Verwaltungsrecht

Zulassung der Berufung in Fällen gefestigter Rechtsprechung

Aktenzeichen  1 L 84/21.Z

Datum:
1.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 1. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2022:0401.1L84.21.Z.00
Spruchkörper:
undefined

Verfahrensgang

vorgehend VG Halle (Saale), 23. Oktober 2019, 5 A 20/18 HAL, Urteil

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Halle – 5. Kammer – vom 23. Oktober 2019 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf die Wertstufe bis 2.000 € festgesetzt.

Gründe

1. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Halle – 5. Kammer – vom 23. Oktober 2019 bleibt ohne Erfolg.
a) Die von der Beklagten mit Schriftsatz vom 9. März 2020 geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht.
aa) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen nur dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 – 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458). Da gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO der Zulassungsgrund zudem in der gebotenen Weise darzulegen ist, erfordert dies, dass sich der Zulassungsantrag substantiiert inhaltlich mit den Gründen der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt und unter anderem konkret ausgeführt wird, dass die erhobenen Einwände entscheidungserheblich sind (OVG LSA in ständiger Rechtsprechung, etwa Beschluss vom 3. Januar 2007 – 1 L 245/06 -, juris Rn. 3 m. w. N.). Dabei reicht es nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen (BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 – 7 AV 4.03 -, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 33).
Die eingangs des Schriftsatzes vom 9. März 2020 erklärte Bezugnahme auf das „gesamte Vorbringen der Beklagten im Antrags-, Widerspruchs- und Klageverfahren erster Instanz“ ist für die Darlegung eines Zulassungsgrunds im Sinne des § 124 Abs. 2 VwGO ungeeignet. Eine schlichte Bezugnahme auf bestimmte frühere Anträge oder Schriftsätze, erstinstanzlich in das Verfahren eingeführte Unterlagen etc. oder gar – wie hier – ein Pauschalverweis auf das erstinstanzliche Vorbringen oder den Inhalt der Gerichtsakten bzw. Verwaltungsvorgänge ist im Hinblick auf die durch § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO normierten besonderen Darlegungslasten und -anforderungen unzureichend, weil die Antragsschrift aus sich heraus verständlich sein muss und die Zulassungsgründe unter substantiiertem Vorbringen konkret aufgezeigt werden müssen (stRspr, vgl. OVG LSA, Beschluss vom 14. September 2020 – 1 L 97/18 -, juris Rn. 54 m. w. N.).
Soweit die Beklagte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts für unzutreffend hält, weil sie auf einer unrichtigen Auslegung des § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 im Hinblick auf die zeitliche Reichweite der ruhegehaltrechtlich doppelt berücksichtigungsfähigen Zeiten besonderer Auslandsverwendungen beruhe, hat das Bundesverwaltungsgericht die erstinstanzliche Auffassung, wonach Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung im Sinne von § 63c Abs. 1 Satz 1 SVG 2004 bei Berufssoldaten auch dann berücksichtigt werden können, wenn der Einsatz vor dem 1. Dezember 2002 stattgefunden hat, mittlerweile durch Urteil vom 9. September 2021 – 2 C 1.20 – der Sache nach bestätigt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt (juris Rn. 13 bis 25):
„Die am 13. Dezember 2011 in Kraft getretene Regelung des § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen (Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz) vom 5. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2458 – SVG 2011) bestimmt, dass die Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung nach § 63c Abs. 1 bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden können, wenn sie insgesamt mindestens 180 Tage und jeweils ununterbrochen mindestens 30 Tage gedauert haben. Der erstmals durch Art. 2 Nr. 10 Einsatzversorgungsgesetz vom 21. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3592) rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft getretene § 63c Abs. 1 Satz 1 SVG (SVG 2004) definiert eine besondere Auslandsverwendung als eine Verwendung aufgrund eines Übereinkommens oder einer Vereinbarung mit einer über- oder zwischenstaatlichen Einrichtung oder mit einem auswärtigen Staat im Ausland oder außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen, für die ein Beschluss der Bundesregierung vorliegt.
a) Der Wortlaut der Vorschrift legt es nahe, dass besondere Auslandsverwendungen i. S. v. § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 für Soldaten, die nach dem13. Dezember 2011 in den Ruhestand getreten sind, auch für Zeiträume vor dem 1. Dezember 2002 berücksichtigt werden können. Denn die Regelung enthält – anders als die zeitgleich durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz (Art. 6 Ziff. 3) für gesetzlich Rentenversicherte geschaffene Parallelregelung des § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 – keine zeitliche Einschränkung dahingehend, dass bei der Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstzeiten nur besondere Auslandsverwendungen ab dem 1. Dezember 2002 Berücksichtigung finden. Die von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 in Bezug genommene Regelung des § 63c Abs. 1 SVG 2004 ihrerseits beschränkt sich auf eine Definition des Tatbestands der besonderen Auslandsverwendung. Eine ausdrückliche zeitliche Einschränkung der Definition etwa dahingehend, dass besondere Auslandsverwendungen nur solche ab einem bestimmten Zeitpunkt sind, enthält auch diese Vorschrift nicht. Aus dem Wortlaut der Norm lassen sich also keine Anknüpfungspunkte für die von der Beklagten nach Maßgabe ihrer behördeninternen Verwaltungsvorschriften (Hinweise des Bundesministeriums der Verteidigung zum EinsatzVVerbG 2011 vom 8. März 2012 , vom 23. August 2012 und vom 16. August 2013 ) vorgenommenen Auslegung entnehmen, dass eine Doppelanrechnung von im Auslandseinsatz absolvierten Zeiten besonderer Auslandsverwendungen erst ab dem 1. Dezember 2002 möglich ist. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat von der Beklagtenseite geäußerte Ansicht, man habe es als “Erlasshalter” für ausreichend gehalten, das – seitens des Bundesministeriums – “Gewollte” im Erlasswege, nämlich in den vorbezeichneten Anwendungshinweisen, zu regeln, ist insoweit unbehelflich.
b) Die Entstehungsgeschichte von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 einerseits und § 63c Abs. 1 SVG 2004 andererseits ist für die Beantwortung der Frage nach der zeitlichen Reichweite der ruhegehaltrechtlich doppelt berücksichtigungsfähigen Zeiten besonderer Auslandsverwendungen unergiebig. Zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 enthält sich die Begründung des Gesetzesentwurfs jeder Stellungnahme zur Frage, ob die doppelte Anrechnung von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen auch auf solche Auslandseinsätze zu erstrecken ist, die Soldaten vor dem 1. Dezember 2002 absolviert haben (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 15). Auch aus der Vorgeschichte des Einsatz-Versorgungsverbesserungsgesetzes 2011 – dem Einsatzversorgungsgesetz 2004 – ergibt sich nichts für oder gegen eine doppelte Ruhegehaltsanrechnung für Zeiten besonderer Auslandsverwendungen vor dem 1. Dezember 2002 gemäß § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 (vgl. BT-Drs. 15/3416 S. 24). Die Einzelbegründung des Gesetzgebers zu der Vorschrift, in der die “besondere Auslandsverwendung” legal definiert wird – § 63c Abs. 1 SVG 2004 -, verhält sich ebenso wenig zur Beantwortung der Frage der zeitlichen Rückerstreckung von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 auf Sachverhalte vor dem 1. Dezember 2002 (vgl. BT-Drs. 15/3416, S. 18). Nichts anderes ergibt sich aus den Materialien zum Einsatz-Weiterverwendungsgesetz 2007, das ausschließlich Regelungen zugunsten infolge besonderer Auslandsverwendungen “einsatzgeschädigter Soldaten” zum Gegenstand hat (vgl. BT-Drs. 16/6564 S. 15). Auch die weitere Rückerstreckung von Einsatzversorgungsleistungen für im Ausland verunfallte Soldaten auf die Zeit ab dem 1. November 1991 durch das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz 2015 hat ausschließlich “schwer gesundheitlich geschädigte Personen” in den Blick genommen, die trotz zum Teil erheblicher Gefährdungslagen zum Beispiel im Bosnien- und Kosovoeinsatz bis dahin nicht dieselbe versorgungsrechtliche Absicherung wie ab dem 1. Dezember 2002 im Einsatz Geschädigte besaßen (BT-Drs. 18/3697 S. 63). Schließlich beschränken sich auch die in diesem Zusammenhang jüngsten gesetzlichen Änderungen durch das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz 2019 – § 63c Abs. 1 SVG 2019 (BGBl. I S. 1147 <3054>) – nach der Gesetzesbegründung allein auf die unfallrechtliche Einsatzversorgung; allgemeine Fragen der Ruhegehaltsberechnung haben sie nicht zum Gegenstand (vgl. BT-Drs. 19/9491 S. 139).
c) In gesetzessystematischer Hinsicht ist zu differenzieren: Nach der gesetzlichen Systematik des Soldatenversorgungsgesetzes ist zu beachten, dass§ 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 eine allein ruhegehaltbezogene Rechtsfrage in Anknüpfung an die “besondere Auslandsverwendung” beantwortet. Dagegen beinhalten die in §§ 63c bis 63g SVG 2004 (BGBl. I S. 3592) sowie in § 103 Abs. 1 und 2 SVG getroffenen Vorschriften das besondere Recht der Einsatzversorgung mit Regelungen zur Dienstunfallfürsorge und der Wiedereingliederung. Der Ruhegehaltsanspruch, den § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 mit ausgestaltet, unterscheidet sich aber nach Funktion, Voraussetzungen und Rechtsfolge wesentlich vom Recht der Einsatzversorgung nach dem durch die Verweisung in Bezug genommenen § 63c SVG 2004.
Das in die Vorschriften der §§ 63c bis 63g SVG im Jahre 2004 in das Soldatenversorgungsgesetz eingefügte Einsatzversorgungsrecht umfasst grundsätzlich alle Leistungen der Dienstunfallfürsorge, allerdings angepasst an die Erfordernisse besonderer Auslandsverwendungen. Dazu zählen nach § 63c Abs. 3 SVG 2004 insbesondere der Schadensausgleich in besonderen Fällen (§ 63b), das Unfallruhegehalt (§ 63d) und die einmalige Entschädigung(§ 63e). Der Schutzzweck des Einsatzversorgungsrechts liegt in der verbesserten Absicherung von Soldaten gegenüber den Folgen einer anlässlich einer besonderen Auslandsverwendung erlittenen gesundheitlichen Schädigung.
Funktionell mit dem Einsatzversorgungsrecht verwandt ist das Recht der Einsatz-Weiterverwendung, das durch das Gesetz zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen vom 12. Dezember 2007 zum 18. Dezember 2007 geschaffen worden ist (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz – EinsatzWVG – BGBl. I S. 2861). Das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz dient einer verbesserten Absicherung einsatzgeschädigter Soldaten dadurch, dass diesen insbesondere die Herstellung der Dienstfähigkeit für die Wiederaufnahme der bisherigen beruflichen Tätigkeit, für eine Weiterverwendung beim Bund oder für eine sonstige Eingliederung in das Arbeitsleben sowie die hierfür erforderliche berufliche Qualifizierung im Soldatenstatus ermöglicht werden. Es handelt sich mithin um ein besonderes Wiedereingliederungsrecht. Der Begriff der “Einsatzgeschädigten” (§ 1 EinsatzWVG) als zentrale persönliche Anspruchsvoraussetzung knüpft an einen Einsatzunfall i. S. v. § 63c Abs. 2 SVG 2004 an, der wiederum eine besondere Auslandsverwendung i. S. v. § 63c Abs. 1 SVG 2004 voraussetzt.
Materiell handelt es sich sowohl bei dem Recht der Einsatzversorgung als auch bei demjenigen der Einsatz-Weiterverwendung um Unfallfürsorgerecht, und damit um Soldatenversorgungsrecht in einem weiteren Sinne. Maßgeblich ist die Rechtslage im Zeitpunkt des Schadensereignisses, d. h. im Zeitpunkt des Einsatzunfalls. Beide Institute setzen einen Einsatzunfall voraus und unterscheiden sich damit schon in ihren tatbestandlichen Anspruchsvoraussetzungen vom Ruhegehaltsanspruch, für den es maßgeblich auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Zurruhesetzung ankommt (Versorgungsfallprinzip). Die Verschiedenheit des Ruhegehaltsrechts einerseits und des Einsatzversorgungsrechts als besonderes Dienstunfallrecht andererseits legt es nicht nahe, die Rechtsvorschriften trotz unterschiedlichen zeitlichen Anknüpfungspunkts einheitlich auszulegen. Dies deutet eher darauf hin, dass die Verweisung in § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 allein auf die Legaldefinition der besonderen Auslandsverwendung in § 63c Abs. 1 SVG 2004 gerichtet ist.
d) Aus den verschiedenen maßgeblichen Zeitpunkten – d. h. dem Zeitpunkt des Schadensereignisses oder dem Zeitpunkt der Zurruhesetzung – folgt nach Sinn und Zweck der Regelungen, dass der Gesetzgeber im Einsatzversorgungsrecht, um (überhaupt) eine Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs zu bewirken, dies ausdrücklich regeln muss, während aufgrund des im Ruhegehaltsrecht geltenden Versorgungsfallprinzips eine Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs gleichsam von selbst eintritt mit der Folge, dass eine Bestimmung des zeitlichen Anwendungsbereichs nur erforderlich ist, wenn dieser entsprechend dem Gestaltungsanliegen des Gesetzgebers auf ein bestimmtes Datum in der Vergangenheit begrenzt werden soll. Dementsprechend ist aus der Gesetzesbegründung zur Übergangsregelung in § 103 Abs. 2 SVG 2015 (BGBl. I S. 706) zu ersehen, dass der Gesetzgeber sich bei der Schaffung der Vorschrift der allgemeinen Grundsätze zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Normanwendung bewusst war und er mit der Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs auf den 1. November 1991 – anders als mit § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 – ein konkretes Gestaltungsanliegen verfolgt hat.
Für die Auslegung bedeutsam sind weiter Sinn und Zweck der in § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 einerseits und § 76e SGB VI 2011 andererseits enthaltenen unterschiedlichen Voraussetzungen. Während § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 die doppelte Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen für Berufssoldaten mit Pensionsanspruch regelt, verbessert § 76e SGB VI 2011 spiegelbildlich die rentenrechtliche Absicherung der Zivilbediensteten sowie der Helfer des Technischen Hilfswerks und der Soldaten ohne Pensionsanspruch, also von Soldaten auf Zeit und von Soldaten, die aufgrund einer freiwilligen Verpflichtung eine Auslandsverwendung im Rahmen des Wehrdienstes leisten oder die im Rahmen ihrer Dienstleistungspflicht nach § 62 SG zu einer besonderen Auslandsverwendung herangezogen werden (insbesondere Reservisten).
Nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 werden für Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung nach § 63c Abs. 1 SVG 2004 ab dem 13. Dezember 2011 Zuschläge an Entgeltpunkten zu den in diesem Monat erworbenen Pflichtbeiträgen gewährt, wenn während dieser Zeiten Pflichtbeitragszeiten vorliegen und nach dem 30. November 2002 insgesamt mindestens 180 Tage an Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung vorliegen, die jeweils ununterbrochen mindestens 30 Tage gedauert haben. Wie insbesondere an der identisch formulierten tatbestandlichen Anknüpfung an § 63c Abs. 1 SVG 2004 und den gleichen sachlichen Anforderungen an die Dauer der Einsatzzeiten zu erkennen ist, handelt es sich bei § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 um die funktionale Entsprechung zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch die Begründung des Gesetzesentwurfs zum Einsatz-Versorgungsverbesserungsgesetz benennt die zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 analoge Funktion der Vorschrift, die Belastungen durch besondere Auslandsverwendungen verstärkt anzuerkennen (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 21), und behandelt die beiden Vorschriften aufgrund dessen in einem inhaltlichen Zusammenhang (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 1).
Die verbesserte rentenrechtliche Absicherung in Form von Zuschlägen an Entgeltpunkten nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 gilt indes aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung – und dem Wortlaut nach damit wiederum abweichend von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 – nur für Zeiten der besonderen Auslandsverwendung, für die bereits Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung ab Dezember 2002 erworben wurden. Die Pflichtbeitragszeit muss aus der besonderen Verwendung im Ausland herrühren; sie bleibt dem ehemaligen Soldaten erhalten, wenn er nachversichert wird (vgl. Brall, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB VI, 3. Aufl. 2021, § 76e Rn. 9; Gürtner, in: Kasseler Kommentar, SGB VI, Stand März 2021, § 76e Rn. 3). Denn nach § 185 Abs. 2 i. V. m. § 186a Abs. 1 und § 188 Abs. 1 SGB VI gelten auch Nachversicherungsbeiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge. Außerdem unterscheiden sich beide Modelle darin, dass die doppelte Berücksichtigung der besonderen Auslandsverwendungen nach § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 durch den Ruhegehaltshöchstsatz von 71,75 v.H. gedeckelt ist, während die Zuschläge für die Entgeltpunkte nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 gemeinsam mit den Entgeltpunkten für die versicherte Beschäftigung die Entgeltpunkte überschreiten dürfen, die sich aus Beiträgen bis zur Beitragsbemessungsgrenze ergeben.
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 nach der gesetzlichen Regelungstechnik in der Rechtsfolge um eine Vorschrift handelt, die die Entscheidung über eine doppelte ruhegehaltfähige Berücksichtigung der Zeiten besonderer Auslandsverwendung – grundsätz-lich – ins pflichtgemäße Ermessen der Versorgungsbehörde legt (“können”). Dagegen handelt es sich bei der Entscheidung der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 über die Zuschläge an Entgeltpunkten infolge Zeiten besonderer Auslandsverwendung um eine in der Rechtsfolge gesetzlich gebundene Entscheidung (“werden”).
e) Es ist Sache des Gesetzgebers, eine im Gesetzeswortlaut des § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 Niederschlag findende Stichtagsregelung für das Einsetzen der Berücksichtigung von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit zu bestimmen. Daran fehlt es bisher. Im Wortlaut der Parallelregelung des § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 ist dies gelungen. Im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes ist es nicht Aufgabe der Gerichte, einer von Verwaltungsbehörden für zutreffend gehaltenen Gesetzesanwendung, die sich nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen dem Gesetz, insbesondere dem Gesetzeswortlaut, nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit entnehmen lässt, Geltung zu verschaffen. Derartige Regelungsdefizite muss der Gesetzgeber selbst beheben (BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 2 C 11.20 – Buchholz 239.2 LBeamtVersorgR Nr. 5 Rn. 40).“
Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Senat an. Ihnen ist auch die Beklagte im Zulassungsverfahren nicht weiter entgegengetreten. Ihr Einwand, der gegenüber dem Kläger ergangene Versorgungsfestsetzungsbescheid sei kein im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG rechtswidriger, sondern ein rechtmäßiger Verwaltungsakt, geht somit fehl.
bb) Die Berufung ist danach auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Klärung der von der Beklagten aufgeworfenen Rechtsfrage „Sind von § 25 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 63c SVG auch Einsatzzeiten vor dem 1. Dezember 2002 erfasst?“ zuzulassen. Denn diese Frage ist durch die oben angeführte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Zwar kann auch eine höchstrichterlich geklärte Rechtsfrage wieder im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO klärungsbedürftig werden. Das setzt jedoch voraus, dass neue Gesichtspunkte von Gewicht vorgebracht werden, die die bisherige Rechtsprechung in Frage stellen und eine erneute Entscheidung geboten erscheinen lassen (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. September 2016 – 2 B 25.15 -, juris Rn. 34, und vom 24. Juli 2020 – 6 BN 3.19 -, juris Rn. 8). Daran fehlt es vorliegend.
b) Soweit die Beklagte in ihrer „ergänzenden“ Begründung vom 29. März 2022 den Zulassungsantrag erstmals auch darauf stützt, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht angenommen, der Kläger habe nicht lediglich einen Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), sondern aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null sogar einen Anspruch auf Neufestsetzung und Neuberechnung seiner Versorgungsbezüge, ist sie mit diesem außerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nachgeschobenen Vorbringen ausgeschlossen. Denn es handelt sich hierbei nicht nur um eine nachträgliche Erläuterung und Vertiefung von bereits fristgerecht vorgetragenen Gesichtspunkten, sondern vielmehr um einen gänzlich neuen, der Rechtsfolgenseite von § 51 Abs. 5, § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zuzuordnenden rechtlichen Aspekt, der zuvor – in dem Schriftsatz vom 9. März 2020 – von der Beklagten mit keinem Wort angesprochen worden war (vgl. zur Zulässigkeit nachträglicher – bloßer – Erläuterungen und Verdeutlichungen etwa BVerwG, Beschluss vom 30. September 2020 – 5 B 31.19 -, juris Rn. 6; OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Oktober 2011 – 1 A 1731/08 -, juris Rn. 13, und vom 9. Juli 2021 -18 A 3366/19 -, juris Rn. 102).
Eine abweichende Beurteilung rechtfertigt sich nicht aus der Behauptung der Beklagten, erst durch die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 2021- 2 C 1.20 (u. a.) – hätten sich weitere Gesichtspunkte ergeben, die im Rahmen der Zulassungsbegründung vom 9. März 2020 noch nicht hätten berücksichtigt werden können. Dem ist nicht zu folgen. Es wäre der Beklagten ohne Weiteres möglich gewesen, den Rechtsstandpunkt und die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Bejahung einer Ermessensreduzierung auf Null innerhalb der zweimonatigen gesetzlichen Frist zur Begründung des Berufungszulassungsantrags mit substantiierten Einwänden in Frage zu stellen. Dass sie sich in ihrem Schriftsatz vom 9. März 2020 darauf beschränkt hat, das verwaltungsgerichtliche Urteil allein im Hinblick auf die Problematik des zeitlichen Geltungsbereichs von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 anzugreifen, oblag ihrer freien Entscheidung. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 2021 haben auch nicht zu einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist geführt; gerade in Bezug auf die Frage der Reduzierung des behördlichen Rücknahmeermessens wegen im Einzelfall festzustellender „Unerträglichkeit“ der Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Verwaltungsakts ist nicht einmal eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung – die als solche keine Änderung der Rechtslage, d. h. des für den Verwaltungsakt maßgeblichen materiellen Rechts darstellt – ersichtlich (s. hierzu Schoch, in: Schneider/Schoch, Verwaltungsrecht, Band VwVfG, Stand: 1. EL August 2021, § 51 Rn. 61, 63). Ohnehin kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung von § 124a Abs. 2 Nr. 1 VwGO eine erst nach Ablauf der Begründungsfrist eingetretene Rechtsänderung ungeachtet ihrer fehlenden Vorhersehbarkeit nunmehr nicht erstmals als neuer Zulassungsgrund geltend gemacht werden, sondern muss unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003 – 7 AV 2.03 -, juris Rn. 11; s. auch OVG LSA, Beschluss vom 18. August 2015 – 2 R 116/15 -, juris Rn. 9). Ob ein nachträglich entstandener Zulassungsgrund gleichwohl unter den Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in das Zulassungsverfahren eingeführt werden kann, obwohl der Antragsteller – wie hier die Beklagte – die gesetzlichen Antrags- und Begründungsfristen des § 124a Abs. 4 Satz 1 und 4 VwGO an sich gewahrt hat, kann dahinstehen (ablehnend OVG NRW, Beschluss vom 17. Oktober 2011 – 1 A 1731/08 -, juris Rn. 20 m. w. N.; OVG MV, Beschluss vom 11. November 2014 – 1 L 55/10 -, juris 21; vgl. aber auch BGH, Beschlüsse vom 30. August 2010 – X ZR 193/03 -, juris Rn. 8 ff., und vom 17. September 2013 – XI ZR 124/11 -, juris [ohne Rn.]; Czybulka/Hösch, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 133 Rn. 38). Entgegen der Ansicht der Beklagten hat sich im Streitfall durch die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. September 2021 – wie ausgeführt – nicht im Nachhinein ein neuer Grund für die Unrichtigkeit des angefochtenen Urteils ergeben; die Beklagte war im Übrigen auch nicht ohne Verschulden verhindert (vgl. § 60 Abs. 1 VwGO), schon innerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO (vorsorglich und zusätzlich) zu beanstanden, das Verwaltungsgericht habe sie allenfalls zu einer Neubescheidung unter Beachtung des Rechtsauffassung des Gerichts verpflichten dürfen.
Unabhängig von der verspäteten Geltendmachung genügt das ergänzende Vorbringen vom 29. März 2022 zudem auch inhaltlich nicht den Anforderungen an die Darlegung ernstlicher Richtigkeitszweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Denn die Beklagte führt in diesem Schriftsatz lediglich aus, das Verwaltungsgericht habe dem Kläger auf der Grundlage der Annahme eines in mehrfacher Hinsicht auf Null reduzierten Ermessens einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens sowie auf Änderung der Versorgungsfestsetzung – wie tenoriert – zugesprochen, wohingegen das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. September 2021 – 2 C 1.20 – zu einem vergleichbaren Sachverhalt eine Ermessensreduzierung verneint und die Beklagte infolgedessen nur zur Neubescheidung verpflichtet habe. Dies wird der Darlegungspflicht nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO deshalb nicht gerecht, weil es an jeglicher Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung im Einzelnen erörterten Gründen mangelt, aus denen es das Ermessen der Beklagten im Fall des Klägers als reduziert angesehen hat. Hinzu kommt, dass auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 9. September 2021 (a. a. O. Rn. 28, 30) hinsichtlich des Wiederaufgreifens des Verfahrens ausdrücklich hervorhebt, dass von den Umständen des Einzelfalls abhängt, ob eine Ermessensreduzierung anzunehmen ist.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
3. Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwerts für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, §§ 40, 42 Abs. 1 GKG und folgt der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 124a Abs. 5 Satz 4, § 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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