Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität in der Russischen, Föderation, fehlende Glaubhaftigkeit des Vorbringens zur angeblich individuell erlittenen, Verfolgung, keine Gruppenverfolgung wegen der sexuellen Orientierung, kein asylrechtlicher Schutz für Familienangehörige ohne anerkannte oder registrierte Ehe oder Lebenspartnerschaft im Verfolgerstaat

Aktenzeichen  11 B 19.30575

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12506
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, 3a Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4, 3c Nr. 1 Nr. 3, 3d Abs. 2, 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 S. 1 und 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 9 K 17.32189 2018-10-02 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 2. Oktober 2018 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.   
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.         
Gerichtskosten werden nicht erhoben.     
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.     
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.
Im Berufungsverfahren prüft der Verwaltungsgerichtshof den Streitfall innerhalb des Berufungsantrags im gleichen Umfang wie das Verwaltungsgericht (§ 128 Satz 1 VwGO). Dabei darf dessen Urteil nur soweit geändert werden, als eine Änderung beantragt ist (§ 129 VwGO). Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts wird begrenzt durch das erstinstanzliche Klagebegehren (§ 88 VwGO). Nachdem der Kläger im Ausgangsverfahren die Ablehnung seines Antrags auf Asylanerkennung nicht angefochten hat (Schriftsatz vom 25.4.2017), ist der Bescheid der Beklagten vom 13. April 2017 insoweit bestandskräftig geworden und nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens. Zu prüfen ist daher lediglich, ob das Verwaltungsgericht die Beklagte zu Recht unter Aufhebung der Ziffern 1, 5 und 6 des Bescheids verpflichtet hat, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und ob ihm hilfsweise subsidiärer Schutz oder weiter hilfsweise ein nationales Abschiebungsverbot zuzusprechen ist. Maßgebend ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 19. April 2021 (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes – AsylG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.9.2008 [BGBl I S. 1798], zuletzt geändert durch Gesetz vom 4.8.2019 [BGBl I S. 1131], in Kraft getreten am 1.4.2021).
Hiervon ausgehend hat der Kläger weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 oder § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG (I.) noch auf Feststellung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (II.). Auch die Voraussetzungen für ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.2.2008 [BGBl I S. 162], zuletzt geändert durch Gesetz vom 4.8.2019 [BGBl I S. 1131], in Kraft getreten am 1.4.2021), sind nicht erfüllt (III.).
I.
Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
1. Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Unter anderem gelten als Verfolgung die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG), die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) und Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG).
Als bestimmte soziale Gruppe, an deren Zugehörigkeit eine Verfolgung anknüpfen kann, gilt eine Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere, wenn deren Mitglieder angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund gemein haben, der nicht verändert werden kann, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer diese Merkmale, die zur Verfolgung führen, tatsächlich aufweist, sofern sie ihm von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie nichtstaatliche Akteure, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor Verfolgung kann nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten (§ 3d Abs. 1 AsylG). Der Schutz vor Verfolgung muss wirksam und darf nicht nur vorübergehender Art sein (§ 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG). Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die in § 3d Abs. 1 AsylG genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (§ 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 337 S. 9) ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – NVwZ 2018, 1408 Rn. 15 m.w.N.).
2. Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Es ist nicht davon auszugehen, dass ihm wegen seiner Homosexualität in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine Verfolgung durch den Staat oder durch nichtstaatliche Akteure droht. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Ausreise gravierende individuelle Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat. Seine Schilderung hinsichtlich der Vorkommnisse weist erhebliche Widersprüche, Ungereimtheiten und Lücken auf und erscheint deshalb insgesamt nicht glaubhaft (a). Abgesehen davon würden die geschilderten Vorfälle selbst bei Wahrunterstellung weder einzeln noch in der Summe gravierende und schwerwiegende Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte darstellen (b). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sind auch die Voraussetzungen einer an die Homosexualität anknüpfende Gruppenverfolgung nicht erfüllt (c). Schließlich ergibt sich auch aus dem rechtskräftigen Gerichtsbescheid vom 22. Oktober 2018, mit dem das Verwaltungsgericht Regensburg die Beklagte verpflichtet hat, dem Lebensgefährten des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, kein Anspruch des Klägers, ebenfalls als Flüchtling anerkannt zu werden (d).
a) Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein erlittenes Schicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Hinsichtlich seines individuellen Verfolgungsschicksals befindet er sich typischerweise in Beweisnot und ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es daher entscheidend an, so dass seinem persönlichen Vorbringen und dessen Würdigung maßgebliche Bedeutung zuzumessen ist (BVerwG, U.v. 9.12.2010 – 10 C 13.09 – BVerwGE 138, 289 Rn. 19; B.v. 10.5.2002 – 1 B 392.01 – juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180/182). Er muss die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts (BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141.83 – NVwZ 1985, 36 = juris Rn. 11; B.v. 20.5.1992 – 9 B 295.91 – juris Rn. 5). Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert (vgl. HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 35).
aa) Der Senat hat keine Zweifel daran, dass der Kläger homosexuell ist. Des Weiteren ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass er damit in seinem Heimatland einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehört, deren Mitglieder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach den hierzu vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Kriterien (EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – NVwZ 2014, 132 = juris Rn. 44-49) eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der dortigen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Die hierzu vom Senat eingeholten Auskünfte bestätigen übereinstimmend, dass erhebliche Teile der Bevölkerung der Russischen Föderation Vorbehalte gegenüber Homosexuellen haben.
So hat der Auskunft des Auswärtigen Amt vom 27. Januar 2020 und dem Lagebericht vom 2. Februar 2021 (Stand: Oktober 2020) zufolge eine Umfrage in 50 Regionen im April 2019 ergeben, dass lediglich 3% der Bevölkerung eine positive Einstellung zu Homosexuellen hätten, während 39% neutral und 56% negativ gegenüber Homosexuellen eingestellt seien. 43% der Bevölkerung lehnten eine Gleichstellung Homosexueller mit anderen Bürgern ab. Einflussreiche Organisationen wie die Russisch-Orthodoxe Kirche träten gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ein. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet von verbreiteter Homophobie in der russischen Bevölkerung, von LGBTfeindlicher Rhetorik in den Medien und von der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch die zunehmend einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche. Amnesty International bestätigt ebenfalls, dass homophobe Ansichten in der russischen Gesellschaft weit verbreitet seien, und weist auf die Volksabstimmung vom 1. Juli 2020 zur Verfassungsänderung hin, mit der festgelegt worden sei, dass der Staat die Ehe als „Verbindung aus Mann und Frau“ zu schützen habe.
Auch wenn Homosexualität als solche in der Russischen Föderation nicht strafbar ist, tragen weitere legislative und administrative Maßnahmen, insbesondere das „Gesetz zum Verbot von Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ vom 30. Juni 2013, dazu bei, dass bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung starke Vorbehalte gegenüber Homosexuellen anzutreffen sind. Dieses Gesetz wird Umfragen zufolge von 88% der Bevölkerung befürwortet. 42% der Bevölkerung sprechen sich sogar für die Strafbarkeit von Homosexualität als solcher aus. Damit betrachtet die Gesellschaft in der Russischen Föderation Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als andersartig mit der Folge, dass sie als bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind.
bb) Der Senat konnte allerdings nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger wie von ihm geschildert vor seiner Ausreise gravierende individuelle Verfolgungsmaßnahmen erlitten hätte. Vielmehr bestehen aufgrund widersprüchlichen, lückenhaften und unstimmigen Vorbringens erhebliche Zweifel an dessen Darstellung der Vorkommnisse. Dies gilt sowohl für die geschilderten Übergriffe von Nachbarn als auch für die Probleme mit den Brüdern seiner früheren Ehefrau und schließlich auch für die angeblich fluchtauslösende Aufforderung eines Polizisten, die Wohnung und das Land zu verlassen, und damit für sämtliche Übergriffe, die der Kläger geltend gemacht hat.
(1) Zu den körperlichen Auseinandersetzungen mit den Nachbarn hatte der Kläger bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 11. Juli 2016 angegeben, dies sei im November 2013 gewesen. Am nächsten Tag sei die Wohnungstür mit Schimpfworten beschmiert gewesen. In der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht Regensburg am 25. Juli 2017 datierte der Kläger die körperliche Auseinandersetzung ebenfalls auf „ungefähr Mitte November 2013“ und erwähnte eine Beleidigung durch Nachbarn als „ersten Vorfall“ im Frühjahr – wohl Mai 2013 -, gab als Zeitraum der Schmierereien an der Wohnungstür jedoch – insoweit abweichend von seiner Einlassung gegenüber dem Bundesamt – wiederum Mai oder Juni 2013 an. In der mündlichen Verhandlung am 19. April 2021 gab der Kläger an, nicht mehr genau zu wissen, wann der körperliche Übergriff stattgefunden habe, es sei jedoch nicht lange nach dem Einzug in die gemeinsame Wohnung gewesen. Nachdem der Kläger erklärt hat, sein Lebensgefährte und er hätten sich im Januar 2013 kennengelernt und seien nach etwa eineinhalb Monaten zusammengezogen, weicht die Datierung des angeblichen Übergriffs damit um mehrere Monate von seinen früheren Einlassungen ab. Gleiches gilt für die zeitliche Abfolge der Schmierereien an der Wohnungstür, die mal nach, dann aber wieder mehrere Monate vor der körperlichen Auseinandersetzung gewesen sein sollen.
(2) Auch hinsichtlich der Bedrohungen durch die Brüder seiner früheren Ehefrau ist die Einlassung des Klägers nicht stimmig. Gegenüber dem Bundesamt hatte der Kläger erklärt, er habe bei der Polizei Anzeige erstattet und sei von seinen Schwägern bis zu seiner Ausreise immer wieder per SMS bedroht worden. Hiervon abweichend gab er in der mündlichen Verhandlung am 19. April 2021 an, die Bedrohungen hätten aufgehört, als er nach dem Umzug in die Wohnung in St. Petersburg seine Telefonnummer gewechselt habe. Er habe zwar vorgehabt, sich an die Polizei zu wenden, dies aber unterlassen, weil es sinnlos sei und er auch Angst vor der Polizei gehabt habe.
(3) Den Vorfall mit dem Polizisten hat der Kläger ebenfalls lückenhaft und in Teilen unterschiedlich geschildert. Dies erscheint umso gravierender, weil es sich dabei um das Ereignis handelt, für das der Kläger angibt, es habe ihn und seinen Lebensgefährten zur Ausreise bewogen. Deshalb wäre zu erwarten gewesen, dass er in der Lage ist, dieses Vorkommnis auch nach längerer Zeit präzise, detailliert und stimmig zu schildern.
Beim Bundesamt hat der Kläger insoweit vorgetragen, im Februar 2014 sei ein Polizist zu ihnen in die Wohnung gekommen und habe damit gedroht, sie würden wegen ihrer Homosexualität aus der Wohnung geworfen. Sie würden den Kindern in der Nachbarschaft ein schlechtes Beispiel geben und Homosexualität zwischen Jugendlichen propagieren. Im Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 20. Juni 2017 hat der Kläger behaupten lassen, es habe sich um den „Bezirkspolizisten“ gehandelt. In der ersten mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht am 26. Juni 2017 äußerte der Kläger, der Polizist habe etwa Ende Februar an der Tür geklingelt und sie beschimpft, beleidigt und bedroht. Woher er von ihrer Homosexualität gewusst habe, sei ihnen nicht bekannt. Sie würden vermuten, dass Nachbarn bei der Polizei gewesen seien. Der Polizist habe sie aufgefordert, die Wohnung und das Land zu verlassen, und gedroht, sie zu töten. In der zweiten mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht am 25. Juli 2017 gab er an, der Vorfall mit dem Polizisten sei Ende Februar 2014 gewesen, nach dem 20., vielleicht am 25. oder 26. Februar, jedenfalls relativ am Ende des Monats. Auf ausdrückliche Nachfrage bekräftigte der Kläger, der Vorfall müsse ziemlich genau am Monatsende gewesen sein. In der mündlichen Verhandlung am 19. April 2021 erklärte der Kläger hingegen, der Vorfall sei etwa zwei oder drei Wochen vor der Ausreise gewesen. Dies ergäbe, zurückgerechnet vom Datum der Ausreise am 10. März 2014, ein Zeitfenster zwischen dem 17. und 24. Februar. Der Polizist habe gesagt, Nachbarn hätten sich über ihn und seinen Lebensgefährten bei der Polizei beschwert.
Für ein so einschneidendes und angeblich fluchtauslösendes Erlebnis wie es der geschilderte Vorfall mit dem Polizisten gewesen sein soll kann jedoch erwartet werden, dass der Betroffene auch nach längerer Zeit in der Lage ist, sich an den Ablauf und den Zeitpunkt zu erinnern. Insbesondere im Hinblick auf die Behauptung, erst nach diesem Ereignis hätten der Kläger und sein Lebensgefährte mit ihren Ausreisevorbereitungen begonnen, kommt dem Zeitpunkt des Vorfalls besondere Bedeutung zu. Insoweit hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Reiseversicherung für den Aufenthalt in Deutschland bereits am 18. Februar 2014 ausgestellt wurde. Damit lässt sich zwar die vage Zeitangabe ‚Februar 2014‘ für den Vorfall und möglicherweise auch noch die zuletzt vorgetragene Rückrechnung auf ‚etwa zwei oder drei Wochen vor der Ausreise‘ in Einklang bringen, nicht jedoch die auf erstinstanzliche Nachfrage erhobene präzise Behauptung ‚ziemlich genau am Monatsende‘. Es macht auch einen erheblichen Unterschied, ob der Polizist – wie zuletzt vom Kläger behauptet – ausdrücklich erklärt haben soll, Nachbarn hätten sich bei der Polizei beschwert, oder ob der Kläger und sein Lebensgefährte – wie zunächst vorgetragen – dies nur vermutet haben. Schließlich erscheint angesichts der erstinstanzlichen Behauptung, es habe sich um den „Bezirkspolizisten“ gehandelt, befremdlich, dass der Kläger auf Frage in der mündlichen Verhandlung am 19. April 2021 angegeben hat, nicht mehr genau zu wissen, ob der Polizist uniformiert gewesen sei oder ob er Zivilkleidung getragen habe. Selbst wenn manche Details in der Erinnerung mit der Zeit verblassen mögen, war der Polizist nach Darstellung des Klägers 30 bis 40 Minuten in der Wohnung und hat viel Druck ausgeübt. Bei der Frage, ob er dabei eine Uniform oder Zivilkleidung trug, handelt es sich nicht um eine in der Erinnerung verblassende Nebensächlichkeit, sondern um eine einprägsame Äußerlichkeit, an die sich der Betroffene auch nach längerer Zeit noch erinnern können müsste. Möglicherweise war der Kläger durch diese Frage in der mündlichen Verhandlung überrascht und wusste nicht mehr, ob sie ihm vielleicht zuvor bereits gestellt worden war und wie er sie beantwortet hatte. Seine Zögerlichkeit und angebliche Unwissenheit in der mündlichen Verhandlung bestärkt jedenfalls den bereits durch die weiteren Widersprüche entstandenen Eindruck, dass die Darstellung jedenfalls so wie vorgetragen nicht der Wahrheit entspricht.
Zusammenfassend hält der Senat die Unstimmigkeiten und die Lückenhaftigkeit der Einlassungen des Klägers zu den angeblichen Vorfällen für so auffällig, dass die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung hierdurch schwer erschüttert ist. Daher geht der Senat nicht von einer individuellen Verfolgung des Klägers wegen seiner Homosexualität vor der Ausreise aus.
b) Unabhängig davon wäre selbst bei Wahrunterstellung der klägerischen Behauptungen zu den geschilderten Vorfällen nicht von so gravierenden Handlungen auszugehen, dass diese auf Grund ihrer Art oder Wiederholung (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in ihrer Kumulierung (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG) eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen würden.
Die Auseinandersetzungen mit den Nachbarn erreichen diese Schwelle nicht. Bis auf eine Ausnahme ist es bei verbalen Beleidigungen und Schmierereien an der Wohnungstür geblieben. Der körperlichen Auseinandersetzung gingen nach Darstellung des Klägers zunächst Beleidigungen durch eine angetrunkene Person, dann wechselseitige verbale Äußerungen voraus. Der Kläger hat durch die Schläge und Fußtritte offenbar keine erheblichen Verletzungen erlitten, die eine medizinische Versorgung erfordert hätten. Er hat den Vorfall auch nicht bei der Polizei angezeigt. Ob diese einer Anzeige überhaupt nachgegangen wäre, mag aufgrund der Erkenntnislage zwar zweifelhaft sein, ist aber auch nicht auszuschließen. Jedenfalls hat sich ein vergleichbarer Angriff auf den Kläger in der Zeit bis zu seiner Ausreise nicht wiederholt. Damit ist es insoweit bei einem singulären Ereignis geblieben, das nicht als gravierende Verfolgungshandlung durch nichtstaatliche Akteure eingestuft werden kann.
Auch die Bedrohungen des Klägers durch die Brüder seiner damaligen Ehefrau stellen keine gravierenden und schwerwiegenden Verletzungen grundlegender Menschenrechte dar. Nach den Schilderungen des Klägers hatten diese Bedrohungen in erster Linie einen familiären Hintergrund. Sie begannen mit der Trennung des Klägers von seiner Ehefrau und endeten – jedenfalls nach seiner letzten Einlassung – mit dem Wechsel der Telefonnummer und erstreckten sich damit über einen überschaubaren Zeitraum. Die Brüder der damaligen Ehefrau des Klägers wohnten nicht in dessen Nähe, sondern in erheblicher Entfernung, und konnten ihm daher nicht ohne Weiteres persönlich gegenübertreten. Offenbar gelang es dem Kläger, sich den Bedrohungen durch Wechsel der Telefonnummer zu entziehen. Auch wenn er die Polizei – insoweit weichen seine Darstellungen voneinander ab – entweder nicht kontaktiert hat oder diese seinen Anzeigen nicht nachgegangen ist, blieb es jedenfalls bei vorübergehenden fernmündlichen Bedrohungen und Geldforderungen im familiären Bereich, die ebenso wie die Auseinandersetzungen mit den Nachbarn nicht die Schwelle gravierender, an die Homosexualität des Klägers anknüpfender Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure erreicht haben.
Der angebliche Vorfall mit dem Polizisten begründet bei Wahrunterstellung ebenfalls keine Furcht vor Verfolgung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich nicht um eine gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahme handelt, sondern um den Exzess eines einzelnen Polizeibediensteten. Den Angaben des Klägers zufolge hat der Polizist ihn und seinen Lebensgefährten beschuldigt, gegen das Gesetz zum Verbot von Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen verstoßen zu haben, und sie aufgefordert, die Wohnung und das Land zu verlassen. Die hierzu in Art. 6.21 des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes (KoAP) enthaltene Regelung sieht für „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ die Verhängung einer Geldstrafe und bei Organisationen die Aussetzung ihrer Aktivitäten für bis zu neunzig Tage vor. Nur Ausländer oder Staatenlose können aus der Russischen Föderation ausgewiesen werden. Eine zwangsweise Räumung der Wohnung oder gar eine Verpflichtung russischer Staatsangehöriger, das Land zu verlassen, kommt damit unter keinen Umständen in Betracht. Außerdem hat das russische Verfassungsgericht in einem Beschluss vom 23. September 2014 klargestellt, dass die Vorschrift nicht als Verbot „nichttraditioneller“, insbesondere homosexueller Beziehungen, verstanden werden könne und einer solchen weiten Auslegung nicht zugänglich sei. Unter Strafe gestellt sei nur die Verbreitung von Informationen „auf aggressive und aufzwingende Art und Weise“. Die dem Auswärtigen Amt bekannten Verurteilungen zu Art. 6.21 KoAP beziehen sich auf Publikationen von Aktivisten in den sozialen Medien oder auf in der Öffentlichkeit gezeigte Plakate (Auskunft des Auswärtigen Amts vom 4.12.2017 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; vgl. auch EGMR, U.v. 20.6.2017 – 67667/09 u.a. – juris). Ein Fall, in dem der Austausch von Zärtlichkeiten vor Minderjährigen eine gerichtliche Verurteilung zur Folge gehabt hätte, ist dem Auswärtigen Amt nicht bekannt (Auskunft vom 15.12.2017 an das Verwaltungsgericht Regensburg). Auch Amnesty International berichtet in seiner Auskunft vom 11. September 2020 über Verurteilungen auf der Grundlage von Art. 6.21 KoAP, die Veröffentlichungen in sozialen Medien und Tätigkeiten von Künstlern und Aktivisten zum Gegenstand hatten.
Der Kläger hat jedoch mehrfach und durchgehend bekundet, sein Lebensgefährte und er hätten außerhalb der Wohnung ein unauffälliges Leben geführt. Zwar kann dem Kläger asylrechtlicher Schutz nicht unter Verweis auf die Möglichkeit versagt werden, beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung zurückhaltend zu sein oder seine homosexuelle Orientierung im Herkunftsstaat geheimzuhalten (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – NVwZ 2014, 132 = juris Rn. 65 ff.; BVerfG, B.v. 22.1.2020 – 2 BvR 1807/19 – AuAS 2020, 54 Rn. 19). Vielmehr hat jeder das Recht, sich offen als homosexuell, lesbisch oder einer anderen Minderheit zugehörig zu bekennen und für seine Rechte und Freiheiten einzutreten (EGMR, U.v. 20.6.2017 – 67667/09 u.a. – juris Rn. 66). Hinsichtlich der Frage einer vor der Ausreise erlittenen Verfolgung und der daran gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU anknüpfenden Beweiserleichterung (vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 – 1 B 43.19 – BayVBl 2020, 201 Rn. 7; U.v. 4.7.2019 – 1 C 33.18 – NVwZ 2020, 161 Rn. 16) ist jedoch auf die konkreten Umstände des jeweiligen Falls und das individuelle Verfolgungsschicksal abzustellen (vgl. auch OVG RhPf, U.v. 8.7.2020 – 13 A 10174/20 – juris Rn. 62). Davon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger ein Verstoß gegen Art. 6.21 KoAP vorgehalten werden könnte und dass ihm deshalb der Verlust der Wohnung oder gar eine Ausweisung aus der Russischen Föderation drohen würde. Zwar ist nachvollziehbar, dass er sich durch den (hier als wahr unterstellten) Vorfall mit dem Polizisten bedroht und eingeschüchtert gefühlt hat. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrer Auskunft vom 17. Juli 2020 unter der Überschrift ‚Illegale Inhaftierung und Erpressung‘, es komme vor, dass Polizeibeamte Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung ins Visier nähmen, zu ihnen nach Hause kämen, ihnen mit Strafverfolgung oder Inhaftierung drohten und Geld verlangen würden, damit sie die Anklage fallen ließen. Allerdings handelt es sich dabei um außergesetzliche Praktiken. Außerdem hat der Polizist vom Kläger und seinem Lebensgefährten offenbar kein Geld verlangt; jedenfalls haben diese Derartiges nicht vorgetragen. Der Hintergrund des Vorkommnisses und die Motive des Polizisten bleiben dunkel. Insgesamt ist der Vorfall jedenfalls nicht als staatliche Verfolgungshandlung anzusehen, sondern als einmalige, extralegale Maßnahme eines Polizeibediensteten.
Zusammenfassend kann damit nicht festgestellt werden, dass die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen ein größeres Gewicht besitzen und bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner sexuellen Orientierung hervorrufen würden.
c) Ein Anspruch des Klägers auf Flüchtlingsschutz lässt sich auch nicht damit begründen, dass ihm in der Russischen Föderation aufgrund seiner Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohen würde.
aa) Die Regelvermutung eigener Verfolgung allein wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren Mitgliedern auch ohne individuell erlittene Vorverfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, setzt eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus. Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Dies gilt gleichermaßen für die staatliche Gruppenverfolgung und für die private Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Die Verfolgungshandlungen müssen im Verfolgungszeitraum und -gebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 ff.; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; U.v. 18.7.2006 – 1 C 15.05 – BVerwGE 126, 243 Rn. 20 ff.; BayVGH, B.v. 19.4.2018 – 11 ZB 18.30588 – juris Rn. 4; B.v. 29.4.2020 – 5 ZB 20.30994 – juris Rn. 5; OVG RhPf, U.v. 8.7.2020 – 13 A 10174/20 – juris Rn. 47). Dies setzt entweder ein staatliches Verfolgungsprogramm oder so zahlreiche Übergriffe voraus, dass jedes Gruppenmitglied begründet befürchten muss, selbst Opfer von Übergriffen zu werden.
bb) Von einer solchen landesweiten Verfolgungsdichte für Homosexuelle in der Russischen Föderation ist nach den eingeholten Auskünften und der sonstigen Erkenntnislage trotz der durchaus vorkommenden Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure und des häufig unzureichenden Schutzes durch die Polizei nicht auszugehen.
(1) Eine Sondersituation, von der der zuletzt in St. Petersburg wohnhafte Kläger jedoch nicht betroffen ist, besteht allerdings im Nordkaukasus und insbesondere in Tschetschenien. Dort kommt es nach übereinstimmenden Berichten seit 2017 zu gezielten Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Behörden. Berichtet wird über willkürliche Verhaftungen, Entführungen und Folter sowie außergerichtliche Tötungen von Personen, die homosexuell sind oder als solche angesehen werden, durch tschetschenische Sicherheitskräfte. Allein im Jahr 2017 sollen mehr als 100 Männer inhaftiert worden sein und erniedrigende Behandlung einschließlich Folter erlitten haben; mehrere Personen sollen ums Leben gekommen sein. Die Verfolgungen setzten sich in mehreren Wellen jedenfalls bis Januar 2019 fort (Auswärtiges Amt, Bericht vom 2.2.2021 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Stand Oktober 2020], S. 12 f. und Auskunft vom 27.1.2020; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 21 Russische Föderation – LGBTI in Tschetschenien [Stand 11/2019]; Auskunft der SFH vom 17.7.2020; Auskunft von AI vom 11.9.2020; Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur internationalen Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern und Intersexuellen, BT-Drs. 19/9077, S. 13; österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation, Stand 4.9.2020, S. 74 ff.).
(2) Ansonsten stellt sich die Lage für Homosexuelle in den übrigen Teilen der Russischen Föderation wie folgt dar:
Homosexualität ist in Russland seit 1993 nicht mehr strafbar. Homophobie ist jedoch dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 2. Februar 2021 zufolge weit verbreitet, und zwar auch unter den Sicherheitskräften. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intergeschlechtliche (LGBTI-Personen) müssten mit Diskriminierungen bis hin zu physischen Übergriffen rechnen. Der staatliche Schutz vor solchen Übergriffen sei unzureichend. Werde Anzeige erstattet, weigere sich die Polizei häufig, diese aufzunehmen, wenn das Opfer den homophoben Hintergrund der Tat benenne. Am stärksten gefährdet seien Transgender aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds und Personen, die sich öffentlich für die Rechte von LGBTI-Personen einsetzen. In seiner vom Senat eingeholten Auskunft vom 27. Januar 2020 beschreibt das Auswärtige Amt die allgemeine Situation für Homosexuelle in der Russischen Föderation auch außerhalb des Nordkaukasus als schwierig. Medienberichten zufolge sei es in der Zeit von 2011 bis 2016 zu mindestens 363 tätlichen Angriffen auf Homosexuelle oder Einrichtungen wie Schwulenclubs gekommen. Für die Jahre 2016 und 2017 würden 366 Übergriffe verzeichnet. Weil zahlreiche Opfer aus Angst vor der Polizei keine Anzeige erstatten würden, sei tatsächlich von einer höheren Zahl von Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure auszugehen. Allerdings seien regionale Unterschiede festzustellen. In Großstädten gebe es eine aktive Szene und Möglichkeiten zur offenen Lebensgestaltung für LGBTI-Personen. Die tolerantesten Städte seien St. Petersburg, Nowosibirsk und Moskau.
In Antworten zu parlamentarischen Anfragen beurteilt die Bundesregierung die Situation Homosexueller in der Russischen Föderation ebenfalls kritisch. LGBTI-Personen würden regelmäßig Opfer von Diskriminierung und auch homophober Gewalt. Gewalttätige Straftaten gegen LGBTI-Personen würden nicht mit ausreichender Konsequenz verfolgt und in vielen Fällen nicht umfassend aufgeklärt und bestraft (BT-Drs. 19/3108 S. 9 f. und 19/9077 S. 14).
Auch Amnesty International berichtet in seiner Auskunft vom 11. September 2020, Diskriminierungen von LGBTI-Personen seien an der Tagesordnung; immer wieder gebe es gewaltsame Übergriffe. Das „Propagandagesetz“ trage zu einer staatlichen Legitimierung LGBTIfeindlicher Ansichten in der Bevölkerung bei, schüre das feindliche Klima für LGBTI-Personen und habe auf diese eine abschreckende Wirkung. Die Behörden würden LGBTI-Personen keinen angemessenen Schutz vor Angriffen gewähren und Gewalttaten oft nicht hinreichend aufklären. Die mangelnde Strafverfolgung führe in der Konsequenz zu Straffreiheit und einer Zunahme an Gewalt.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrer Auskunft vom 17. Juli 2020 ebenfalls über weit verbreitete und zunehmende Diskriminierungen von LGBTI-Personen und eine mehrheitlich negative Einstellung gegenüber Homosexuellen, nicht zuletzt aufgrund von Einflussnahmen der Russisch-Orthodoxen Kirche und der Massenmedien. Neben außergesetzlicher Verfolgung im Nordkaukasus und durch einzelne Polizeibeamte werde auch das „Propagandagesetz“ eingesetzt, um die Meinungsfreiheit hinsichtlich der Rechte von LGBTI-Personen einzuschränken. Dieses Gesetz habe die soziale Feindseligkeit gegen LGBTI-Personen noch verstärkt. LGBTI-Aktivisten würden immer mehr zur Zielscheibe des Innenministeriums und des Inlandsgeheimdienstes. LGBTI-Personen seien in hohem Maße psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt. Erstere werde meist durch Bekannte verübt, Letztere sowohl durch Unbekannte als auch durch Bekannte, ideologische Gruppen oder die eigene Familie. Homosexuelle Männer, die ihre geschlechtliche Orientierung offen leben würden, seien gesellschaftlicher Gewalt in besonderem Maß ausgesetzt. Unter LGBTI-Personen sei die Angst vor illegalen und außergesetzlichen Aktionen der Polizei weit verbreitet; sie hätten wenig oder gar kein Vertrauen in die Polizei und in die Gerichte und würden gegen sie gerichtete Gewalt deshalb oft nicht melden. Statistisch gesehen seien LGBTI-Personen auf dem Land und in Kleinstädten stärker gefährdet. Am sichersten seien gemessen an der Einwohnerzahl die größten Städte wie Moskau und St. Petersburg. Hinsichtlich des ungenügenden Schutzes durch die Polizei seien regionale Unterschiede nicht festzustellen.
(3) Trotz dieser ohne Zweifel schwierigen Situation für Homosexuelle ist jedoch mit Ausnahme Tschetscheniens in der Russischen Föderation weder ein staatliches Verfolgungsprogramm festzustellen noch sind die Übergriffe so zahlreich, dass jede LGBTI-Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden. Dies gilt jedenfalls für Homosexuelle, die – wie der zuletzt in einer vergleichsweise sicheren Stadt wie St. Petersburg lebende Kläger – nicht zum Kreis der öffentlich oder in den sozialen Medien auftretenden LGBTI-Aktivisten zählen und die auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild nicht als LGBTI-Person auffallen. Damit sind die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung nicht erfüllt.
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreichen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – NVwZ 2009, 1237 Rn. 15). Dabei ist es häufig nicht möglich, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber auch nicht erforderlich, die zahlenmäßigen Grundlagen der gebotenen Relationsbetrachtung zur Verfolgungsdichte mit quasi naturwissenschaftlicher Genauigkeit festzustellen. Vielmehr reicht es aus, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf ein Tatsachengericht auch aus einer Vielzahl ihm vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vornehmen. Auch für die Annahme einer erheblichen Dunkelziffer nicht bekannter Übergriffe müssen die gerichtlichen Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge aber in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden (BVerwG, a.a.O. Rn. 19).
Die Angaben zur Zahl der Einwohner der Russischen Föderation bewegen sich zwischen 144,1 bzw. 144,374 Millionen (www.bundesregierung.de/breg-de/suche/russland-russische-foederation-455620; www.laenderdaten.info/Europa/Russland/index.php) und 145,934 Millionen (www.populationpyramid.net/de/russland/2020/). Von der höheren Zahl ausgehend sind ca. 27 Millionen Einwohner jünger als 15 Jahre (vgl. www.populationpyramid.net/de/russland/2020/), denen keine Verfolgung wegen ihrer sexuellen Orientierung drohen dürfte. Gleiches ist für ca. 5,6 Millionen Einwohner anzunehmen, die älter als 80 Jahre sind. Es verbleibt danach eine für die Überlegungen relevante Größenordnung von ca. 52,5 Millionen männlichen und ca. 61 Millionen weiblichen Einwohnern im Alter zwischen 15 und 79 Jahren (vgl. www.populationpyramid.net/de/russland/2020/).
Angaben zur Zahl der LGBTI-Personen in der Russischen Föderation finden sich selten und sind sicherlich mit erheblicher Ungewissheit behaftet. Das britische Innenministerium geht von mehr als 10 Millionen LGBTI-Personen in der Russischen Föderation aus (United Kingdom – Home Office: Country Policy and Information Note, Russia: Sexual orientation and gender identity or expression [November 2020], S. 7, 80). Diese Zahl erscheint relativ hoch gegriffen. Andere, allerdings nicht länderbezogene Annahmen gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Frauen und zwei bis vier Prozent der Männer auf ausschließlich homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. VGH BW, U.v. 7.3.2013 – A 9 S 1872/12 – juris Rn. 117; OVG RhPf, U.v. 8.7.2020 – 13 A 10174/20 – juris Rn. 57). Das ergäbe bei ca. 61 Millionen Einwohnerinnen im relevanten Alter eine Größenordnung zwischen 0,61 und 1,22 Millionen homosexueller Frauen und bei ca. 52,5 Millionen Einwohnern im relevanten Alter eine Größenordnung zwischen 1,05 und 2,1 Millionen homosexueller Männer. Legt man die jeweils niedrigste Zahl zugrunde, ergäben sich bei einem Prozent homosexueller Frauen und zwei Prozent homosexueller Männer insgesamt 1,66 Millionen LGBTI-Personen in der Russischen Föderation.
Ebenfalls schwer zu beziffern ist die Zahl der Übergriffe auf LGBTI-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung durch nichtstaatliche Akteure, vor denen weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen Schutz zu erlangen ist. Die hierzu vom Senat eingeholten Auskünfte weisen ebenso wie weitere Erkenntnisquellen auf eine hohe Dunkelziffer hin, weil die Betroffenen von Anzeigen bei der Polizei absehen oder solchen Anzeigen nicht nachgegangen wird. In seiner Auskunft vom 27. Januar 2020 berichtet das Auswärtige Amt auf der Grundlage von Medienberichten über mindestens 363 tätliche Angriffe auf Homosexuelle oder Einrichtungen wie Schwulen-Clubs in der Zeit von 2011 bis 2016 und von 366 Übergriffen in der Zeit von 2016 bis 2017. Aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche Opfer aus Angst vor der Polizei keine Anzeige erstatten würden, sei tatsächlich von einer höheren Zahl von Übergriffen auszugehen. Genaue Daten bezüglich der Schwere der Schädigungen und der Art der jeweiligen Verletzungshandlungen lägen ebenso wie Zahlen zur Verfolgungs- und Aufklärungsquote im Bereich homophob motivierter Übergriffe nicht vor.
In seinen Reise- und Sicherheitshinweisen zur Russischen Föderation weist das Auswärtige Amt ebenfalls darauf hin, dass Homosexualität in Russland zwar nicht strafbar, die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der russischen Gesellschaft allerdings gering sei. Es komme immer wieder zu Übergriffen auf Homosexuelle, z.B. bei öffentlichem Zeigen gegenseitiger Zuneigung (https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/russischefoederationsicherheit/201536#content_7).
Amnesty International berichtet in seiner Auskunft vom 11. September 2020, das Forschungsinstitut ‚SOVA Center for Information and Analysis‘ habe im Jahr 2019 ein Mordopfer und sieben Verletzte und Geschlagene aufgrund von Angriffen gegen LGBTI-Personen erfasst. Bei dem Todesopfer handele es sich um eine offen bisexuelle LGBTI-Aktivistin in St. Petersburg, deren Name zuvor im Internet von einer homofeindlichen Gruppe veröffentlicht worden sei. Auf vorangegangene Drohnachrichten habe die Polizei nicht reagiert. Für 2018 habe SOVA ein Mordopfer und fünf Verletzte registriert, für 2017 elf Verletzte und für 2016 ein Mordopfer und vier Verletzte. Die tatsächliche homofeindliche Gewalt liege vermutlich deutlich höher. Das ‚Russian LGBT Network‘ habe für die Jahre 2016 und 2017 104 Vorfälle physischer Gewalt gegen LGBTI-Personen dokumentiert, darunter elf Tötungen. Im Rahmen einer 2020 veröffentlichten Umfrage unter LGBTI-Personen hätten 11,6 Prozent der Befragten angegeben, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung mindestens einmal physische Gewalt erlitten zu haben. 56,2 Prozent hätten psychische Gewalt und vier Prozent sexuelle Gewalt erlebt. Körperliche Gewalt finde häufig im Rahmen vermeintlicher Dates statt, bei denen die Opfer auf Onlinedating-Plattformen zu Treffen gelockt würden. Die Behörden würden LGBTI-Personen keinen angemessenen Schutz vor Angriffen gewähren, Gewalttaten oft nicht hinreichend aufklären und Verantwortliche nicht zur Rechenschaft ziehen. Die mangelnde Strafverfolgung führe zu einer Zunahme an Gewalt.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in ihrer Auskunft vom 17. Juli 2020 ebenfalls über das Ergebnis der Umfrage unter LGBTI-Personen über die Häufigkeit physischer und psychischer Gewalt. Mangels aussagekräftiger Statistiken sei es schwierig, Straftaten wegen der sexuellen Orientierung des Opfers zu erfassen. Nach Angaben von ‚Russian LGBT Network‘ sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Jede zweite LGBTI-Person sei ‚Russian LGBT Network‘ zufolge in den Jahren 2016 und 2017 psychischer Gewalt ausgesetzt gewesen. Die Angaben zu den Zahlen der Betroffenen, die körperliche Gewalt erlebt hätten, schwanken zwischen zehn Prozent und 16 bis 20 Prozent. Ebenfalls berichtet wird über „Fake-Dates“, bei denen die Opfer erpresst würden und auch Gewalt eingesetzt werde. Verschiedene Quellen würden darauf hinweisen, dass LGBTI-Personen sexueller Gewalt ausgesetzt seien. Dies hätten rund drei Prozent der Befragten in einer Umfrage für die Jahre 2016 und 2017 angegeben. Die Offenlegung der sexuellen Orientierung berge ein hohes Risiko für Übergriffe. Homosexuelle Männer, die ihre geschlechtliche Orientierung offen leben würden, seien besondere Zielscheiben gesellschaftlicher Gewalt. LGBTI-Person hätten Angst vor illegalen und außergesetzlichen Aktionen der Polizei, vor doppelter Viktimisierung und vor Erniedrigung. Viele von ihnen hätten wenig oder gar kein Vertrauen in die Polizei oder Gerichte und würden gegen sie gerichtete Gewalt deshalb oft nicht melden. Berichten zufolge seien der Schutz der Behörden und der Polizei vor Gewalt und die Bereitschaft, angemessen zu ermitteln oder Homophobie als Motiv für Angriffe auf LGBTI-Personen in Betracht zu ziehen, ungenügend.
Das britische Innenministerium berichtet ebenfalls über das Ergebnis der Umfrage unter LGBTI-Personen über physische und psychische Gewalt, weist aber darauf hin, dass hier auch Antworten aus dem Nordkaukasus einschließlich Tschetschenien eingeflossen seien. Auch die von ‚Russian LGBT Network‘ mitgeteilten Zahlen zur physischen Gewalt und zu den Tötungsdelikten würden Fälle aus Tschetschenien umfassen. 2019 wären die Gewaltopfer in erster Linie Personen gewesen, die an LGBTI-Veranstaltungen teilgenommen hätten. In ländlichen Regionen und kleineren Städten sei die Gefahr höher als in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg. Am häufigsten betroffen seien Transgender-Personen. Im Allgemeinen sei der Staat zwar in der Lage, aber nicht immer bereit, effektiven Schutz zu gewähren (United Kingdom – Home Office: Country Policy and Information Note, Russia: Sexual orientation and gender identity or expression [November 2020], S. 11 f., 19).
Legt man für die Russische Föderation eine Zahl von 1,66 Millionen homosexueller Einwohner im Alter zwischen 15 und 79 Jahren zugrunde und setzt man dazu die dargelegten Zahlen der bekannten Übergriffe auf LGBTI-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung in Relation, lässt sich nicht feststellen, dass die Übergriffe so zahlreich wären, dass jede oder nahezu jede LGBTI-Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden. Dies gilt auch dann, wenn man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht, deren Größenordnung allerdings nur geschätzt werden kann. Landesweit sind den Berichten zufolge von 2011 bis 2016 mindestens 363 tätliche Angriffe auf Homosexuelle und von 2016 bis 2017 366 Übergriffe sowie einzelne Tötungsdelikte zu beklagen. Bei einer Annahme von jährlich 200 registrierten Gewalttaten und einer eher hoch gegriffenen Dunkelziffer, wonach nur einer von Hundert der tatsächlich vorkommenden körperlichen Übergriffe öffentlich bekannt wird, ergäben sich in der gesamten Russischen Föderation 20.000 Übergriffe pro Jahr.
Gemessen an der eher niedrig angesetzten Zahl von mindestens 1,66 Millionen LGBTI-Personen läge die Gefahr, Opfer eines solchen Übergriffs zu werden, bezogen auf alle LGBTI-Personen dann bei ca. 1,2 Prozent im Jahr. Dieser Befund ist zwar mit erheblichen Ungewissheiten belastet, lässt sich aber aufgrund der vagen Zahlenangaben nicht genauer beziffern. Auch die Angaben der Betroffenen in den Umfragen sind nicht verifizierbar und erlauben daher keine belastbare Berechnung. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Zahl der LGBTI-Personen möglicherweise deutlich höher liegt (vgl. die Annahmen des britischen Innenministeriums), was zu einem geringeren Gefährdungsgrad führen würde. Außerdem sind die Zahlen auf die gesamte Russische Föderation bezogen und berücksichtigen regionale Unterschiede wie etwa die besondere Lage in Tschetschenien nicht. In St. Petersburg, wo der Kläger zuletzt gelebt hat, ist die Situation nach übereinstimmenden Quellenangaben verglichen mit anderen Landesteilen vergleichsweise günstig. Es kommt hinzu, dass die Gefahrenlage maßgeblich davon abhängt, ob der Betreffende als LGBTI-Aktivist öffentlich bekannt ist oder durch sein äußeres Erscheinungsbild oder die Offenlegung seiner sexuellen Orientierung in der Öffentlichkeit auffällt. All dies ist beim Kläger nicht der Fall. Auch die Gefahr, bei Fake-Dates Opfer von Gewalt oder Erpressung zu werden, besteht beim Kläger, der in einer festen Partnerschaft lebt, nicht.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Verfolgungsdichte bei Übergriffen auf LGBTI-Personen trotz des unzureichenden Schutzes durch die staatlichen Behörden und die Polizei in der Russischen Föderation nicht die Größenordnung erreicht, die erforderlich wäre, damit für Homosexuelle landesweit die begründete Befürchtung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure anzunehmen wäre.
d) Schließlich kann der Kläger auch aus dem rechtskräftigen Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts zugunsten seines Lebensgefährten keinen Anspruch herleiten, selbst als Flüchtling anerkannt zu werden.
Zwar hat die Beklagte den Gerichtsbescheid vom 22. Oktober 2018, mit dem das Verwaltungsgericht auch für den Lebensgefährten des Klägers eine Gruppenverfolgung bejaht und daher seiner Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stattgegeben hat, nicht angefochten. Das hat jedoch nicht zur Folge, dass auch dem Kläger selbst gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AsylG in unmittelbarer oder analoger Anwendung als Familienangehörigem Flüchtlingsschutz zu gewähren wäre.
Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 AsylG wird der Ehegatte oder der Lebenspartner eines Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigter anerkannt, wenn die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist (Nr. 1), die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Asylberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird (Nr. 2), der Ehegatte oder der Lebenspartner vor der Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat (Nr. 3) und die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (Nr. 4). Die Vorschrift ist bei international Schutzberechtigten entsprechend anzuwenden; an die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz (§ 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG).
Die unmittelbare Anwendung dieser Regelung scheitert schon daran, dass das russische Recht – im Unterschied zum deutschen Recht (§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB) – keine Ehe oder Lebenspartnerschaft für Personen gleichen Geschlechts vorsieht. Da zwischen dem Kläger und seinem Lebensgefährten in der Russischen Föderation keine registrierte Ehe oder Lebenspartnerschaft bestanden hat, kommt eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in direkter Anwendung des § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG somit nicht in Betracht.
Es liegt auch keine Regelungslücke vor, die hier eine analoge Anwendung des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 AsylG gebieten würde. Der Begriff der Ehe oder Lebenspartnerschaft meint eine mit Eheschließungswillen eingegangene, staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft. Für deren Gültigkeit ist allerdings nicht die Rechtslage in Deutschland maßgeblich, sondern das Recht des Staats, in dem die Ehe geschlossen oder die Lebenspartnerschaft begründet wurde. Erforderlich ist daher eine bereits vor der Einreise in das Bundesgebiet eingegangene und vom Verfolgerstaat anerkannte rechtswirksame Lebensgemeinschaft.
Allerdings wird in der Literatur die Auffassung vertreten, für die im Verfolgerstaat begründete Lebensgemeinschaft könne dann keine förmliche Registrierung oder Anerkennung verlangt werden, wenn diese dort nicht vorgesehen sei und die Verfolgung gerade der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gelte. Erforderlich und ausreichend sei dann der Nachweis der bereits im Verfolgerstaat bestehenden ernsthaften und dauerhaften Lebensgemeinschaft und die Bereitschaft einer förmlichen Registrierung bzw. Eheschließung im Bundesgebiet (Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2020, § 26 AsylG Rn. 46; Epple in GK-Asyl, Stand März 2021, § 26 AsylG Rn. 44; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 26 Rn. 29; Vogt/Nestler in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Aufl. 2021, § 26 AsylG Rn. 12).
Dieser Auffassung ist jedoch so nicht zu folgen. Es kann dahinstehen, ob die Regelung des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG auch nicht im Verfolgerstaat anerkannte oder registrierte gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften erfasst, wenn das Recht des Verfolgerstaats eine solche Anerkennung oder Registrierung nicht vorsieht und die Verfolgung an die sexuelle Orientierung anknüpft. Unabdingbare Voraussetzung ist jedenfalls, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesamts bzw. des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) eine rechtsgültige Ehe oder Lebenspartnerschaft besteht. Hierfür sprechen neben dem Wortlaut des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG („die Ehe oder Lebenspartnerschaft mit dem Asylberechtigten“) auch Gründe der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2005 – 1 C 17.03 – BVerwGE 123, 18 Rn. 9 zur Vorläuferfassung). Die erklärte Absicht, eine seit dem 1. Oktober 2017 gemäß § 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB mögliche gleichgeschlechtliche Ehe im Bundesgebiet zu schließen, ist nicht anhand rechtssicherer Kriterien nachprüfbar und kann ebensowenig wie ein Verlöbnis der wirksamen Eheschließung gleichgestellt werden. Es kann nicht Aufgabe des Bundesamts oder der Verwaltungsgerichte sein, die Ernsthaftigkeit einer solchen Absichtserklärung im Asylverfahren zu überprüfen. Eine hiervon abweichende Auslegung ist auch weder verfassungsrechtlich noch durch den Begriff des Familienangehörigen in Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 1 RL 2011/95/EU geboten, zu dessen Umsetzung die Vorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG erweitert wurde (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 21). Wer geltend macht, von seinem Heimatstaat aus Verfolgungsgründen im Sinne des § 3b AsylG an einer staatlich anerkannten Eheschließung oder Begründung einer Lebenspartnerschaft gehindert worden zu sein, bleibt darauf angewiesen, die Asylberechtigung oder Flüchtlingsanerkennung aus eigenem Recht zu erstreiten (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 9).
Daher scheidet eine Anwendung des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG jedenfalls dann aus, wenn – wie hier – eine Lebenspartnerschaft oder Ehe zwischen dem Asylberechtigten und seinem gleichgeschlechtlichen Lebensgefährten, aus welchen Gründen auch immer, im Entscheidungszeitpunkt nicht besteht. Nachdem der Kläger und sein Lebensgefährte bereits seit mehr als sieben Jahren im Bundesgebiet leben und eine Eheschließung noch immer nicht zustande gekommen ist, kommt es auch nicht darauf an, ob dies – wie in der mündlichen Verhandlung angegeben – bisher daran gescheitert ist, dass der Kläger das vom Standesamt geforderte Scheidungsurteil mit einer Apostille bisher nicht beibringen konnte.
II.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Auch insoweit gilt, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadens sowohl von staatlichen wie auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG). Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU kommt dem Schutzsuchenden ebenfalls zugute.
Aus den dargelegten Gründen ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dem Kläger in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in Anknüpfung an seine sexuelle Orientierung oder aus sonstigen Gründen ein ernsthafter Schaden im Sinne dieser Vorschrift drohen würde.
III.
Schließlich sind auch die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG nicht erfüllt.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK – (BGBl 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach dieser Bestimmung setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer dagegen auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wird Abschiebeschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
Für den Kläger ist in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen. Es ist ihm möglich und zumutbar, sich unter Berücksichtigung der regionalen Unterschiede und der im Vergleich zu ländlichen Gebieten und kleineren Städten für Homosexuelle sichereren Lage in Großstädten, insbesondere auch in St. Petersburg, an einem Ort seiner Wahl in der Russischen Föderation niederzulassen.
IV.
Ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken begegnen die an den Kläger gerichtete Ausreiseaufforderung innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens (§ 38 Abs. 1 AsylG), die Abschiebungsandrohung in die Russische Föderation oder in einen anderen zur Rückübernahme verpflichteten oder die Einreise erlaubenden Staat (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG) und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Falle der Abschiebung auf 30 Monate (§ 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG).
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
VI.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.
VII.
Die Revision wird nicht zugelassen, da keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.


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