Baurecht

Nachbarklage, innerstädtische Lage, Gebot der Rücksichtnahme

Aktenzeichen  9 ZB 21.3053

Datum:
20.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15354
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6
Art. 63 BayBO.

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 3 K 20.02801 2021-10-20 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich als Nachbar gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Wohnhauses mit zwei Wohneinheiten sowie den Umbau einer bestehenden Garage zu „Doppelparkern“.
Der Kläger ist Eigentümer eines mit einem Wohnhaus und Nebengebäuden bebauten Grundstücks (Flnr. … Gemarkung H* …*). Südlich hiervon befindet sich das Baugrundstück (FlNr. … derselben Gemarkung), welches im Norden mit einem dinglich gesicherten Wegerecht des Klägers belastet ist. Beide Grundstücke liegen innerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans Nr. … „… … … … … … … …“ der Stadt H* … vom 22. November 1996, der im fraglichen Bereich ein Mischgebiet und u.a. offene Bauweise, Baugrenzen sowie die Kniestockhöhe festsetzt; außerdem im denkmalgeschützten Ensemble „Altstadt H* …“.
Die Baugenehmigung wurde den Beigeladenen mit Bescheid vom 26. November 2020 mit denkmalschutzrechtlichen Nebenbestimmungen und unter gleichzeitiger Gewährung von Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans betreffend die Höhe des Kniestocks sowie die Baugrenzen im Osten und Westen erteilt. Zudem wurden u.a. noch Abweichungen hinsichtlich der Abstandsflächen nach Norden, Osten und Süden zugelassen.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 20. Oktober 2021 abgewiesen. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletze zu Lasten des Klägers nicht das Abstandsflächenrecht, weil dieses aus bauplanungsrechtlichen Gründen nicht einzuhalten sei. Die Festsetzung der offenen Bauweise im relevanten Bebauungsplan Nr. … sei funktionslos. Die festgesetzten Baugrenzen wiesen keinen Bezug zu den Grundstückgrenzen auf und ließen, anders als ggf. straßenseitige bzw. vordere Baugrenzen, die Frage, ob an die Grundstücksgrenze gebaut werden dürfe, offen. In der näheren Umgebung sei auf zahlreichen Grundstücken Bebauung ohne oder nur mit geringem seitlichen und vorderen Grenzabstand „(geschlossene Bauweise)“ zu finden, welche ohne erkennbare Regelmäßigkeit vereinzelt komplett, überwiegend jedoch an zwei oder drei Grundstücksseiten grenzständig sei. Das Vorhaben erweise sich auch nicht als rücksichtslos. Gewisse Verringerungen des Lichteinfalls seien in innerstädtischen Lagen ebenso wie damit verbundene Energiegewinnungseinbußen hinsichtlich der Nutzung der Photovoltaikanlage des Klägers hinzunehmen. Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen für Abweichungen von den Abstandsflächen des Wohngebäudes vor.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Solche sind nur dann anzunehmen, wenn einzelne tragende Rechtssätze oder einzelne erhebliche Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts durch schlüssige Gegenargumente infrage gestellt werden vgl. (BayVGH, B.v. 1.2.2022 – 9 ZB 19.1400 – juris Rn. 5 m.w.N.).
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass sich Dritte – wie hier der Kläger als Nachbar – nur dann im Wege einer Anfechtungsklage mit Aussicht auf Erfolg gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen können, wenn diese nicht nur rechtswidrig ist, sondern die Rechtswidrigkeit auch auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz der betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. etwa BayVGH, B.v. 30.7.2019 – 15 CS 19.1227 – juris). Es hat eine Rechtsverletzung danach verneint. Dass diese Beurteilung falsch sein könnte, ist auf der Basis des Vortrags im Zulassungsverfahren nicht ersichtlich.
a) Dies gilt zunächst hinsichtlich des Vortrags, das Verwaltungsgericht nehme zu Unrecht an, die Abstandsflächen seien gewahrt. Der Kläger hat insofern nicht dargelegt, woraus sich dies ergeben soll. Er ist der Auffassung, aus der festgesetzten Baugrenze resultiere die Forderung, außerhalb des damit definierten Bereichs keine Bebauung und damit auch keine ohne die Einhaltung von Abstandsflächen zu errichten. Mit diesem Vorbringen blendet er aus, dass das Erstgericht festgestellt hat, die Festsetzung der offenen Bauweise im maßgeblichen Bebauungsplan sei funktionslos geworden. Es ist von einer in der näheren Umgebung tatsächlich vorhandenen unregelmäßigen Bebauung ohne oder nur mit geringem seitlichen und vorderen Grenzabstand, welche vereinzelt komplett, überwiegend jedoch an zwei oder drei Grundstücksseiten grenzständig sei, als Maßstab bildend ausgegangen. Außerdem hat es den Festsetzungen über Baugrenzen vorliegend keinen Aussagegehalt in Bezug auf die Grundstücksgrenzen beigemessen. Der Kläger, der diese Annahmen nicht anzweifelt und sich insbesondere gegen die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO auf das Bauvorhaben und insoweit auch nur im Hinblick auf dessen Überschreitung der festgesetzten hinteren Baugrenze durch das Querhaus wendet, substantiiert vor diesem Hintergrund nicht, weshalb die (hintere) „Baugrenze, indem sie die überbaubare Grundstücksfläche beschreibt“, hier einen Bereich definieren sollte, außerhalb dessen „bauplanungsrechtlich jedenfalls nicht ohne Abstandsfläche gebaut werden muss oder darf“. Mit der bloßen Darstellung der eigenen Rechtssauffassung wird er dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO nicht gerecht (vgl. BayVGH. B.v. 30.11.2021 – 9 ZB 21.2366 – juris Rn. 13; B.v. 23.4.2021 – 9 ZB 20.874 – juris Rn. 9 m.w.N.). Darüber hinaus lässt er auch unberücksichtigt, dass den Beigeladenen u.a. hinsichtlich der Überschreitung der hinteren Baugrenze eine Befreiung erteilt wurde.
b) Dem Zulassungsvorbringen lässt sich auch kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot entnehmen.
Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.11.2021 – 15 CS 21.2324 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Soweit der Kläger kritisiert, das Verwaltungsgericht habe fälschlich einen Regelfall der Einhaltung des Gebots der Rücksichtnahme bei Vereinbarkeit des Bauvorhabens mit Abstandsflächenvorschriften angenommen, weil hier außerhalb der Baugrenzen Abstandsflächen einzuhalten gewesen wären, kann auf die Ausführungen unter 1. a) verwiesen werden. Das Erstgericht hat zutreffend zugrunde gelegt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots regelmäßig aus tatsächlichen Gründen ausscheidet, wenn die Vorgaben des Art. 6 BayBO eingehalten sind (vgl. BayVGH, B.v. 18.2.2020 – 15 CS 20.57 – juris Rn. 24 m.w.N.) und eine unzumutbare Beeinträchtigung der Belichtung, Besonnung und Belüftung mit Blick auf die dicht besiedelte Innenstadtlage und das Maß der baulichen Nutzung sowie die Situierung des Bauvorhabens nachvollziehbar verneint. Indem der Kläger auf seine erstinstanzlichen Ausführungen und damit auch wieder auf eine angebliche Übermächtigkeit des zweigeschossigen Querhauses im Westen des Bauvorhabens verweist, setzt er dem nichts Durchdringendes entgegen. Die Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts können darüber hinaus auch nicht so verstanden werden, dass es von einem einmauernden oder erdrückenden Effekt ausgegangen wäre und allein wegen der Annahme der Einhaltung von Abstandsflächenrecht einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme verneint hätte.
c) Schließlich weckt der Kläger auch in Bezug auf die zusätzliche Begründung des Verwaltungsgerichts, das „ohne dass es noch darauf ankommt“ darauf hingewiesen hat, er wäre auch bei Verneinung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht durch einen Verstoß gegen die Abstandsflächenvorschriften in seinen nachbarlichen Rechten verletzt, keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der gerichtlichen Erwägungen. Das Verwaltungsgericht hat für einen Anspruch der Beigeladenen auf Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nach Art. 63 Abs. 1 BayBO das Vorliegen einer atypischen Situation für erforderlich gehalten und diese in der Lage des Bauvorhabens im dicht bebauten innerstädtischen Bereich mit historischer Bausubstanz gesehen, in der jede bauliche Veränderung geeignet sei, eine Abstandsflächenüberschreitung auszulösen, wolle man Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglichen. Das Interesse der Beigeladenen, zeitgemäßen sowie effizienten Wohnraum zu schaffen, sei rechtlich beachtlich, während zweifelhaft sei, ob sich die Situation für den Kläger durch den neu hinzukommenden Querbau in beachtlicher Weise verschlechtere. Hiermit setzt sich der Kläger nicht substantiiert auseinander. Sein Vorbringen, das Baugrundstück sei bereits mit einem jahrzehntelang genutzten Wohnhaus bebaut, was zeige, dass das Grundstück mit einem Gebäude ohne Querhaus den Wohnbedürfnissen einer Familie vollständig genüge, spricht nicht gegen das Vorliegen einer städtebaulichen Lage, in der das Interesse des Grundstückseigentümers, das Grundstück zeitgemäß und wirtschaftlich vertretbar auszunutzen, etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lässt (vgl. BayVGH, B.v. 31.1.2018 – 2 ZB 16.2067 – juris Rn. 3 m.w.N.).
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) auf.
Das ist der Fall, wenn die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, wenn sie sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 42 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind mit dem Vorbringen, die Rechtsfrage des planungsrechtlichen Vorrangs bei einer Bebauung außerhalb festgesetzter Baugrenzen sei unzutreffend beantwortet und hinsichtlich der Einhaltung des Rücksichtnahmegebots sowie der Zulässigkeit einer Abweichung seien die Belange des Klägers nicht erfasst, nicht dargelegt. Die im Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen lassen sich, soweit sie entscheidungserheblich sind, wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, anhand der einschlägigen Rechtsvorschriften im Zulassungsverfahren klären. Die unterschiedliche Bewertung des vorliegenden Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht und den Kläger genügt nicht, besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493 – juris Rn. 26).
3. Die Berufung ist auch nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 20; BVerwG, B.v. 4.8.2017 – 6 B 34.17 – juris Rn. 3 zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
Soweit der Kläger klären lassen möchte, „dass die durch Baugrenzen definierten freizuhaltenden Grundstücksteile nicht über einen vermeintlichen Vorrang des Planungsrechts in einer die Abstände missachtenden Weise bebaut werden dürfen“, fehlt es schon an der Entscheidungserheblichkeit der damit aufgeworfenen Frage. Auf die Ausführungen unter 1. a) wird verwiesen. Ebenso wenig wird dargelegt, dass die Frage einer vom Einzelfall unabhängigen, grundsätzlichen Beantwortung zugänglich ist.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Beigeladenen haben sich im Zulassungsverfahren nicht geäußert. Es entspricht deshalb der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013; sie entspricht der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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