Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Gruppenverfolgung

Aktenzeichen  Au 6 K 17.34147

Datum:
11.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 20019
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3a Abs. 2 Nr. 1, § 3c Nr. 3, § 3d, § 3e Abs. 1,§ 4, § 77 Abs. 1 S. 1, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 9
VwGO § 154 Abs. 1, § 167 Abs. 2
ZPO §§ 708 ff.

 

Leitsatz

1. Zwar unterliegen kurdische Volkszugehörige in der Türkei einer gewissen Diskriminierung, es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden, besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Jeder türkische Staatsbürger kann aus der Online-Plattform UYAP eine Kurzübersicht zu über seine Person gespeicherte Daten, z. B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung und Verhandlungstage erhalten. Bevollmächtigten Rechtsanwälten wird ein Volltextauszug erteilt.  (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn letzterer nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 19. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Die Gefahr einer derartigen Verfolgung haben die Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht:
a) Eine Verfolgung allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben die Kläger zu 1 bis 3 nicht zu befürchten. Sie gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 15).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 24).
Dies gilt auch für die nicht ortsgebundenen Kläger, die in die Westtürkei hätten ausweichen können.
b) Eine Verfolgung wegen Zurechnung zur PKK oder HDP haben die Kläger nicht zu befürchten.
Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 5 f., 11 f.). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 17 m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 – nach der PKK zugeschriebenen – Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte zum Stand September 2016 bislang fast 5.000 Todesopfer, darunter 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und über 3.700 PKK-Kämpfer (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.2.2017 S. 6; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 10 a.E.).
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 11 a.E.).
Das Gericht ist nach dem Vortrag der Kläger zu 1 und 2 beim Bundesamt und auch in der mündlichen Verhandlung aus folgenden Gründen davon überzeugt, dass sie nicht wegen vermeintlicher PKK/HDP Unterstützung landesweit in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind:
Die Kläger zu 2 und zu 3 stehen selbst nicht im Verdacht, der HDP nahezustehen. Die Klägerin zu 2 hat selbst betont, nie politisch aktiv gewesen zu sein (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 6). Die minderjährige Klägerin zu 3 ist in Deutschland geboren, eine Vorverfolgung durch den türkischen Staat ist nicht gegeben.
Der Kläger zu 1 gibt an, während seines Studiums in … 2011 habe er die kurdische Partei kennengelernt und sei BDP-Mitglied gewesen zu sein. Er sei für die Studenten und Jugendlichen zuständig gewesen und habe auch einen Mitgliedsausweis besessen. Dieser sei wahrscheinlich bei der Razzia in der Dokumententasche mitgenommen worden. Nach Schließung der BDP sei er HDP Mitglied geworden, einen Ausweis habe er nicht besessen, man habe sich via Handy anmelden können und seine Beiträge geleistet. Er habe für Demonstrationen und Kundgebungen Plakate vorbereitet, organisiert und er sei Ansprechpartner für die Behörden gewesen. Er habe Wahlen beobachten und Bürger aufgefordert, die kurdische Partei zu wählen. Er habe aber keine Funktionärstätigkeit ausgeübt und sei zuletzt auch nicht in führender Stellung tätig gewesen (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 2). Nicht nur ihn, sondern auch anderen, sei in ihrem Stadtteil durch Rechtsradikale der Vorwurf gemacht worden, Unterstützer der Kurden und der PKK zu sein (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 5).
Zwar hat der Kläger zu 1 glaubhaft angegeben, dass bei vielen Kundgebungen und Demonstrationen die Polizei gegen sie Pfefferspray und Wasserwerfer eingesetzt habe. Durch Ausweiskontrollen sei der Druck auf sie erhöht worden, sie seien registriert worden. Die Polizei habe auf den Kundgebungen auch Videoaufnahmen gemacht (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 3). Zwar haben der Kläger zu 1 (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 3 f.) und die Klägerin zu 2 (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 7 f.) schlüssig und glaubhaft vorgetragen, dass die Razzia der türkischen Sicherheitsbehörden am 2. Oktober 2016 stattgefunden hat, sie hierbei schlecht behandelt, der Kläger zu 1 als Terrorist bezeichnet sowie Dokumente, Handys, PC, Laptop und Tablet mitgenommen worden sind. Es wird auch berücksichtigt, dass auf dem Laptop Sitzungsprotokolle, Fotos von politischen Aktivitäten sowie Reden gespeichert gewesen seien (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 3). In der Dokumententasche haben sich überwiegend berufliche Unterlagen sowie möglicherweise sein BDP-Ausweis sowie weitere Unterlagen befunden (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 3). Er habe in … bis zu seiner Ausreise versteckt leben müssen (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 4). Jedoch kann vorliegend nach Überzeugung des Gerichts unter Auswertung der angegebenen Erkenntnismittel nicht von einem landesweiten Verfolgungsinteresse an den Klägern ausgegangen werden. Es handelt sich nach Überzeugung des Gerichts um ein lokales bzw. regionales Geschehen. Es ist hingegen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass die Kläger landesweit wegen vermeintlicher Unterstützung einer Terrororganisation vom türkischen Staat gesucht werden: Die Kläger sind nie verhört oder festgenommen worden. Der Kläger zu 1 war wegen seiner HDP-Tätigkeit noch nicht mal von der Polizei befragt worden (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 3). Gegenteiliges können die Kläger auch sonst nicht beispielsweise durch die Vorlage einer Anklage oder eines Haftbefehls (z.B. durch einen Auszug aus UYAP) glaubhaft machen (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 4).
Bei dem eDevlet System (e-Devlet Sistemi) handelt es sich um ein staatlich betriebenes Online-Portal, in das staatliche Institutionen mit ihren Datenbanken integriert sind. Türkische Staatsbürger erhalten, nachdem sie sich durch Hinterlegung ihrer persönlichen Daten zur Teilnahme am System angemeldet haben, durch Einloggen mit einem Passwort Zugang zu allen freigegebenen Daten, die die eigene Person betreffen. Mit Hilfe des e-Devlet Systems können türkische Staatsbürger u.a. diverse behördliche Dienstleistungen im Online-Verfahren in Anspruch nehmen, ohne persönlich bei den Behörden vorsprechen zu müssen. Haftbefehle und andere Eintragungen aus dem Justizbereich sind im sog. UYAP-System erfasst. Über einen Link im eDevlet System kann sich jeder türkische Staatsbürger – nach Hinterlegung seiner persönlichen ID-Daten für die Zugangsberechtigung – auch im UYAP-System anmelden (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 1 f.) und dort als Privatnutzer allerdings nur schlagwortartig Übersichten einsehen, via Internet sogar aus dem Ausland (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 2).
Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 2 f.). Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2). Dazu zählen grundsätzlich auch in e-Devlet und UYAP hinterlegte Informationen über Ermittlungsverfahren und Haftbefehle selbst in Verfahren mit Bezug zur Gülen-Bewegung („FETÖ“), lediglich im Ermittlungsstadium, für als „geheim“ eingestufte Ermittlungen ist der anwaltliche Anspruch auf Einsicht oder ist ein Herunterladen der Aktenbestandteile nicht oder nur eingeschränkt möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3; auch SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5 f., 7 f.). Art und Umfang der Beschränkung der Akteneinsicht variieren von Fall zu Fall (so Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 6 f.). Sind die Ermittlungen abgeschlossen und wird ein Gerichtsverfahren eingeleitet, bestehen solche Einschränkungen in der Regel nicht mehr; im Stadium des Gerichtsverfahrens haben der Angeklagte bzw. sein Bevollmächtigter – seit ca. Oktober 2018 auch online über UYAP – Zugriff auf die zu den Verfahrensakten gehörenden Schriftstücke und Beweismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3). Teilweise abweichend wird berichtet, Akten der Staatsanwaltschaft in abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren seien seit Frühjahr 2018 nicht mehr über UYAP zugänglich (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5); gleichwohl wird in derselben Quelle ausgeführt, dass ein Zugriff über UYAP nach Anklageerhebung üblicherweise und erst recht nach Annahme der Anklage durch das Gericht sowie nach Abschluss des Verfahrens möglich sei (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 8 f.).
Gegen ein landesweites Verfolgungsinteresse des türkischen Staates spricht auch, dass die Kläger nach ihren eigenen Angaben seit der Razzia in der Türkei – wegen der HDP-Unterstützung – bei den Eltern auch nicht mehr gesucht wurden (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 4). Auch die Klägerin zu 2 hat angegeben, dass die Polizei nach der Razzia in der anderen Wohnung des Schwiegervaters im Dorf, wo sie seither gelebt habe, nicht mehr da gewesen sei, um nach ihrem Ehemann zu suchen (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 7). Dies spricht in einer Gesamtschau gegen ein landesweites Verfolgungsinteresse durch den türkischen Staat und mithin für die Möglichkeit einer sicheren Zuflucht im Westen der Türkei.
c) Eine Verfolgung wegen einer alevitischen Religionszugehörigkeit haben die Kläger nicht zu befürchten.
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln bilden die türkischen, zum Teil auch kurdischen Aleviten mit schätzungsweise 15-20 Mio. Menschen nach den Sunniten die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft der Türkei. Sie werden nicht als separate Konfession bzw. Glaubensgemeinschaft anerkannt und können sich nur als Verein oder Stiftung organisieren. Seit einem Parlamentsbeschluss im Februar 2015 sind alevitische Gebetshäuser namens „Cem-Haus“ (Cem Evi) mit Glaubensstätten anderer Religionen beispielsweise mit Moscheen gleichzustellen. Trotz der faktisch verbesserten Situation erkennen nur wenige Stadtverwaltungen die alevitischen Gebetshäuser als religiöse Stätten an. Die bekannten Hauptforderungen der Aleviten nach Anerkennung und Gleichstellung der Gebetshäuser als religiöse Stätten und Baugenehmigungen für diese, nach Abschaffung der staatlichen (sunnitischen) Religionsbehörde („Diyanet“), nach Einführung einer Freiwilligkeit der Teilnahme am staatlichen Unterrichtsfach „Religions- und Gewissenskunde“ sowie nach Beendigung der Sunnitisierungspolitik wurden bislang noch nicht erfüllt. Die Möglichkeit der Abwahl des Religionsunterrichts wurde lediglich ausgeweitet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 16 f. – im Folgenden: Lagebericht). Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten hat zwar in der Türkei – wie jene der katholischen und evangelischen Christen – keinen eigenen Rechtsstatus. Die individuelle Religionsfreiheit ist jedoch weitgehend gewährleistet (vgl. Lagebericht ebenda S. 16). Sachbeschädigungen z.B. durch Beschmieren alevitischer Gebetshäuser werden von alevitischer Seite immer wieder beklagt, ebenso Repressionen in ihrer öffentlichen Darstellung durch Schließung z.B. ihres Fernsehsenders „TV10“ mit dem Vorwurf der Terrorpropaganda (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 61 f.). Eine Verfolgung alevitischer Gläubiger allgemein ist aber auch nicht in der Provinz Dersim (Tunceli) als ihrem Kernland zu befürchten (vgl. VG München, B.v. 5.4.2018 – M 1 S 17.46575 – juris Rn. 14 m.w.N.).
d) Die Kläger konnten auch mit ihrem individuellen Vortrag sonst nicht glaubhaft machen, dass ihnen in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. Insoweit ist auf die o.g. Würdigung zu verweisen.
aa) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht den Klägern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
In der Behandlung Strafverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 19; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 33 ff.) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es aber wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Lagebericht, ebenda S. 19; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3).
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018). Dass die Kläger der PKK zugerechnet werden und deswegen misshandelt würden, ist aber nach dem oben Ausgeführten nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen.
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhält-nismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei gilt folgendes: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 17; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 23 ff.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen, teilweise sogar über ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 17; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 25). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18).
Da die Kläger aber nicht in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten sind (vgl. Ausführungen oben), kommt eine diskriminierende Strafverfolgung zur Überzeugung des Gerichts unter Würdigung des klägerischen Gesamtvorbringens und der Erkenntnislage nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Betracht. Anhaltspunkte für ein Strafverfahren liegen gerade nicht vor.
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht aus den soeben angeführten Gründen ebenfalls nicht
dd) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhält-nismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht dem Kläger zu 1 vorliegend nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.
Zwar unterliegt ein Mann grundsätzlich der gesetzlichen Wehrpflicht, die in der Türkei ab dem 20. Lebensjahr beginnt. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften oder der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder gefallener Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden; im Ausland lebende Türken können sich gegen ein Entgelt freikaufen, das mit Änderung des Wehrgesetzes im Januar 2016 von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 20 – im Folgenden: Lagebericht), und sogar eine bis zum 3. November 2018 befristete Freikaufmöglichkeit für in der Türkei lebende Türken eröffnete (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 41). Insgesamt werden jährlich etwa 300.000 Wehrpflichtige eingezogen; rund 1,9 Mio. Wehrpflichtige haben wegen Studiums und weitere rund 3 Mio. Wehrpflichtige aus anderen Gründen den Wehrdienst aufgeschoben; ca. 650.000 Wehrpflichtige entziehen sich der Dienstpflicht (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 27 f.).
Wer wehrpflichtig ist, aber sich der Musterung entzieht, gilt als „Musterungsflüchtiger“, was eine Ordnungswidrigkeit darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird. Die Verjährung richtet sich nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht und greift proportional zur Höhe der Geldbuße nach drei, vier oder fünf Jahren Verjährungsfrist. Wer sich nach erfolgter Musterung und Einberufung dem Wehrdienst entzieht, gilt als „Wehrdienstflüchtiger“, was eine Straftat darstellt und mit Geldstrafen geahndet wird, die in der Höhe von der Dauer der Wehrdienstentziehung sowie davon sind, ob der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird. Die Verjährung richtet sich nach Art. 66 tStGB und greift, wenn der Wehrdienstflüchtige sich stellt oder gefasst wird (zum Ganzen Deutsche Botschaft Ankara, Auskunft vom 1.6.2017 an das BAMF, S. 2).
In der Türkei gibt es kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Wehrdienstpflichtige werden im zentralen elektronischen Fahndungsregister (GBT) erfasst; Sicherheitsbeamte an der Grenze und im Inland können an Hand der Identitätsnummer des Betroffenen einen Eintrag im GBT prüfen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstentziehung wird in der Türkei zunächst mit einer Geldbuße geahndet unter Berücksichtigung der Zeitspanne des Wehrdienstentzugs sowie ob sich der Betroffene selbst bei den Wehrbehörden gemeldet hat oder festgenommen wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Wird ein erlassener Bußgeldbescheid bestandskräftig und meldet sich der Betroffene danach nicht bei der Wehrbehörde zum Dienstantritt, können auch Freiheitsstrafen zwischen 2 und 36 Monaten verhängt werden; in der Regel wird von der Mindeststrafe Gebrauch gemacht und können kurzzeitige Gefängnisstrafen nach Art. 50 tStGB u.a. auch in Geldstrafen umgewandelt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich, insbesondere nach Art. 67 tStGB bei Flucht ins Ausland. Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 20; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 44). Die Vollstreckung solcher Haftstrafen wurde wegen Platzmangels in den Haftanstalten regelmäßig aufgeschoben, so dass fast niemand eine solche Haftstrafe verbüßen musste; auch nach einer Gesetzesänderung, dass Haftstrafen über drei Monaten verbüßt werden müssten, wird der Haftantritt aus demselben Gründen aufgeschoben (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 10). Die Haftbedingungen in Militärhaftanstalten unterscheiden sich nach Kenntnis des Auswärtigen Amts grundsätzlich nicht von jenen in anderen Haftanstalten; das türkische Wehrrecht sieht eine Haft in einer Militärhaftanstalt jedoch erst vor, wenn ein Wehrpflichtiger während des Ableistens des Wehrdienstes wegen einer Straftat verurteilt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7). Wehrdienstflüchtige werden auch nicht per Hausdurchsuchung am Wohnort sondern per GBT gesucht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6) und dürften daher beim Grenzübertritt auffallen sowie – im Falle eines Haftbefehls – in Untersuchungshaft genommen werden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12).
Soweit bis zum Jahr 2009 Personen die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, die sich dem Wehrdienst entzogen hatten, können sie mittlerweile durch Novellierung des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes unabhängig von ihrem Wohnsitz wieder die Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. Lagebericht ebenda S. 21) und unterliegen dann weiterhin der Wehrpflicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 6). Nach der Verbüßung einer wegen Wehrdienstverweigerung verhängten Haftstrafe erfolge normalerweise die Befreiung von der Dienstpflicht (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 43).
Der Kläger befürchtet, wegen seiner Wehrdienstentziehung – er hätte nach einer Verlängerung wegen seines Studiums seinen Dienst bis Januar 2019 antreten müssen – bestraft zu werden. Einen Einberufungsbescheid habe er nicht schriftlich erhalten, die Jandarma sei aber Ende 2018 bei seinen Eltern gewesen und habe ihn abholen wollen. Sein Vater habe ihm telefonisch mitgeteilt, dass er ein Schreiben erhalten habe, dass er seinen Wehrdienst antreten solle. Weil er die Gesundheitsuntersuchung nicht gemacht und sich auch sonst nicht gemeldet habe, sei die Jandarma Anfang 2019 erneut bei seinen Eltern zu Hause gewesen und habe nach ihm gefragt (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 4). Dass dem Kläger eine Haftstrafe wegen Wehrdienstentziehung droht, obwohl er noch gar nicht gemustert und für tauglich erklärt worden ist, erscheint nach Auswertung der Erkenntnismittel derzeit schon nicht hinreichend wahrscheinlich. Der Kläger ist derzeit nur musterungs-, aber nicht wehrdienstflüchtig.
Selbst wenn jedoch vorliegend für den Fall einer künftigen, erst nach der Rückkehr des Klägers in die Türkei erklärten Wehrdienstverweigerung eine Bestrafung nicht ausgeschlossen wäre, mithin ein erst künftig zu erwartendes Geschehen in die Betrachtung einbezogen würde, für das bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung ein Kausalverlauf in Gang gesetzt worden ist, der bei ungehindertem Ablauf zwingend zur Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen für einen Schutzanspruch führen würde (als Maßstab bei BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 87), würde keine Verfolgung vorliegen:
(1) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes bedeutet – so sie dem Kläger doch drohte – hier aber keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.
Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.
Es droht jedoch keine Beteiligung an Kriegsverbrechen. Es ist weder aus den Erkenntnismitteln ersichtlich noch dargetan, dass bei Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei derartige Handlungen vom Kläger gefordert würden.
(2) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes – so sie dem Kläger doch drohte – knüpft vorliegend auch nicht an ein Verfolgungsmerkmal nach § 3b AsylG an.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17 – juris Rn. 14 m.w.N.). So wurde die Ausbürgerung eines türkischen Staatsangehörigen, der der Aufforderung zur Ableistung des Wehrdienstes nicht nachgekommen war, als nicht asylerheblich gewertet (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.2017 – 1 B 22/17 – juris Rn. 14 m.w.N.).
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, in der Vergangenheit eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 87 unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 – 42730/05). Eine Verletzung von Art. 9 EMRK setzt aber voraus, dass der Betroffene glaubhaft machen kann, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Eine solche Gewissensentscheidung setzt eine sittliche Entscheidung voraus, die der Kriegsdienstverweigerer innerlich als für sich bindend erfährt und gegen die er nicht handeln kann, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Erforderlich ist eine Gewissensentscheidung gegen das Töten von Menschen im Krieg und damit die eigene Beteiligung an jeder Waffenanwendung. Sie muss absolut sein und darf nicht situationsbezogen ausfallen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 87 m.w.N.). Dies ist aufgrund der persönlichen Entwicklung, der Lebensführung, des bisherigen Verhaltens, der Einflüsse, denen er ausgesetzt war und noch ist, sowie aufgrund der Motivation seiner Entscheidungsbildung zu beurteilen (vgl. stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 18. Oktober 1972 – 8 C46.72 – BVerwGE 41, 53 ; vom 24. Oktober 1984 – 6 C 49.84 – BVerwGE 70, 216 und vom 1. Februar 1989 – 6 C 61.86 – BVerwGE 81, 239 ). Erforderlich ist eine Gesamtwürdigung aller in Betracht kommenden Umstände. Da die Gewissensentscheidung das Ergebnis innerer Erkenntnisprozesse ist, müssen durch das Gericht innere Vorgänge beurteilt werden. Hierbei kommt es maßgeblich auf die Schlüssigkeit und Glaubhaftigkeit des Vorbringens an (vgl. BVerwG, B.v. 3.8.2018 – 6 B 124.18 – beck-online Rn. 11 ff.).
Zwar hat der Kläger bei der Anhörung beim Bundesamt und auch in der Klagebegründung nicht erwähnt, dass er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert. Dies kann dem Kläger zu 1 vorliegend aber nicht entgegengehalten werden, weil das Bundesamt danach auch nicht weiter gefragt hat. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom Kläger zu 1 den Eindruck gewonnen, dass er zurückhaltend ist und es ihm nicht leicht fällt, aus freien Stücken zu sprechen, vielmehr musste er gezielt gefragt werden. Die Ausführungen des Klägers zu 1 in der mündlichen Verhandlung lassen Rückschlüsse auf eine ernsthafte Gewissensentscheidung und einen Gewissensnotstand im Falle seiner Wehrdienstleistung zu. Er hat auf die Fragen des Gerichts schlüssig und glaubhaft geschildert, dass er aufgrund seiner Kindheit und Jugend, die geprägt war von Konflikten und militärischer Gewalt, jegliche Gewaltanwendung ablehne und er keine Waffe in der Hand halten wolle (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 5). Er habe auch an Friedensdemonstrationen teilgenommen (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 8). Auch seine Ehefrau, die Klägerin zu 2, hat auf Nachfrage übereinstimmend und glaubhaft geschildert, dass sie in ihrer Beziehung darüber gesprochen haben und der Kläger zu 2 von Beginn an gegen Waffen und Gewalt gewesen sei, sondern für Frieden und Menschlichkeit. Seit sie 19 Jahre alt sei, habe er geäußert, dass er deshalb den Militärdienst nicht antreten wolle (vgl. Protokoll vom 9.7.2019, S. 8).
Aus den angegebenen Erkenntnismitteln ergeben sich aber keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der türkische Staat Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen systematisch härter oder anders bestraft als andere Wehrdienstverweigerer. Auch die Klägerseite hat hierzu nichts Gegenteiliges vorgetragen. Deshalb fehlt es insoweit an der erforderlichen Kausalbeziehung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsmerkmal. Zudem ist kein unverhältnismäßiger Ausgleich zwischen der individuellen Gewissensfreiheit und dem staatlichen Anspruch auf Wehrdienstleistung ersichtlich angesichts der vergleichsweise milden Strafpraxis mit Geldstrafe, Aufschub und Umwandlung von Haftstrafen.
(3) Eine etwaige Strafverfolgung oder Bestrafung des Klägers wegen Verweigerung des Militärdienstes – so sie dem Kläger doch drohte – knüpft auch nicht an ein Verfolgungsmerkmal nach § 3b Abs. 1 Nr. 3 (Ethnie) AsylG an.
Eine Anknüpfung an ein ethnisches Merkmal – hier: die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers – nach § 3b Abs. 1 Nr. 3 AsylG erfolgt bei der Wehrdienstleistung in der Türkei nicht:
Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt. Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (zum Ganzen VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 44 m.w.N.).
Die türkischen Streitkräfte setzen Wehrpflichtige gezielt in anderen Landesteilen als ihrer Herkunftsregion ein; nach kurdischen Angaben würden kurdischstämmige Rekruten gezielt in den Konfliktgebieten im Südosten eingesetzt, um den Alleinvertretungsanspruch der PKK für Kurden zu diskreditieren; für eine systematische Diskriminierung kurdischer oder alevitischer Minderheitenangehöriger in der Armee fehlten aber Anhaltspunkte (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 42 f.).
e) Für die Kläger besteht zudem die o.g., von der Beklagten zutreffend geltend gemachte inländische Fluchtalternative in der Westtürkei vor lokalen oder regionalen Übergriffen. Hierzu wird auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen und ergänzend ausgeführt:
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft wegen einer inländischen Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Die Kläger können nach Überzeugung des Gerichts in einem Teil ihres Herkunftslandes ohne begründete Furcht vor Verfolgung leben. Nach dem oben Ausgeführten ist kein landesweites Verfolgungsinteresse des Staates glaubhaft gemacht. Mithin wäre ihnen ein Ausweichen in andere Landesteile möglich und zumutbar. Hinsichtlich der Möglichkeit einer Sicherung des Lebensunterhalts ist auf die ausführliche Würdigung durch die Beklagte in ihrem Bescheid zu verweisen.
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
Die Kläger haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 26). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
Die Türkei unterliegt als Unterzeichnerstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention dem Folterverbot ebenso wie den Mindeststandards für die Ausgestaltung von Haftbedingungen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte näher beschrieben worden sind (EGMR, U.v. 20.10.2016 – 7334/13 – juris; unter Bezugnahme hierauf BVerwG, B.v. 9.11.2017 – 1 VR 9.17 – InfAuslR 2018, 88 f.): Danach stellt die Unterbringung eines Häftlings in einer überbelegten Gefängniszelle, in der dem Häftling lediglich ein Platz von 3 m² bis 4 m² zur Verfügung steht, eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der räumliche Faktor mit anderen Aspekten ungeeigneter physischer Haftbedingungen verbunden ist, die insbesondere den Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht, Verfügbarkeit von Belüftung, Angemessenheit der Raumtemperatur, Möglichkeit zur privaten Toilettenbenützung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Erfordernisse betreffen.
Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln besteht in der Türkei derzeit zwar eine abstrakte Gefahr von Misshandlungen in staatlichem Gewahrsam, eine systematische Folter aber findet nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 25 – im Folgenden: Lagebericht). Die Türkei hatte demnach bis zum Sommer 2015 große Fortschritte dabei erzielt, Folter und Misshandlungen im staatlichen Gewahrsam zu bekämpfen und im Rahmen einer „Null-Toleranz-Politik“ zu unterbinden wie die Erhöhung der Strafandrohung (Art. 94 ff. tStGB) für Täter von Folter.
Im Zuge der Ermittlungen gegen einer Beteiligung an dem Putschversuch ver-dächtige Personen wurden von einigen NROs (u.a. Amnesty International, Human Rights Watch) sehr detaillierte Foltervorwürfe gegen die türkischen Polizei und Justiz erhoben; insbesondere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch sei es zu Übergriffen bei der Festnahme von Verdächtigen und auch gegen solche im Gewahrsam gekommen, gerade bei Personen, denen eine aktive Teilnahme vorgeworfen wurde (Piloten und Offiziere). Ob es auch mit größerem zeitlichen Abstand zu Übergriffen gegen Gefangene kommt bzw. kam, könne das Auswärtige Amt weder ausschließen noch bestätigen. Ebenso werde aus verlässlichen Quellen über Misshandlungen im Rahmen der Anti-Terroreinsätze gegen die PKK im Südosten des Landes berichtet (vgl. Lagebericht ebenda S. 25).
Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen habe sich nach belastbaren Informationen von Menschenrechtsorganisationen die Situation in den letzten Jahren erheblich verbessert; es würden weiterhin allerdings Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Misshandlung und psychischen Drucks. Ein Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter sei die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen unter Missachtung der seit Januar 2004 geltenden Regelung, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft anwesend sein dürfen und das Untersuchungsergebnis direkt dem Staatsanwalt versiegelt (ohne Kopie für die Vollzugsbeamten) auszuhändigen sei. Gerade im Rahmen der Notstandsmaßnahmen dürften Abweichungen von diesen Bestimmungen eher die Regel sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 26).
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht, nicht aber für inhaftierte IS-Verdächtige (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018).
In der Person der Kläger liegt nach ihrem Vorbringen kein ein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor, weil sie nach Überzeugung des Gerichts nicht landesweit im Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden stehen. Deshalb besteht auch keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen. Hierzu wird auf die Ausführungen oben auch zur bestehenden inländischen Fluchtalternative in der Westtürkei (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG) verwiesen.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen hinsichtlich der Kläger zu 2 und 3 ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Die Kläger würden im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 – Au 6 K 17.33922 – juris Rn. 89 ff.).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3.8.2018, S. 29 ff.). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2016 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 30). Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/WehrDienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 31). Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
Es ist davon auszugehen, dass die Kläger aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Bildung das Existenzminium von sich und ihren beiden Kindern sichern können. Selbst wenn die Klägerin zu 2 wegen ihrer Erkrankung bzw. der Betreuung des jüngsten Kindes derzeit nicht arbeiten kann, kann die Familie in der Türkei auf die Unterstützung von Familienangehörigen zurückgreifen. Dies war auch vor der Ausreise bereits der Fall.
bb) Die Kläger würden im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen einer Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 32). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Da die Kläger nach Überzeugung des Gerichts nach dem oben Gesagten derzeit nicht landesweit im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen, ist nicht davon auszugehen, dass sie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen würden. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kläger in Deutschland darüber hinaus regelmäßig aktiv für kurdische Rechte oder Organisationen eingesetzt haben und deswegen in den Blick türkischer Sicherheitsbehörden geraten wären, sind nicht vorgetragen worden.
cc) Der Kläger zu 1 wird durch das derzeit in der Türkei noch nicht gewährleistete Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch nicht in seinem durch Art. 9 EMRK garantierten Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verletzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat für das türkische System, das keinen Ersatzdienst und kein Verfahren vorsieht, in dem dargelegt werden kann, ob die Voraussetzungen einer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorliegen, eine Verletzung der von Art. 9 EMRK garantierten Gewissensfreiheit angenommen, weil es keinen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft und jenem von Wehrdienstverweigern trifft (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 87 unter Verweis auf EGMR, U.v. 12.6.2012 – 42730/05; siehe hierzu ausführlich oben). Eine Verletzung von Art. 9 EMRK kann vorliegend aber nicht angenommen werden. Zwar bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seine Verweigerung auf eine Gewissensentscheidung stützt (vgl. oben). Es bestehen jedoch nach Auswertung der Erkenntnismittel keine Anhaltspunkte dafür, dass eine etwaige Bestrafung – sofern sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte – unverhältnismäßig oder unmenschlich wäre. Besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich (vgl. EuGH, U.v. 20.11.2013 – C-472/13; BVerwG, U.v. 24.4.1990 – 9 C 4/89 – NVwZ 1990, 876). Insbesondere gibt es auch keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG oder an der Volkszugehörigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 6.3.2019 zu Frage 7) orientiert ist.
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Kläger nicht vor.
Es war für das Gericht in der mündlichen Verhandlung ersichtlich, dass die Klägerin zu 2 psychisch angeschlagen ist. Eine Erkrankung in solcher Ausprägung ist bei der Klägerin zu 2 aber bisher nicht attestiert worden (§ 60 Abs. 7 i.V.m. § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG). Die vorgelegten Arztbriefe vom 1. April 2019 (vgl. Bl. 57 f. der Gerichtsakte) und vom 20. Mai 2019 (vgl. Bl. 62 der Gerichtsakte) sowie das Schreiben von Frau … vom 16. Mai 2019 (vgl. Bl. 59 ff. der Gerichtsakte) erfüllen nicht die gesetzlich vorgegebenen Anforderungen. Zudem hätte die Klägerin zu 2 im Herkunftsstaat die Möglichkeit psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung (vgl. oben). Dass diese Behandlung in der Türkei nicht verfügbar wäre, zumal die dortige Behandlung nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG der hiesigen nicht gleichwertig sein muss, ist nicht ersichtlich.
Hinsichtlich der Gefahr einer Retraumatisierung liegen keine begründeten Anhaltspunkte vor, für diese finden sich in den Attesten auch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Dieser kann die Klägerin zu 2 auch durch Rückkehr an einen anderen Ort als der behaupteten Traumatisierung entgehen. Selbst eine vor der Ausreise liegende posttraumatische Belastungsstörung schließt eine Behandlung im Herkunftsland nicht gleichsam automatisch aus. Vielmehr ist es eine Frage der Umstände des Einzelfalls, ob eine (zwangsweise) Rückführung ausnahmsweise Konsequenzen hätte, die zu einem Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen (können), weil etwa ein psychischer Zusammenbruch mit dauerhaften Folgen droht, der eine erfolgversprechende Behandlung dort prognostisch unmöglich machen würde (vgl. OVG NW, U.v. 11.9.2018 – 5 A 3000/15.A – juris Rn. 89 m.w.N.). Dies ist allerdings klägerseitig nicht dargelegt.
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG – mangels noch stärker zu berücksichtigender schutzwürdiger Belange der Kläger – als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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