Verwaltungsrecht

Wohnsitznahmeverpflichtung eines anerkannten Flüchtlings

Aktenzeichen  19 CS 17.1838

Datum:
9.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 187
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 60, § 146 Abs. 4 S. 6
AufenthG § 12a, § 22, § 23, § 25 Abs. 3
AsylG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die Wohnsitzbeschränkung nach § 12a AufenthG dient der besseren Planbarkeit von Integrationsmaßnahmen und wirkt einer Konzentration von Gruppen gleicher Staatsangehörigkeit oder ethnischer Zugehörigkeit und damit einer integrationshemmenden Segregation entgegen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2 Unbillige Härten im Sinne von § 12a Abs. 5 S. 1 Nr. 2 lit. c AufenthG sind Beeinträchtigungen persönlicher Belange, die im Vergleich zu den betroffenen öffentlichen Interessen und im Hinblick auf den vom Gesetz vorausgesetzten Zweck der Aufenthaltsbeschränkung als unangemessen schwer anzusehen sind. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die pauschale Behauptung einer besseren ärztlichen Versorgungslage in der Großstadt vermag eine Härte nicht zu begründen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 7 S 17.773 2017-08-21 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller (ein syrischer Staatsangehöriger, dem zunächst durch Bescheid des Bundesamtes vom 1. September 2016 der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen worden ist und anschließend durch Verpflichtungsurteil vom 21.7.2017 die Flüchtlingseigenschaft) begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Aufhebung der Verpflichtung zur Wohnsitznahme im Landkreis Rhön-Grabfeld, die ihm durch Bescheid des Antragsgegners vom 3. Mai 2017 auferlegt worden ist. Hinsichtlich der Klagefrist hat er vorsorglich einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses, mit dem es das Verwaltungsgericht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 3. Mai 2017 anzuordnen.
Der Beschwerdeführer trägt vor, er habe seit Anfang Mai 2017 in der Landeshauptstadt gewohnt, der streitgegenständliche Bescheid habe ihm daher nicht ausgehändigt werden können. Er versichere eidesstattlich, dass die Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis nicht seine Unterschrift sei. Er habe den streitgegenständlichen Bescheid erst am 18. Juli 2017 vom Jobcenter M. erhalten. Vorsorglich werde Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Am 5. April 2017 habe der Antragsteller von der Ausländerbehörde eine Fiktionsbescheinigung erhalten, in der die Wohnsitznahme auf den Freistaat Bayern beschränkt worden sei. Er habe sich daher für berechtigt gehalten, Wohnsitz in der Landeshauptstadt zu nehmen. Der Antragsteller habe sich dort beim Einwohnermeldeamt anmelden können und Leistungen des dortigen Jobcenters bezogen. Eine Wohnsitznahme im Landkreis Rhön-Grabfeld sei dem Antragsteller nicht zumutbar. Es gebe in F., dem Ort der Gemeinschaftsunterkunft, weder einen Sprachkurs noch Arbeitsmöglichkeiten. Der Antragsteller sei in F. ohne jegliche menschliche Anbindung und fühle sich wie im Gefängnis in Syrien, was für den Antragsteller ein traumatisches Erlebnis gewesen sei. In M. fühle er sich wohler, es gebe Freunde und Bekannte. Im Zusammenhang mit einer im Juli 2017 diagnostizierten Epilepsie seien weitreichende Untersuchungen notwendig. Es sei dem Antragsteller nicht zumutbar, auf dem unterfränkischen Land zu wohnen, wo es keine ausreichende ärztliche Grundversorgung gebe. In M. gebe es eine bessere ärztliche Versorgung. Die Wohnsitznahmeverpflichtung sei daher unverhältnismäßig.
Dieses Vorbringen greift gegenüber der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht durch. Zum einen ist die Klage verfristet und das einstweilige Rechtschutzbegehren daher unzulässig (1.). Zum anderen ist auch von einer Rechtmäßigkeit der Wohnsitznahmeverpflichtung auszugehen (2.).
1. Auf der Grundlage der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Überprüfung ist von einer Verfristung der Klage sowie von einem Fehlen der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auszugehen.
Der Antragsteller hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis vom 4. Mai 2017 für den streitgegenständlichen Bescheid, aus dem sich die Verfristung der Klage ergibt, nicht von ihm selbst stammt. Gegen die eidesstattliche Versicherung, er habe das Empfangsbekenntnis nicht unterschrieben, spricht zum einen die Ähnlichkeit des geleisteten Schriftzugs mit den bei anderen Gelegenheiten geleisteten Unterschriften des Antragstellers, auch wenn in diesen wegen ihrer Unleserlichkeit und der starken Variabilität ein Namenszug nicht erkennbar ist. Zudem hat die Unterkunftsverwaltung per E-Mail vom 23. Mai 2017 (Bl. 48 der Verwaltungsakte) bestätigt, dass der Antragsteller das Empfangsbekenntnis selbst unterzeichnet habe. Die vom Beschwerdeführer vorgelegte Bestätigung vom 6. September 2017, wonach sich der Antragsteller ab dem 1. Mai in einer Pension in München aufgehalten habe, steht einem Aufenthalt am 4. Mai in der Unterkunft in F. und einer Empfangnahme des streitgegenständlichen Bescheids nicht entgegen. Den Angaben des Antragsgegners zufolge hat sich der Antragsteller in der Vergangenheit häufig für kürzere Zeiträume aus der Unterkunft entfernt und ist im Unterkunftsverwaltungsprogramm am 3. Mai 2017 ein (erneuter) Aufenthalt des Antragstellers (bis 5.5.2017) erfasst, was es nahelege, dass der Antragsteller nach einer vorübergehenden Abwesenheit in die Unterkunft zurückgekehrt ist. Diesen Angaben hat der Antragsteller nicht widersprochen, so dass Überwiegendes für eine Anwesenheit des Antragstellers in F. im Zeitraum vom 3. bis 5. Mai 2017 spricht, in welchem die Aushändigung des streitgegenständlichen Bescheids erfolgt ist. Bei dieser Sachlage kommt der eidesstattlichen Versicherung als Parteierklärung kein Beweiswert zu.
Die im Beschwerdeverfahren vorsorglich beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO ist voraussichtlich abzulehnen, da der Antragsteller weder glaubhaft gemacht hat, dass er ohne Verschulden gehindert war, die Klagefrist einzuhalten, noch den Antrag gemäß § 60 Abs. 2 VwGO binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses gestellt hat. Das erstinstanzliche Vorbringen des Antragstellers enthält zum Erhalt des streitgegenständlichen Bescheides, zur Fristversäumung und dessen Schuldlosigkeit keinerlei Ausführungen. Auch auf den gerichtlichen Hinweis vom 4. August 2017, wonach Klage und Eilantrag offensichtlich verfristet sind, erfolgte keine Reaktion des Antragstellers. Die mit dem Beschwerdeschriftsatz vom 18. September 2017 nunmehr vorsorglich geltend gemachte schuldlose Verhinderung der Einhaltung der Klagefrist ist jedenfalls nicht mehr binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses nach § 60 Abs. 2 VwGO erfolgt.
2. Die Beschwerde erweist sich darüber hinaus auch in der Sache als unbegründet. Die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Gründe (die Epilepsieerkrankung des Antragstellers, die bessere medizinische Versorgung und das bessere Integrationsangebot in der Großstadt sowie dort befindliche Freunde und Bekannte) rechtfertigen keine Abänderung der angefochtenen Wohnsitznahmeverpflichtung.
Nach § 12a Abs. 1 AufenthG ist zur Förderung einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ein Ausländer, der als Asylberechtigter, Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiär Schutzberechtigter im Sinne von § 4 Abs. 1 AsylG anerkannt worden ist oder dem nach §§ 22, 23 oder 25 Abs. 3 AufenthG erstmalig eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung seines Asylverfahrens oder im Rahmen seines Aufnahmeverfahrens zugewiesen worden ist. Gemäß § 12a Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer, der der Verpflichtung nach Absatz 1 unterliegt und in einer Aufnahmeeinrichtung oder anderen vorübergehenden Unterkunft wohnt, innerhalb von sechs Monaten nach Anerkennung oder Aufnahme längstens bis zum Ablauf der nach Absatz 1 geltenden Frist zu seiner Versorgung mit angemessenem Wohnraum verpflichtet werden, seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen, wenn dies der Förderung seiner nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland nicht entgegen steht. Die Wohnsitzbeschränkung nach § 12a AufenthG soll die Integration der darin bezeichneten Personen erleichtern (vgl. BT-Drs. 18/8615, S. 42, 44). Die Vorschrift dient der besseren Planbarkeit von Integrationsmaßnahmen und wirkt einer Konzentration von Gruppen gleicher Staatsangehörigkeit oder ethnischer Zugehörigkeit und damit einer integrationshemmenden Segregation entgegen, insbesondere da interethnische Kontakte geeignet sind, den Spracherwerb zu forcieren und die Aufnahmebereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft zu erhöhen (vgl. NdsOVG, B.v. 2.8.2017 – 8 ME 90/17 – juris Rn. 37). Abgesehen von der Nichtanwendung der Wohnsitznahmeverpflichtung bei Nachweis einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich nach § 12a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist die Verpflichtung zur Wohnsitznahme nach § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 lit. c AufenthG aufzuheben, wenn dies zur Vermeidung einer Härte erforderlich ist. Eine Härte im Sinne des § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 lit. c AufenthG liegt insbesondere vor, wenn für den Betroffenen aus sonstigen Gründen unzumutbare Einschränkungen entstehen, die mit den in lit. a und lit. b genannten vergleichbar sind. Unbillige Härten sind Beeinträchtigungen persönlicher Belange, die im Vergleich zu den betroffenen öffentlichen Interessen und im Hinblick auf den vom Gesetz vorausgesetzten Zweck der Aufenthaltsbeschränkung als unangemessen schwer anzusehen sind (vgl. BT-Drs. 18/8615, S. 46). In Betracht kommen berechtigte persönliche Interessen aller Art, insbesondere familiäre Gründe, sozial- und integrationspolitische Erwägungen für besonders schutzbedürftige Personengruppen oder Gründe der Sicherheit bzw. des Gewaltschutzes. Diese müssen einiges Gewicht haben und ähnlich schwer wiegen wie insbesondere der in § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AufenthG geregelte Fall einer Beeinträchtigung von Leistungen und Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Gleichwohl muss es sich bei dem gerichtlich voll überprüfbaren Rechtsbegriff der Härte nicht um eine besondere oder gar außergewöhnliche Härte oder einen atypischen Fall handeln (vgl. NdsOVG, B.v. 2.8.2017 – 8 ME 90/17 – juris Rn. 23).
Entsprechend diesem Maßstab ist eine Härte für den Antragsteller im Fall der Wohnsitznahme im Landkreis Rhön-Grabfeld nicht ersichtlich. Der Antragsteller ist nach dem streitgegenständlichen Bescheid nicht verpflichtet, weiterhin in der Gemeinschaftsunterkunft in F. Wohnsitz zu nehmen. Dem Antragsteller steht eine Wohnsitznahme in der Kreisstadt des zugewiesenen Landkreises offen. Auch kann der Antragsteller den zugewiesenen Landkreis ohne Erlaubnis verlassen, um Freunde in der Großstadt zu besuchen. Soziale Beziehungen zu Freunden und Bekannten, wie sie der Antragsteller ohne nähere Darlegungen geltend macht, begründen keine Härte im Sinne von § 12a Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Dem Antragsteller stehen im zugewiesenen Landkreis ebenfalls Integrationsmaßnahmen zur Verfügung. Auch aus der geltend gemachten Epilepsieerkrankung des Antragstellers ergibt sich keine Härte, die einer Wohnsitznahmeverpflichtung entgegenstehen könnte. Eine Erkrankung begründet nicht per se eine Härte im Sinne des Gesetzes. Von einer Härte ist allenfalls bei bestehender Pflegebedürftigkeit oder bei Menschen mit Behinderungen auszugehen, wenn die benötigte Versorgung im zugewiesenen Bereich nicht erhältlich ist. Ein spezifischer Betreuungs- oder Pflegebedarf für die geltend gemachte Epilepsieerkrankung wurde jedoch nicht dargelegt. Die pauschale Behauptung einer besseren ärztlichen Versorgungslage in der Großstadt vermag eine Härte ohnehin nicht zu begründen. Anhaltspunkte dafür, dass die medizinische Versorgung im zugewiesenen Landkreis die angemessene Behandlung einer Epilepsie nicht umfassen würde, sind nicht dargetan.
Schließlich begründet auch die Fiktionsbescheinigung vom 5. April 2017 kein schutzwürdiges Vertrauen des Antragstellers, von einer Verpflichtung zur Wohnsitznahme in dem Landkreis, in dem er während des Asylverfahrens Aufnahme gefunden hat, verschont zu werden, zumal er bereits mit Schreiben vom 28. März 2017 zur beabsichtigten Wohnsitzzuweisung im Landkreis Rhön-Grabfeld angehört worden ist.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 47 Abs. 1 und 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO)


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