgl. hierzu etwa BFA, LIB Italien, 11.11.2020, S. 24; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Dies gilt umso mehr, als die Töchter des Klägers noch sehr jung sind (drei bzw. zwei Jahre), und somit die Ehefrau des Klägers aufgrund notwendiger Kinderbetreuung bis auf weiteres kein Einkommen zum Familienunterhalt beisteuern können wird. Im Übrigen ist das soziale Sicherungsnetz in Italien sehr grobmaschig, und eine Sozialwohnung ist regelmäßig nur nach längerer, oft mehrjähriger Wartezeit zu erhalten. Das Gericht ist daher im vorliegenden Einzelfall überzeugt, dass es dem Kläger in Italien nicht gelingen wird, die Existenzgrundlage für sich und seine Familie zu sichern und sich daher zeitnah in einer Situation extremer materieller Not befinden würde.
Hiervon geht das Gerichts selbst dann aus, wenn der Kläger und seine Familie noch für sechs Monate in einer Unterkunft der Sekundärunterbringungen unterkommen könnten. Denn selbst in dieser Übergangszeit würde es dem Kläger nicht gelingen, seine Einkommensverhältnisse in erheblicher Weise zu verbessern. Gleiches gilt für den Erhalt bezahlbaren Wohnraums. Ob der Kläger zusammen mit seiner Familie tatsächlich in einer SAI-Unterkunft unterkommen könnte, da die Ehefrau und die Kinder des Klägers nur in Deutschland internationalen Schutz zuerkannt bekommen haben, kann daher dahinstehen.
Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war daher im Falle des Klägers aufzuheben.
3. Nachdem die Unzulässigkeitsentscheidung im angegriffenen Bescheid keinen Bestand haben kann und das Bundesamt den Asylantrag des Klägers erneut prüfen muss, ist die Entscheidung über Abschiebungsverbote jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) und daher ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Des Weiteren ist zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie sich auf die Abschiebung nach Italien bezieht, da die Voraussetzungen des § 35 AsylG nicht vorliegen (vgl. hierzu ebenfalls BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21). Gleichermaßen konnte die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG keinen Bestand haben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzung für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) entfallen ist.
Nach alledem war der angegriffene Bescheid im tenorierten Umfang aufzuheben, da er insoweit den Kläger in seinen Rechten verletzt.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Kosten konnten der Beklagten ganz auferlegt werden, da der Kläger nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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