Verwaltungsrecht

Zuweisung eines anerkannten Flüchtlings zu einer Obdachlosenunterkunft

Aktenzeichen  4 CE 16.2297

Datum:
5.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
NVwZ-RR – 2017, 309
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
LStVG LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
BayVwVfG BayVwVfG Art. 3 Abs. 1 Nr. 4
AufenthG AufenthG § 12a Abs. 7
VwGO VwGO § 56, § 80 Abs. 7, § 82 Abs. 1 S. 1, § 86 Abs. 1 S. 1 Hs. 1, § 123
ZPO ZPO § 920 Abs. 2, § 926 Abs. 1, § 927

 

Leitsatz

1 Die örtliche Zuständigkeit zur Abwendung von unfreiwilliger Obdachlosigkeit liegt gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG iVm Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG dort, wo die betreffende Person obdachlos geworden ist (Fortführung von VGH München BeckRS 2015, 54329). (redaktioneller Leitsatz)
2 An der Obdachlosigkeit einer Person und der hieraus resultierenden örtlichen Behördenzuständigkeit ändert ein zwischenzeitlicher Aufenthalt an Notschlafplätzen nichts. Die Angabe einer zustellungsfähigen Anschrift soll die Erreichbarkeit einer Person sicherstellen; sie lässt ebenfalls weder die Obdachlosigkeit einer Person noch die örtliche Zuständigkeit der Behörde entfallen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine zeitliche Befristung der Verpflichtung der Behörde zur Unterbringung einer obdachlosen Person im Rahmen einer einstweiligen Anordnung ist nicht erforderlich. Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist in einer fehlenden Befristung nicht zu sehen.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 22 E 16.4515 2016-10-26 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen eine einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts, mit der sie verpflichtet wurde, dem Antragsteller vorläufig eine Obdachlosenunterkunft zuzuweisen.
Der im Jahr 1994 geborene Antragsteller war ursprünglich einer Asylbewerberunterkunft in Baden-Württemberg zugewiesen. Nach seiner Flüchtlingsanerkennung im November 2015 und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Dezember 2015 zog er wegen einer zum Mai 2016 in München angenommenen Arbeitsstelle (monatliche Bruttovergütung: 1.150 Euro) in eine Pension im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin, wo er sich mit alleinigem Wohnsitz anmeldete. Im Juni 2016 wurde sein Arbeitsverhältnis beendet, im Juli 2016 zog er aus der Pension aus, im August 2016 meldete er sich arbeits- und obdachlos. Er gab gegenüber der Antragsgegnerin an, sich seither an stetig wechselnden Notschlafplätzen in Kirchen, Bahnhöfen sowie bei Verwandten und Bekannten aufzuhalten.
Mit Beschluss vom 26. Oktober 2016 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung dazu, dem Antragsteller zur Behebung seiner Obdachlosigkeit eine Unterkunft zuzuweisen und vorläufig zur Verfügung zu stellen. Dem Antragsteller wurde antragsgemäß Prozesskostenhilfe bewilligt. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Gericht aus, nach summarischer Prüfung sei die Antragsgegnerin für die Unterbringung des Antragstellers örtlich zuständig. Das Vorbringen des Antragstellers, mittellos zu sein und keine anderweitige Aufenthaltsmöglichkeit zu haben, erscheine dem Gericht glaubhaft. Infolge des Auszugs aus der Pension sei die unfreiwillige Obdachlosigkeit des Antragstellers im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin eingetreten und in der Folge nicht wieder entfallen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin, die insbesondere ihre örtliche Zuständigkeit zur Unterbringung des Antragstellers verneint. Der Antragsteller hat sich nicht zum Verfahren geäußert.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 26. Oktober 2016, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe überprüft (§ 146 Abs. 4 Sätze 6 und 1 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben. Die mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände führen zu keiner anderen Beurteilung.
a) Nicht zu folgen ist zunächst dem Vorbringen der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe das Vorliegen eines ihr gegenüber bestehenden Anordnungsanspruchs nicht glaubhaft gemacht. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist die Obdachlosigkeit des Antragstellers, der als anerkannter Flüchtling schon wegen der Übergangsvorschrift des § 12a Abs. 7 AufenthG keiner Wohnsitzregelung unterliegt, im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin eingetreten. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs liegt der gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG für die örtliche Zuständigkeit entscheidende Anlass für die Amtshandlung im Bereich der Gefahrenabwehr dort, wo die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden. Die Gefahr für Leib und Leben im Sinn des Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG entsteht durch die Obdachlosigkeit. Die Zuständigkeit für die Behebung der Gefahr liegt deshalb dort, wo die Gefahr eintritt, also wo der Betreffende obdachlos geworden ist (vgl. BayVGH, B. v. 9.10.2015 – 4 CE 15.2102 – juris Rn. 2; B. v. 7.1.2002 – 4 ZE 01.3176 – BayVBl 2003, 343; jeweils m. w. N.).
Hier ist der Antragsteller mit dem Auszug aus der von ihm angemieteten und bewohnten Pension im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin obdachlos geworden. Sein zwischenzeitlicher Aufenthalt an ständig wechselnden Notschlafplätzen in Kirchen, Bahnhöfen sowie bei Verwandten und Bekannten hat weder den Zustand der Obdachlosigkeit als solchen noch die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin entfallen lassen. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Antragsteller in das Gemeindegebiet begeben hätte, um dort rechtsmissbräuchlich Obdach zu beantragen (dazu BayVGH, B. v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl 1995, 729/730), sind weder von der Antragsgegnerin plausibel vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dies gilt auch, soweit die Antragsgegnerin auf die vom Antragsteller bezeichnete Zustelladresse bei Verwandten in K. hinweist. Die Angabe einer ladungsfähigen, d. h. zustellungsfähigen (vgl. § 56 VwGO) Anschrift gehört nach § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO grundsätzlich zum notwendigen Mindestinhalt einer Klage bzw. eines sonstigen Antrags zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens (vgl. Schübel-Pfister in Gärditz, VwGO, 2013, § 82 Rn. 11 m. w. N.). Sie soll die (postalische) Erreichbarkeit des Antragstellers sicherstellen, vermag aber weder an seiner glaubhaft gemachten Obdachlosigkeit noch an der örtlichen Zuständigkeit der Antragsgegnerin etwas zu ändern, denn sie ist kein Beleg für das Vorliegen einer rechtlich gesicherten dauerhaften Wohnmöglichkeit für den Antragsteller.
b) Vor diesem Hintergrund sind auch keine Zweifel an dem vom Verwaltungsgericht dargelegten Anordnungsgrund in Gestalt der Eilbedürftigkeit ersichtlich. Die Eilbedürftigkeit für eine gerichtliche Anordnung ist im Fall der Obdachlosigkeit, zumal zur kalten Jahreszeit, unzweifelhaft gegeben (vgl. BayVGH, B. v. 26.4.1995 – 4 CE 95.1023 – BayVBl 1995, 729/730). Sie wird durch die zwischen dem Auszug des Antragstellers und seinem Ersuchen um obdachlosenrechtliche Unterbringung verstrichene Zeit nicht in Frage gestellt.
c) Die Rüge der Antragsgegnerin, dass das Verwaltungsgericht auf ungesicherter Tatsachenbasis entschieden habe, greift nicht durch. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO gilt für die Ermittlung des Sachverhalts der Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 VwGO analog, d. h. unter Berücksichtigung der durch den Anordnungsgrund geprägten besonderen Anforderungen an das Verfahren nach § 123 VwGO (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 123 Rn. 56). Die hiernach erforderliche, aber auch ausreichende Glaubhaftmachung der maßgeblichen Tatsachen (§ 123 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO) ist seitens des Antragstellers erfolgt. Er hat seiner Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO, der im Verfahren nach § 123 VwGO besondere Bedeutung zukommt, Genüge getan.
d) Schließlich kann auch der Einwand der Antragsgegnerin, mangels Befristung der einstweiligen Anordnung liege eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache vor, der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen. Anders als in den auf private Mietwohnungen bezogenen Wiedereinweisungsfällen (vgl. dazu BayVGH, B. v. 7.11.2016 – 4 ZB 15.2809 – juris Rn. 8 m. w. N.) ist eine strikte zeitliche Befristung der Unterbringung im Rahmen der einstweiligen Anordnung nicht veranlasst. Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin ausweislich des Beschlusstenors „vorläufig“, also (nur) bis zu einer anderweitigen gerichtlichen Entscheidung, zur Unterbringung des Antragstellers verpflichtet. Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang das Unterbleiben einer Anordnung der Klageerhebung nach §§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 926 Abs. 1 ZPO rügt, ist festzuhalten, dass sie dies nach Aktenlage bislang nicht beantragt hat, sondern sich lediglich einen entsprechenden Antrag vorbehalten hat. Im Übrigen bleibt von dem Weg ins Hauptsacheverfahren nach § 926 Abs. 1 ZPO die Möglichkeit unberührt, bei veränderten Umständen eine Aufhebung oder Änderung der einstweiligen Anordnung analog § 80 Abs. 7 VwGO bzw. § 927 ZPO herbeizuführen (dazu Happ in Eyermann, a. a. O., § 123 Rn. 77 ff.).
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG, wobei im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Hälfte des Auffangwertes angemessen erscheint (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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