Verwaltungsrecht

Westlich geprägte afghanische Frauen bilden eine soziale Gruppe

Aktenzeichen  M 24 K 16.34687

Datum:
18.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 148912
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Eine bestimmte soziale Gruppe bilden auch solche afghanische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthaltes in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. November 2016, Gesch.-Z.: …- … wird in den Nrn. 1 und 3 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2017 entscheiden, obwohl von Seiten der Beklagten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen war. Denn in dem Ladungsschreiben vom 3. April 2017 war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die beteiligte Regierung von Oberbayern als Vertreter des öffentlichen Interesses hat in den generellen Beteiligungserklärungen vom 11. und 18. Mai 2015 lediglich um Übersendung der Letztbzw. Endentscheidung gebeten und damit unter anderem auch auf Ladung zur mündlichen Verhandlung verzichtet.
2. Das Verwaltungsgericht … ist zur Entscheidung über die Klage örtlich zuständig (§ 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO). Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 30. März 2017 ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung über die Klage berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
3. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17. November 2016 ist in den Ziffern 1 und 3 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
3.1. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
3.1.1. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass das Leben oder die Freiheit des Ausländers im Falle der Rückkehr in seinen Heimatstaat wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen seiner politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bedroht sind. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat oder ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (§§ 3c, 3d AsylG). Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG).
Damit geht zwar der Schutzbereich des Flüchtlingsschutzes über den des Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz (GG) hinaus, insbesondere hinsichtlich der möglichen Verfolgungsgründe und der möglichen Akteure, von denen Verfolgung drohen kann (§§ 3b und 3c AsylG). Allerdings ist in jedem Fall erforderlich, dass die Verfolgung an eines der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Nationalität, wegen seiner politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) anknüpft. Außerdem ist nach § 3d AsylG bei nichtstaatlichen Akteuren die Furcht vor Verfolgung nicht begründet im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, sofern der Herkunftsstaat Lage und willens ist, wirksamen Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
3.1.2. Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bei der Klägerin vorliegt.
3.1.2.1. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Buchst. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Buchst. b). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Eine solche bestimmte soziale Gruppe bilden danach auch solche afghanische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthaltes in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgrenzbaren Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (vgl. hierzu OVG Lüneburg, U.v. 21.09.2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 26).
3.1.2.2. Dies trifft vorliegend auf die Klägerin zu. Die zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung 22jährige Klägerin ist im Iran geboren worden und dort aufgewachsen. Sie hat im Iran ihr Abitur gemacht und ein Jurastudium begonnen. Ihren Berufswunsch hat sie nach ihrer Einreise nach Deutschland durch Immatrikulation für einen Deutschkurs für Akademiker als Basis für ein anschließendes Jurastudium konsequent weiterverfolgt. Die Klägerin hat sich in der mündlichen Verhandlung sowohl durch ihr Äußeres als auch durch ihre Ausführungen als eine selbständige moderne Frau präsentiert. So trug sie beispielsweise vor, in Deutschland fünf Monate lang „Kung-Fu“ gemacht zu haben, damit momentan aber aufgehört zu haben, weil sie viel lernen müsse. Die bereits im Iran im Vergleich zu Afghanistan erhaltene westlichere Prägung der Klägerin wurde durch ihren mittlerweile fast zweijährigen Aufenthalt in Deutschland noch verstärkt. Zur mündlichen Verhandlung ist die Klägerin ohne Kopftuch mit Leggins und Pullover erschienen, ohne dabei aus verfahrenstaktischen Gründen gezielt westlich „gestylt“ zu wirken. Dabei hat sie angegeben, nicht bereit zu sein, sich nach den in Afghanistan vorgeschriebenen Kleidervorschriften zu richten. Aufgrund ihrer Prägung ist ihr dies nach Auffassung des Gerichts auch nicht mehr zumutbar. Daran ändert auch nichts, dass die Klägerin auch im Iran gelegentlich den Schador getragen hat, um ihren Plan, zu studieren, verwirklichen zu können. Wie sie hierzu zutreffend ausgeführt hat, ist es ein Unterschied, ob man für ein kurzfristiges Ziel etwas entgegen seiner Überzeugung macht oder ob man dies lebenslang machen müsste, um in einer Gesellschaft überleben zu können.
3.1.3. Afghanische Frauen, die dieser sozialen Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan aufhalten.
3.1.3.1. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die nach Nr. 2 zu berücksichtigenden Maßnahmen können Menschenrechtsverletzungen sein, aber auch sonstige Diskriminierungen. Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1 entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 34). Nach § 3a Abs. 2 AsylG können als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1) sowie Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (Nr. 6), gelten.
Maßgebend für die Beantwortung der Frage, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19). Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a.a.O., Rn. 32). Dabei greift zugunsten eines Vorverfolgten bzw. in anderer Weise Geschädigten eine tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 20 ff.).
3.1.3.2. Der Gericht geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen.
Zwar hat sich die Situation afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert. Die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft bleibt aber weiterhin schwierig. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (Lagebericht des Auswärtigen Amtes – Lagebericht – vom 19.10.2016, S. 13 und 14).
Auch wenn die politische Partizipation von Frauen in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert ist und sich auf diesem Wege deutlich verbessert hat, bleiben im Justiz- und Polizeisektor Frauen weiterhin unterrepräsentiert. So stellen Richterinnen nur etwa 15% der Richterschaft. Gerade im Sicherheitssektor wird immer wieder von Gewalt gegenüber Frauen berichtet (Lagebericht vom 19.10.2016, S. 14). Obwohl Frauen seit 2001 einige Führungspositionen in der afghanischen Regierung und in der Zivilgesellschaft, einschließlich als Richterinnen und Parlamentsmitglieder, übernommen haben, werden Frauen im öffentlichen Leben und in öffentlichen Ämtern weiterhin bedroht, eingeschüchtert und gewaltsam angegriffen. Zahlreichen Berichten zufolge werden im öffentlichen Leben stehende Frauen wie etwa weibliche Parlamentsmitglieder, weibliche Mitglieder des Provinzrates, weibliche Staatsbedienstete, Journalistinnen, Rechtsanwältinnen, Polizeibeamtinnen, Lehrerinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und in internationalen Organisationen tätige Frauen angegriffen. Die Angriffe gehen von regierungsfeindlichen Gruppen, lokalen traditionellen und religiösen Machthabern, Mitgliedern ihrer Gemeinschaft und staatlichen Behörden aus. Die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben wird oftmals als Überschreitung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen und als „unmoralisch“ verurteilt. Diese Frauen werden Ziele von Einschüchterung, Schikanierung oder Gewalt. Regierungsfeindliche Gruppen haben Berichten zufolge Frauen, die am öffentlichen Leben teilnehmen, bedroht und eingeschüchtert. Es liegen zahlreiche Berichte darüber vor, dass Frauen, die sich öffentlich engagieren, getötet wurden. Die Strafverfolgungsbehörden bleiben in Fällen, bei denen Frauen aufgrund ihrer Teilhabe am öffentlichen Leben schikaniert und angegriffen wurden, vielfach untätig (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender – UNHCR-Richtlinien – vom 19.04.2016, S. 45/46, im Wesentlichen gleichlautend Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan Update: Die aktuelle Sicherheitslage vom 30.09.2016, S. 17/18, BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 27).
Zudem werden Berichten zufolge Personen von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen, die vermeintlich Werte und/oder ein Erscheinungsbild angenommen haben, die mit westlichen Ländern in Verbindung gebracht werden, und denen deshalb unterstellt wird, die Regierung und die internationale Gemeinschaft zu unterstützen. Es liegen Berichte über Personen vor, die aus westlichen Ländern nach Afghanistan zurückkehrten und von regierungsfeindlichen Gruppen als „Ausländer“ oder vermeintliche für ein westliches Land tätige Spione gefoltert oder getötet wurden. Ähnlich kann Personen wie Mitarbeiter von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen und Frauen im öffentlichen Leben von regierungsfeindlichen Gruppen zur Last gelegt werden, Werte und/oder Erscheinungsbild übernommen zu haben, die mit westlichen Ländern in Zusammenhang gebracht werden. Auch aus diesem Grund können sie Opfer von Angriffen werden (UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016, S. 46/47).
Allein lebende Frauen sind angesichts der Beschränkungen, die ihnen gesellschaftliche Normen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, kaum in der Lage, zu überleben. Inhaftierungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia betreffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, einschließlich Inhaftierung aufgrund „moralischer Vergehen“ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, außereheliche sexuelle Beziehungen und „Weglaufen von zu Hause“. Dementsprechend ist der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) je nach den Umständen des Einzelfalles der Auffassung, dass u.a. bei Frauen, die vermeintlich gegen die sozialen Sitten verstoßen, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz wahrscheinlich. Je nach den Umständen des Einzelfalles kann bei dieser Personengruppe ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, aufgrund ihrer Religion, ihrer (zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aufgrund anderer relevanter Gründe bestehen (UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016, S. 72/73).
Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20.7.2010 – 23505/09, N. v. Sweden – HUDOC Rn. 55) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben – z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind – in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte „Schande“ reichen können.
3.1.3.3. Vor diesem Hintergrund ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wäre. Mit ihrem westlich geprägten Verhalten würde die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan unweigerlich auffallen und wäre mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen ausgesetzt, die in ihrer Kumulation einer schweren Menschenrechtsverletzung gleich kämen. Aufgrund ihres Bildungsweges gehört die Klägerin potentiell zu den im öffentlichen Leben stehenden Frauen, die in öffentlichen Ämtern, als Richterinnen oder Rechtsanwältinnen aufgrund unterstellter „moralischer Vergehen“ besonders herausgehoben von geschlechtsspezifischen Gewaltakten, Belästigungen und Diskriminierungen bedroht sind. Aufgrund ihres bisherigen Lebenslaufes und ihrer Prägung ist ihr auch nicht zuzumuten, auf die Weiterführung ihres Bildungsweges und der anschließenden Berufstätigkeit zu verzichten und sich dem tradierten Werte- und Rollenverständnis, das in Afghanistan vorherrscht, zu unterwerfen.
Nach der aktuellen Auskunftslage sind die afghanischen staatlichen Akteure aller drei Gewalten entweder nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, die Frauenrechte zu schützen (s.o.) und so einen wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz nach § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Da die Klägerin keinen Familienverbund in Afghanistan hat, könnte auch ein solcher sie nicht gegen Verfolgungshandlungen schützen.
Da die unter Nr. 3.1.3.2. dargelegten Verhältnisse nicht auf bestimmte Landesteile Afghanistans beschränkt sind, steht der Klägerin auch keine inländische Fluchtalternative i.S.v. § 3e Abs. 1 AsylG, in der sie keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hätte und in den sie sicher und legal einreisen könnte, zur Verfügung.
Anhaltspunkte dafür, dass einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Ausnahmen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entgegenstehen könnten, bestehen nicht und wurden auch von der Beklagten nicht vorgetragen.
3.2. Da – wie oben dargelegt – der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft unter Aufhebung der Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides von der Beklagten zuzuerkennen, die Verpflichtungsklage insoweit also erfolgreich ist, hat auch die auf Aufhebung der Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides gerichtete Klage Erfolg, da eine Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nur subsidiär in Betracht kommt und durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenstandslos wird (vgl. BVerwG, U.v. 26.06.2002 – 1 C 17.01 – juris Leit- und Orientierungssatz).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).


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