Verwaltungsrecht

Wiedereinweisung in die bisherige Obdachlosenunterkunft

Aktenzeichen  4 CE 19.1344

Datum:
11.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 30483
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
LStVG Art. 7 Abs. 2 S. 3
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Besteht nach einem amtsärztlichen Gutachten bei Durchführung eines Zwangsumzugs die Gefahr einer schweren psychischen Belastung, kann sich hieraus ein aus dem grundrechtlichen Anspruch auf Schutz der körperlichen Unversehrtheit folgender Anordnungsanspruch auf vorläufigen Verbleib in der von ihnen bewohnten Unterkunft ergeben.  (Rn. 11 – 15) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 5 E 19.775 2019-07-05 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. Juli 2019 verpflichtet, die Antragstellerinnen vorläufig bis zu einer erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache weiter in der bisher von ihnen bewohnten Notunterkunft unterzubringen.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Eilverfahrens in beiden Instanzen.
3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen begehren die vorläufige Wiedereinweisung in die Räume der seit Ende Dezember 2013 von ihnen bewohnten Obdachlosenunterkunft der Antragsgegnerin.
Nachdem die Zuweisung der Unterkunft zuletzt bis zum 30. Juni 2019 befristet war, wies die Antragsgegnerin die Antragstellerinnen mit Bescheid vom 25. Juni 2019 zur Vermeidung der drohenden Obdachlosigkeit unter Anordnung des Sofortvollzugs in eine in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliche gemeindliche Notunterkunft ein; das bisher als Unterkunft genutzte Gebäude solle ab September 2019 für Zwecke der Mittagsbetreuung von Schülern umgebaut werden.
Gegen den Bescheid vom 25. Juni 2019 legten die Antragstellerinnen Widerspruch ein, über den bisher nicht entschieden ist.
Zugleich stellten sie beim Verwaltungsgericht Würzburg einen Antrag nach § 123 VwGO mit dem Ziel, die Antragsgegnerin zu verpflichten, sie vorläufig weiterhin in der bisherigen Notunterkunft unterzubringen. Zur Begründung wurde auf den schlechten Gesundheitszustand der an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Antragstellerin zu 1 verwiesen.
Mit Beschluss vom 5. Juli 2019 lehnte das Verwaltungsgericht Würzburg den Eilantrag ab. Die Antragstellerinnen hätten durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass aufgrund des Gesundheitszustands der Antragstellerin zu 1 ein Unterkunftswechsel generell ausgeschlossen sei.
Mit der vorliegenden Beschwerde wenden sich die Antragstellerinnen gegen diesen Beschluss.
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Juli 2019 wurde der Antragsgegnerin mit sofortiger Wirkung aufgegeben, die Antragstellerinnen bis zu einer Entscheidung über die Beschwerde in ihrer bisherigen Wohnung zu belassen.
Mit Schriftsatz vom 25. Juli 2019 ließen die Antragstellerinnen beim Verwaltungsgericht Würzburg Klage erheben mit dem Ziel, die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Juni 2019 zu verpflichten, sie in der bisherigen Unterkunft zu belassen.
Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde im Eilverfahren entgegen.
Wegen weiterer Einzelheiten, insbesondere hinsichtlich der im Verfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen, wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 5. Juli 2019 hat Erfolg. Die Antragstellerinnen haben mit den im Beschwerdeverfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen einen aus dem grundrechtlichen Anspruch auf Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) folgenden Anordnungsanspruch auf vorläufigen Verbleib in der von ihnen bewohnten Unterkunft hinreichend glaubhaft gemacht.
Es kann dahinstehen, ob bei der Antragstellerin zu 1, die sich seit einigen Monaten einer ambulanten Chemotherapie unterziehen muss und dazu als Transportmittel ihr eigenes Fahrzeug benutzt, bei einem von der Antragsgegnerin organisierten Umzug in die nahegelegene neue Wohnung die in der Bescheinigung der hämatologisch-onkologischen Schwerpunktpraxis vom 11. Juli 2019 angesprochene erhebliche Infektionsgefahr bestünde oder ob damit, wie die Antragsgegnerin vorträgt, eher eine Verbesserung der hygienischen Wohnsituation erreicht werden könnte. Ungeachtet dessen muss bei einem unfreiwilligen Auszug aus der bisherigen Unterkunft jedenfalls mit so hoher Wahrscheinlichkeit von einer gravierenden und nachhaltigen psychischen Beeinträchtigung ausgegangen werden, dass der davon betroffenen Antragstellerin zu 1 und der noch minderjährigen Antragstellerin zu 2 gegenwärtig eine solche Zwangsmaßnahme nicht zugemutet werden kann.
Nach der von der Antragsgegnerin eingeholten (erst mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2019 vorgelegten) Stellungnahme des zuständigen Gesundheitsamts vom 29. Juli 2019, der eine amtsärztliche Untersuchung vom 22. Juli 2019 zugrunde liegt, führt die aktuelle Chemotherapie bei der an einer lebensbedrohenden Tumorerkrankung leidenden Antragstellerin zu 1 – neben einer Reihe körperlicher Reaktionen – auch zu einer schweren psychischen Belastung. Ein Umzug aus der seit mehreren Jahren bewohnten Wohnung würde danach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für eine Destabilisierung des Gesundheitszustands sorgen. Aus Sicht des Gesundheitsamts ist die Antragstellerin zu 1 weder psychisch noch physisch in der Lage umzuziehen; eine erneute Überprüfung ihrer Umzugsfähigkeit sei ggf. erst bei Stabilisierung des Gesundheitszustands in Erwägung zu ziehen.
Diese Einschätzung der zuständigen Fachbehörde wird bestätigt durch das neueste Attest der hämatologisch-onkologischen Schwerpunktpraxis vom 8. Oktober 2019, wonach der an einer schweren und fortgeschrittenen Erkrankung leidenden Antragstellerin zu 1 derzeit die Strapazen eines Umzugs nicht zuzumuten seien. In einer weiteren Stellungnahme eines Arztes dieser Praxis ebenfalls vom 8. Oktober 2019 wird in Auseinandersetzung mit dem von der Antragsgegnerin vorgelegten fachärztlichen Gutachten vom 19. September 2019 nochmals dargelegt, dass der Antragstellerin zu 1 in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation ein Ortswechsel im Sinne eines Umzugs medizinisch nicht zumutbar sei; etwaige Folgeschäden für Leib und Leben müssten abgewendet werden.
Diese auf einer persönlichen Untersuchung bzw. auf längeren Behandlungserfahrungen beruhenden dezidierten Aussagen des Amtsarztes bzw. der behandelnden Fachärzte werden durch die ohne unmittelbare Anschauung der Person gewonnene gegenteilige Stellungnahme des von der Antragsgegnerin beauftragten Facharztes für Öffentliches Gesundheitswesen vom 19. September 2019 nicht ernsthaft in Frage gestellt. Darin wird die mit einem Umzug verbundene psychische Belastung nicht als Hindernis angesehen, weil sich die Antragstellerin zu 1 ein bis heute tragfähiges soziales Netz mit mindestens einem ehrenamtlichen Helfer und zwei mitsorgenden Kindern aufgebaut habe und auch einige „Aktivitäten des täglichen Lebens“ aufrechterhalte. Diese auf Informationen Dritter beruhende Bewertung reicht nicht aus, um eine verlässliche Einschätzung darüber abgeben zu können, wie wahrscheinlich und wie gewichtig die mit einem Zwangsumzug verbundenen Verschlechterung des psychischen Gesamtzustands sein könnten. Nach derzeitigem Stand muss daher davon ausgegangen werden, dass ein Verlassen der bisherigen Unterkunft für die Antragstellerin zu 1 und demzufolge auch für ihre Tochter, die Antragstellerin zu 2, unzumutbar ist. Angesichts des hohen Gewichts, das dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und der diesbezüglichen staatlichen Schutzpflicht zukommt, muss das Interesse der Antragsgegnerin an einer anderweitigen Nutzung der betreffenden Räumlichkeiten vorläufig zurückstehen.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i. V. m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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