Verwaltungsrecht

Zur Rechtmäßigkeit der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern im unverschleierten Zustand im Rahmen der erkennungsdienstlichen Behandlung

Aktenzeichen  W 5 S 16.1017

Datum:
17.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
StPO StPO § 81b Alt. 2
GG GG Art. 4 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1 Für die präventiven Zwecken dienende Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung sowie für die ihrer Durchführung dienende Hilfsmaßnahme der Vorladung ist keine vollumfängliche und zu absoluter Sicherheit führende Sachverhaltsaufklärung erforderlich; vielmehr genügt hier der sich aus dem Ermittlungsverfahren ergebende dringende Tatverdacht (Verweis auf BayVGH BeckRS 2011, 46134 u.a.). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Notwendigkeit“ im Sinne des § 81b 2. Alt. StPO unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung, während das der polizeilichen Prognose über das künftige Verhalten des Betroffenen zugrundeliegende Wahrscheinlichkeitsurteil einer solchen Kontrolle nur begrenzt zugänglich ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Aufnahme von Lichtbildern einer Frau, die aus religiösen Gründen ein muslimisches Kopftuch trägt, im gänzlich unverschleierten Zustand ist als Eingriff in die Religionsfreiheit zu sehen; dies gilt unabhängig davon, ob bei Durchführung der Aufnahmen ausschließlich eine weibliche Beamtin anwesend ist. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4 Ungeachtet der Frage der Erforderlichkeit von Lichtbildaufnahmen im gänzlich unverschleierten Zustand ist fraglich, ob eine solche Anordnung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, insbesondere ob es sich hierbei um einen zulässigen Eingriff in die freie Religionsausübung handelt. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
5 Ob im Rahmen der Abwägung der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit der Vorrang vor der Religionsfreiheit gegeben werden kann oder unter weitestmöglicher Schonung und damit Verwirklichung beider Verfassungsgüter im Konfliktfall eine Lösung gefunden werden muss, die die Glaubensfreiheit weitergehend berücksichtigt, kann im Rahmen der im Sofortverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht abschließend beantwortet werden. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid der Polizeiinspektion Bad Brückenau vom 15. September 2016 wird wiederhergestellt, soweit die Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin im unverschleierten Zustand, d.h. ohne Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt, angeordnet wird. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat ¾ und der Antragsgegner hat ¼ der Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die sofortige Vollziehung im Bescheid der Polizeiinspektion Bad Brückenau vom 15. September 2016. Mit diesem Bescheid wird die erkennungsdienstliche Behandlung der Antragstellerin nach § 81b 2. Alt. StPO, die sich auf die Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken, Fertigung von Lichtbildern – auch unverschleiert – und Messungen und Personenbeschreibungen erstreckt, angeordnet (Nr. 1 des Bescheids) und sie hierzu für Mittwoch, 19. Oktober 2016, 10.30 Uhr, oder Montag, 24. Oktober 2016, 13.30 Uhr, vorgeladen (Nr. 2). Für den Fall, dass die Antragstellerin der Vorladung ohne hinreichenden Grund keine Folge leistet, wird ein Zwangsgeld in Höhe von 250,00 EUR angedroht (Nr. 3) und mit einer Zahlungsfrist von zwei Monaten gleichzeitig festgesetzt (Nr. 4). Zudem wird die Antragstellerin für diesen Fall erneut zur erkennungsdienstlichen Behandlung am Donnerstag, 27. Oktober 2016, 10.30 Uhr, oder am Montag, 31. Oktober 2016, 12.30 Uhr, vorgeladen (Nr. 5). Für den Fall, dass die Antragstellerin dieser erneuten Vorladung ohne hinreichenden Grund wiederum nicht Folge leistet, wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht (Nr. 6). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1, 2, und 5 des Bescheides wird gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet (Nr. 7).
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.
Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts angeordnet worden ist – wie hier hinsichtlich der Nrn. 1, 2 und 5 des angefochtenen Bescheids –, wiederherstellen und in Fällen, in denen die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes entfällt – wie hier hinsichtlich der Zwangsmittelandrohung in Nrn. 3, 4 und 6 (vgl. Art. 21a VwZVG) –, anordnen.
Bei sachgerechter Auslegung (§ 88 VwGO) lässt die Antragstellerin demnach die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage W 5 K 16.1016 vom 12. Oktober 2016 gegen Nrn. 1, 2 und 5 des Bescheids vom 15. September 2016 sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nrn. 3, 4 und 6 dieses Bescheids beantragen.
2. Der Antrag ist nur teilweise begründet.
Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO prüft das Gericht, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind. Im Übrigen trifft es eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. des Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
2.1. Es bestehen keine Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs. Insbesondere hat der Antragsgegner die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet.
2.2. Eine summarische Prüfung der Hauptsache, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich und ausreichend ist, ergibt vorliegend, dass die Klage gegen die Anordnungen in Nrn. 1 (mit Ausnahme der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin im unverschleierten Zustand, d.h. ohne Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt), 2 und 5 des Bescheids des Polizeipräsidiums Unterfranken vom 31. Mai 2016 mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird. Soweit in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids die Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin auch im gänzlich unverschleierten Zustand angeordnet wird, sind die Erfolgs-aussichten der Klage hingegen offen. Im Rahmen der hiernach vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage insoweit wiederherzustellen war.
Rechtsgrundlage der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ist § 81b 2. Alt. StPO, wonach, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden dürfen.
2.3. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich nach summarischer Prüfung in den Nrn. 1 (mit Ausnahme der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand), 2 und 5 als rechtmäßig.
Das Polizeipräsidium Unterfranken hat die Antragstellerin zu Recht als Beschuldigte i.S.v. § 81b 2. Alt. StPO angesehen, denn gegen sie wird wegen einer Straftat ermittelt. Voraussetzung der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung ist, dass ein Straf- oder Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen schwebt; nur während der Anhängigkeit eines solchen Verfahrens kann die Anordnung ergehen (vgl. BVerwG, U.v. 3.11.1955 – I C 176.53 – BVerwGE 2, 302).
Das Anlassverfahren erweist sich als geeignete Grundlage für die Anordnung. Für die präventiven Zwecken dienende Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung sowie der ihrer Durchführung dienende Hilfsmaßnahme der Vorladung ist keine vollumfängliche und zu absoluter Sicherheit führende Sachverhaltsaufklärung erforderlich. Vielmehr genügt hier der sich aus dem Ermittlungsverfahren ergebende dringende Tatverdacht (vgl. BayVGH, B.v. 3.12.1992 – 21 B 92.929 – BayVBl 1993, 211; B.v. 23.11.2009 – 10 CS 09.1854 – juris). Ein derartiger Tatverdacht ist hier gegeben. Das Bestreiten der Tat durch die Antragstellerin, soweit es sich hierbei nicht ohnehin um Schutzbehauptungen handelt, ändert daran nichts.
Die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung ist grundsätzlich auch notwendig i.S.d. § 81b 2. Alt. StPO. Für die Annahme der Notwendigkeit bedarf es einer auf der sog. Anlasstat beruhenden Wiederholungsgefahr. Eine Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn aufgrund eines konkreten Sachverhalts die Prognose angestellt werden kann, der Betroffene werde auch in Zukunft in den Kreis Verdächtiger von noch aufzuklärenden anderen Straftaten einbezogen werden können (BayVGH, B.v. 6.12.2011 – 10 ZB 11.365 – juris, m.w.N.). Hierbei beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle darauf, ob die nach kriminalistischer Erfahrung anzustellende Prognose auf zutreffender Tatsachengrundlage beruht und ob sie nach gegebenem Erkenntnisstand unter Einbeziehung des kriminalistischen Erfahrungswissens sachgerecht und vertretbar ist. Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Notwendigkeit“ unterliegt dabei der vollen gerichtlichen Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte, während das der polizeilichen Prognose über das künftige Verhalten des Betroffenen zugrundeliegende Wahrscheinlichkeitsurteil einer solchen Kontrolle nur begrenzt zugänglich ist (vgl. VGH Mannheim, U.v. 29.5.2008 – 1 S 1503/07; OVG Bautzen, B.v. 29.1.2010 – 3 D 91/08 sowie B.v. 12.10.2010 – 3 A 657/09; OVG Magdeburg, U.v. 18.8.2010 – 3 L 372/09; alle juris).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat die Polizeiinspektion Bad Brückenau die Notwendigkeit i.S.d. § 81b 2. Alt. StPO zu Recht bejaht. Ihre Prognose, es bestünden Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Antragstellerin in ähnlicher oder anderer Weise erneut straffällig werden könnte und die erkennungsdienstlichen Unterlagen zur Förderung der dann zu führenden Ermittlungen geeignet erscheinen, ist nach Ansicht des Gerichts zutreffend. Die Antragstellerin ist bereits in der Vergangenheit strafrechtlich in Erscheinung getreten. Gegen sie wurden Ermittlungen wegen eines besonders schweren Falls des Ladendiebstahls am 7. Oktober 2015 sowie zweimal wegen Ladendiebstahls am 26. Juni und 16. März 2015, jeweils in Bonn, geführt. Es kommt nicht darauf an, ob die früheren Verfahren zum Teil eingestellt worden sind. Der Restverdacht ist hierdurch nämlich nicht automatisch ausgeräumt (vgl. Beschluss der erkennenden Kammer v. 8.8.2011 – W 5 S. 11.598). Vorliegend waren die ersten beiden Vorfälle sogar Gegenstand von Strafbefehlen. Als präventiv-polizeiliche Maßnahme zur vorbeugenden Straftatenbekämpfung ist die erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b StPO zwar von einem fortbestehenden hinreichenden Tatverdacht, nicht aber von einer (rechtskräftigen) strafgerichtlichen Schuldfeststellung abhängig; die Feststellung des Tatverdachts ist vielmehr etwas substantiell anderes als eine Schuldfeststellung (vgl. BVerfG, B.v. 16.5.2002 – 1 BvR 2257/01 – NJW 2002, 3231). Der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung steht deshalb auch nicht die strafrechtliche Unschuldsvermutung entgegen (BayVGH, B.v. 27.12.2010 – 10 ZB 10.2847).
Angesichts der wiederholten polizeilichen Auffälligkeit der Antragstellerin kann bei der Anlasstat auch nicht von einem Bagatelldelikt ausgegangen werden, wie der Antragstellerbevollmächtigte meint. Für die Annahme einer Wiederholungsgefahr ist keine gewerbs- oder gewohnheitsmäßige Straffälligkeit erforderlich (vgl. Beschlüsse der erkennenden Kammer vom 30.7.2014 – W 5 S. 14.703 und vom 23.9.2015 – W 5 S. 15.910).
Insofern erscheint die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung im Allgemeinen gut geeignet, präventive Wirkung zu entfalten, insbesondere durch die Warnfunktion gegenüber der Antragstellerin und die offensichtliche Erleichterung weiterer Ermittlungsarbeiten in zukünftigen Fällen.
Hiervon ausgehend hat der Antragsgegner ohne Ermessensfehler die grundsätzliche Notwendigkeit einer Anordnung nach § 81b 2. Alt. StPO bejaht. Abgesehen von der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand hat die Kammer auch keine Bedenken gegen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Anordnung. Durch die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung werden insoweit auch keine unumkehrbaren Verhältnisse geschaffen. Vielmehr hat die Antragstellerin dann einen Löschungsanspruch, wenn die Voraussetzungen für die Datenspeicherung weggefallen sind.
Die Androhung und Festsetzung des Zwangsgelds in Nrn. 3 und 4 des angegriffenen Bescheids erweisen sich – auch der Höhe nach – als rechtmäßig. Ebenfalls keinen Bedenken begegnet die Androhung der zwangsweisen Vorführung in Nr. 6 des angegriffenen Bescheids. Nach dem Wortlaut der Zwangsmittelandrohungen beziehen sich diese auf das Nichterscheinen der Antragstellerin zum Termin, nicht auf die einzelnen angeordneten Maßnahmen. Die Androhung mehrerer Zwangsmittel in einem Bescheid ist in Art. 59 Abs. 3 Satz 2 PAG ausdrücklich vorgesehen und die Reihenfolge der Anwendung ist beanstandungsfrei angegeben. Die Androhung der Anwendung unmittelbaren Zwangs für den Fall, dass die Androhung von Zwangsgeld ohne Erfolg bleibt und die Antragstellerin nicht zur Mitwirkung bei der erkennungsdienstlichen Behandlung bewegen kann, ist nicht zu beanstanden und wahrt das Gebot verhältnismäßigen Vorgehens.
2.4. Hingegen sind die Erfolgsaussichten der Klage insoweit als offen anzusehen, als im streitgegenständlichen Bescheid auch die Fertigung von Lichtbildern der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand, d.h. ohne den von ihr üblicherweise getragenen Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt, angeordnet wird.
Nach Auffassung des Gerichts bestehen insoweit Bedenken, ob die Anordnung der Maßnahme in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erfolgte bzw. mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Die Antragstellerin beruft sich auf einen unzulässigen Eingriff in ihre Religionsfreiheit. Aufgrund ihres Auftritts in der mündlichen Verhandlung im Asylverfahren der 7. Kammer des Verwaltungsgerichts Würzburg am 11. Juli 2016 ist bekannt, dass die Antragstellerin in der Öffentlichkeit eine Verschleierung trägt, die ihre Haare, ihre Ohren und ihren Hals bedeckt, ihr Gesicht ansonsten hingegen freilässt. Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. Juli 2016 (W 7 K 15.30524), das u.a. von einer Verfolgung wegen der religiösen Überzeugung der Antragstellerin, die als russische Volkszugehörige zum Islam konvertiert war, ausgeht, wurde die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, der Antragstellerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im vorliegenden Fall ist daher der Schutzbereich der Religionsfreiheit betroffen und der inhaltliche Geltungsbereich dieses Grundrechts durch die streitgegenständliche Anordnung beeinträchtigt. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes Grundrecht, das die Freiheit des Glaubens und das Recht auf freie Religionsausübung garantiert. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, d.h. einen Glauben zu haben, zu verschweigen, sich vom bisherigen Glauben loszusagen, und einem anderen Glauben zuzuwenden („forum internum“), sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem Glauben abzuwerben („forum externum“). Umfasst sind damit nicht allein kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche, sondern auch die religiöse Erziehung sowie andere Äußerungsformen des religiösen und weltanschaulichen Lebens. Dazu gehört auch das Recht der Einzelnen, ihr gesamtes Verhalten an den Lehren ihres Glaubens auszurichten und ihrer inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, also glaubensgeleitet zu leben, wozu auch die religiös motivierte Gestaltung des äußeren Erscheinungsbilds durch Kleidung gehört (BVerfG, U.v. 24.9.2003 – 2 BvR 1436/02 – BVerfGE 108, 282; VG Augsburg, U.v. 30.6.2016 – Au 2 K 15.457 – juris m.w.N.).
Bei Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und des einzelnen Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben (BVerfG, B.v. 16.10.1968 – 1 BvR 241/66 – BVerfGE 24, 236). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich eine religiös anzusehende Motivation hat (vgl. z.B. BVerfG, U.v. 15.1.2002 – 1 BvR 1783/99 – BVerfGE 104, 337).
Nach diesem Verständnis des Grundrechts der Religionsfreiheit ist dessen Schutzbereich eröffnet, weil das Tragen eines muslimischen Kopftuches („Hidschab“), durch das Haare und Hals nachvollziehbar aus religiösen Gründen bedeckt werden, als Teil der Religionsausübung nach außen in den Bereich des sog. „forum externum“ fällt (BVerfG, B.v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10; VG Augsburg – a.a.O. m.w.N.). Die Antragstellerin macht auch – ohne dass dies zweifelhaft erscheint – eine religiöse Motivation für das von ihr als aus Glaubensgründen verpflichtend dargestellte Tragen des Kopftuchs geltend. Die religiöse Fundierung der Pflicht, als Frau ein islamisches Kopftuch zu tragen, ist plausibel und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt (s. hierzu BVerfG, B.v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 – BVerfGE 138, 296; VG Augsburg – a.a.O.).
Die Aufnahme von Lichtbildern der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand ist auch als Eingriff in die Religionsfreiheit zu sehen – unabhängig davon ob bei Durchführung der Aufnahmen ausschließlich eine weibliche Beamtin anwesend ist, denn die Aufnahmen sind aufgrund ihrer Speicherung weiteren, auch männlichen Polizisten zugänglich und werden ggf. auch im Rahmen von Zeugenbefragungen verwendet.
Es ist fraglich, ob dieser angeordnete Eingriff in die Religionsfreiheit der Antragstellerin verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.
Dem Bescheid lässt sich nicht entnehmen, dass die Behörde den Aspekt der Religionsfreiheit der Antragstellerin bei der Prüfung der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme berücksichtigt hat. Insofern steht aufgrund der insoweit fehlenden Begründung des Verwaltungsakts bereits ein Ermessensausfall im Raum.
Weiterhin stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Aufnahme von Lichtbildern der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand für die Erfüllung der polizeilichen Aufgabe erforderlich ist. Es kann bei der erkennungsdienstlichen Behandlung zwar grundsätzlich die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes einer Person zur Vorbereitung von Identifizierungsmaßnahmen angeordnet und ggf. auch zwangsweise durchgeführt werden (Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, § 81b Rn. 12). Nachdem sich die Antragstellerin jedoch mit Kopftuch bekleidet in der Öffentlichkeit bewegt und bislang ausschließlich mit Ladendiebstählen auffällig geworden ist, erschließt sich nicht ohne weiteres, warum die Aufnahme des gänzlich unverschleierten Kopfs der Antragstellerin erforderlich ist. Eine Klärung, zu welchen polizeilichen Zwecken das vom Antragsgegner als „wesentliche Personenmerkmale wir Haare, Ohren, Hals, Gesichtsform“ bezeichnete äußere Erscheinungsbild der Antragstellerin benötigt wird, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Außerdem bleibt auch bei Annahme der Erforderlichkeit von Lichtbildaufnahmen der Antragstellerin im gänzlich unverschleierten Zustand fraglich, ob die getroffene Anordnung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem auch erkennungsdienstliche Maßnahmen unterliegen (Gercke/Julius/Temming u.a., StPO, § 81b Rn. 13), vereinbar ist, insbesondere ob es sich hierbei um einen unzulässigen Eingriff in die freie Religionsausübung handelt.
Die Glaubensfreiheit ist zwar nicht schrankenlos gewährleistet. Einschränkungen müssen sich jedoch aus der Verfassung selbst ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang (vgl. BVerfG, B.v. 26.5.1970 – 1 BvR 83/69, 1 BvR 244/69, 1 BvR 345/69 – BVerfGE 28, 243). Dabei ist der Konflikt mit den anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren (BVerfG, B.v. 2.10.2003 – 1 BvR 536/03 – juris). Die schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden (BVerfG, B.v. 26.5.1970 – 1 BvR 83/69 – juris). Ob im Rahmen der Abwägung vorliegend von der Behörde der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit der Vorrang vor der Religionsfreiheit gegeben werden konnte oder ob, unter weitestmöglicher Schonung und damit Verwirklichung beider Verfassungsgüter im vorliegenden Konfliktfall eine Lösung gefunden werden musste, die die Glaubensfreiheit der Antragstellerin weitergehend berücksichtigt, kann im Rahmen der im Sofortverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht abschließend beantwortet werden.
Nach alledem sind die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin hinsichtlich der Anordnung der Fertigung von Lichtbildern im gänzlich unverschleierten Zustand als offen anzusehen.
Im Rahmen der sonach vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt insoweit das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Vollzugsinteresse, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen war. Im Falle einer einstweiligen Fertigung von Lichtbildern im gänzlich unverschleierten Zustand, d.h. ohne Schleier, der Haare, Ohren und Hals bedeckt, steht die Verletzung der Glaubensfreiheit der Antragstellerin im Raum. Hingegen wird die öffentliche Sicherheit, wenn zunächst nur Lichtbilder der Antragstellerin im beschriebenen teilweise verschleierten Zustand aufgenommen werden können, angesichts der im Raum stehenden Tatvorwürfe gegen die Antragstellerin nicht in gravierender Weise beeinträchtigt, da diese Lichtbilder bei einer möglichen Tataufklärung in der Zukunft verwendet werden können.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 155 Abs. 1 VwGO und entspricht dem Anteil des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens.
Die Streitwertentscheidung resultiert aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG. Das Gericht orientiert sich dabei am Streitwertkatalog 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Nach Nr. 35.5 dieses Katalogs ist bei Streitigkeiten um erkennungsdienstliche Maßnahmen in der Hauptsache der Auffangwert (5.000,00 EUR) zu veranschlagen. Für das vorliegende Sofortverfahren war dieser Wert zu halbieren (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs).


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