Arbeitsrecht

Musterverfahren um Kostenträgerschaft für eine zahnärztliche Vergütung

Aktenzeichen  L 5 KR 224/14

Datum:
27.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 5787
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 83, § 84 Abs. 4e, § 85
SGB X § 110 S. 2, § 111

 

Leitsatz

Die Gesundheits-/Krankenversichertenkarte ist kein Inhaberpapier, eine § 793 BGB entsprechende Regelung ist dem SGB unbekannt. Die Karte begründet auch im Rechtsverkehr keine Rechtsscheinhaftung, welche über die genannten Wahl- und Mitgliedschaftsregelungen hinausgehen oder diese modifizieren.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 2 KR 10/11 2014-04-09 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.04.2014 verurteilt, der Klägerin 117,64 € zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.
III. Der Streitwert der Berufung wird auf 117,64 € festgesetzt.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zugelassene, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG) und begründet. Die Beklagte ist der Klägerin nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB X zur Erstattung von 117,64 € verpflichtet.
1. In Auswertung der Akten der Beteiligten sowie der in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze einschließlich der jeweiligen Anlagen ist festzustellen, dass TM notwendige und erforderliche zahnärztliche Leistungen des als Leistungserbringer zugelassenen Zahnarztes T. F., L-Straße, R. am 16.4.2010 als Sachleistungen erhalten hat. Dafür war diesem nach den einschlägigen Vergütungsvereinbarungen entsprechend der von der Beigeladenen erstellten Einzelfalldarstellung anhand der maßgeblichen gültig vereinbarten Punktwerte und Vergütungsstrukturen 117,64 € zu zahlen. Diesen Betrag hat die Klägerin direkt im Anschluss an das zweite Quartal 2010 mit befreiender Wirkung in Einhaltung der Regelungen des zahnärztlichen Leistungserbringungs- und Vergütungssystems an die Beigeladene geleistet, welche eine Weiterleitung an den Leistungserbringer veranlasst hat. Dieser Sachverhalt ist auch zwischen den Beteiligten nicht strittig, eine noch weitergehende Prüfung erübrigt sich insoweit (vgl. zur Zulässigkeit dieses Vorgehens zB BSG, Urt. v. 21.4.2015 – B 1 KR 8/15 R; BSG SozR 4-2500 § 129 Nr. 7 Rn. 10; BSG SozR 4-2500 § 130 Nr. 2 Rn. 15; BSG, SozR 4-5562 § 9 Nr. 4 Rn. 8).
Weiter war – wie zwischen den Beteiligten in gleicher Weise unstreitig – die Klägerin tatsächlich nicht zuständiger Sozialversicherungsträger für die zahnärztliche Leistung vom 16.4.2010. TM war wegen Beschäftigung § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V gesetzlich krankenversichert und rechtlich wirksam zum 1.11.2008 Mitglied der Beklagten geworden. Damit bestand für TM eine Bindungszeit von 18 Monaten, welche erst mit dem 30.4.2010 endete, § 175 Abs. 4 SGB V. Die Kündigungserklärung des TM vom 10.12.2009 konnte damit frühestens zum 30.4.2010 Wirksamkeit entfalten; die Voraussetzungen eines eher wirkenden Sonderkündigungsrechts – wie Einführung oder Erhöhung eines Zusatzbeitrags – haben nicht vorgelegen, § 175 Abs. 4 SGB V. Darauf hat die Beklagte TM zweimal hingewiesen. Auch dieser Sachverhalt ergibt sich aus den vorliegenden Akten der Beteiligten und ist zwischen diesen nicht strittig, eine noch weitergehende Prüfung ist auch insoweit nicht veranlasst.
2. An dieser Mitgliedschaft ändert nichts, dass die Beklagte an TM eine Versichertenkarte vorzeitig am 29.1.2010 ausgegeben hat.
Die Regelungen zur Versicherungspflicht in §§ 5 ff SGB V sind bindend. Sie stellen auf die Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen ab, hier die Beschäftigung des TM.
In gleicher Weise regeln §§ 173 ff, 186 ff SGB V bindend die Voraussetzungen der Wahl einer Krankenkasse, den Kassenwechsel sowie Mitgliedschaft einschließlich Beginn und Ende. Keine einzige dieser zwingenden Normen nimmt an irgendeiner Stelle auf die Gesundheits-/Krankenversichertenkarte Bezug oder benennt sie als Voraussetzung einer Mitgliedschaft. Die klare Normenstruktur verbietet es, eine Erweiterung im Wege richterlicher Rechtsfortbildung vorzunehmen. Richterliche Rechtsfortbildung ist von Verfassungswegen zwar nicht zu beanstanden, aber nur, wenn sie den erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht beiseite schiebt und durch eine autark getroffene Interessenabwägung ersetzt. Die Gerichte sind nicht ermächtigt, ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke zu füllen (vgl. BVerfG, Urteil vom 11.7.2012 – 1 BvR 3142/07, Rn. 74f – zitiert nach Juris).
Die Gesundheits-/Krankenversichertenkarte ist kein Inhaberpapier, eine § 793 BGB entsprechende Regelung ist dem SGB unbekannt. Die Karte begründet auch im Rechtsverkehr keine Rechtsscheinhaftung, welche über die genannten Wahl- und Mitgliedschaftsregelungen hinausgehen oder diese modifizieren. Die Regelungen in §§ 261, 291 a, 292 SGB V bauen vielmehr auf der Mitgliedschaft auf und haben deshalb rechtsdienende, nicht aber rechtsbegründende Funktion.
Ausdrücklich hat das BSG im Urteil vom 12.6.2008 – B 3 KR 19/07 R, Rn. 30 – zitiert nach Juris – nur entschieden, dass zugelassene Ärzte nach Behandlung unter Vorlage der Versichertenkarte gegen Rückforderungen bei Nichtbestehen eines Versicherungsverhältnisses nur deshalb geschützt sind, weil die Vertragspartner in § 19 Abs. 7 Bundesmantelvertrag-Ärzte sowie in § 25 Abs. 8 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen dies so vereinbart haben. Ohne diese Sondervereinbarung, welche ausschließlich das Rechtsverhältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer betrifft, besteht ein entsprechender Schutz gerade nicht, BSG aaO., Rn. 31 (kein entsprechender Schutz für zugelassene Krankenhäuser).
Dies gilt umso mehr, als es Aufgabe der Klägerin war, ihrem zukünftigen Mitglied TM mit Übertragung der Mitgliedschaftskarte rechtzeitig und lückenlos den Zugang zu den erforderlichen Sachleistungen zu ermöglichen. Denn andernfalls wäre nicht vollständig auszuschließen, dass im Falle einer Erkrankung TM nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig die Leistungen des Gesundheitssystems hätte in Anspruch nehmen können, welche sein Leben und seine Gesundheit iSd Art. 2 Abs. 2 GG schützen sollen.
3. Damit steht fest, dass die Klägerin nach § 105 Abs. 1 S. 1 SGB X im Zeitpunkt der Sachleistung am 16.4.2010 die unzuständige Krankenkasse des TM und die Beklagte dessen zuständige Krankenkasse war. Eine eigene Leistung hat die Beklagte nicht erbracht.
Die Ausschluss-Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X waren nicht erfüllt. Die Klägerin hatte nicht bewusst eine vorläufige Leistung erbracht. Sie hatte vielmehr die Zahnarztleistungen und in der Folge die Vergütung in der Annahme einer eigenen Leistungspflicht dem Versicherten TM zur Verfügung gestellt. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 105 SGB X (vergleichbare Leistungspflichten der betroffenen Träger und zeitliche Kongruenz) waren erfüllt: Die Beklagte hätte TM die notwendige und erforderliche zahnärztliche Behandlung durch T. F. am 16.4.2010 als noch zuständige Mitgliedskasse als Sachleistung erbringen müssen. Die Beklagte hat also durch die Leistung der Klägerin an TM für den 16.4.2010 eigene Leistungen in persönlich, sachlich und zeitlich entsprechendem Umfang „erspart“. Die dafür geleistete Vergütung in der Gestalt der Gesamtvergütung an die kassenzahnärztliche Vereinigung Bayern einschließlich der Bewertung über das einschlägige Punktwertsystem ist das, was für TM zu erbringen war.
Mögliche besondere Einwendungen wegen einer bereits ausgeschöpften Gesamtvergütung sind nicht zu untersuchen. Wie die Beteiligten unstreitig gestellt und übereinstimmend erklärt haben, bestanden sog. „Puffertage“ wegen drohender oder bestehender Ausschöpfung des vertragszahnärztlichen Gesamtvergütungssystems im Jahre 2010 weder im April noch im Juni, sondern erst deutlich später im Herbst bzw. zum Jahresende. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass dieser Sachverhalt unzutreffend wäre.
4. Dem gegenüber kann sich die Beklagten nicht wirksam auf ihre Vergütungsleistungen gegenüber der Kassenzahnärztlichen Vereinigung berufen.
Festzustellen ist insoweit zunächst, dass die Gesamtvergütungsvereinbarungen gem. § 85 SGB V und alle damit zusammenhängenden Regelungen keinerlei Anhalt für eine Vergütung nach Kopfpauschalen bieten. Denn des fehlt die Verwendung dieses oder eines gleichgesetzten Begriffes. Für eine Gesamtvergütung in dem Sinne, dass die Beklagte einen bestimmten Betrag leistet und dieser die zahnärztliche Vergütung aller ihrer Mitglieder abdeckt, völlig unabhängig davon, wie viele Versicherte welche Leistungen in welchem Umfange in Anspruch nehmen, lässt sich tatsächlich nichts finden. Vielmehr galt auch insoweit ein fall- und konkret leistungsbezogenes Abrechnungs- und Punktwertsystem.
Die Beklagte hat zwar mit der Vereinbarung und Erbringung der vertragszahnärztlichen Gesamtvergütung für das relevante Abrechnungsquartal II/2010 ihrer Vergütungspflicht für die zu Gunsten ihrer Versicherten erbrachten zahnärztlichen Sachleistungen Genüge getan. Auch geht das Beitrags- und Vergütungssystem des SGB V im Grundsatz von einem entsprechenden Freiwerden der Krankenkassen von ihren Leistungspflichten aus. Darauf ist auch das Beitragssystem der Beklagten ausgerichtet, so dass nachträgliche Leistungsanforderungen in dieses System nicht eingliederbar sind.
Hieraus erwächst jedoch kein Schutz vor einer Zahlungspflicht gem. § 105 SGB X, dessen tatbestandliche Voraussetzungen im Falle des TM vorliegend erfüllt sind. Der Gesetzgeber hat keine Ausnahmeregelung vorgesehen, ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung ist daher nicht möglich.
Auf die Berufung der Klägerin ist daher die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG, § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Streitwert entspricht sowohl der erstinstanzlichen Festsetzung als auch der Höhe der strittigen Forderung, §§ 51, 42 GKG.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Musterverfahrens zugelassen, § 160 SGG.

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