Bankrecht

Treuwidriger Widerspruch des Versicherungsnehmers einer im sog. Policenmodell abgeschlossenen fondsgebundenen Lebensversicherung

Aktenzeichen  25 U 5829/20

Datum:
1.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 33678
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG aF § 5a
BGB § 242, § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1
ZPO § 138 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Spricht nach der Lebenserfahrung viel dafür, dass der Versicherer einer im sog. Policenmodell abgeschlossenen Lebensversicherung das die Widerspruchsbelehrung enthaltene Policenbegleitschreiben mit der Police und den Verbraucherinformationen versandt hat und hat der Versicherungsnehmer nicht dargetan, dass er sich ausreichend darum bemüht hat, zu erkunden ob das Policenbegleitschreiben ihm zugegangen ist, kann er den Erhalt des Policenbegleitschreibens nicht prozessual zulässig mit Nichtwissen bestreiten. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Rahmen der Prüfung, ob die Berufung auf das Widerspruchsrecht rechtsmissbräuchlich ist, ist auch zu berücksichtigen, welche Zielsetzung der Versicherungsnehmer durch den Widerspruch verfolgt. Das gesetzlich eingeräumte Widerspruchsrecht soll den Versicherungsnehmer vor übereilten Abschlüssen schützen, nicht aber ihm ermöglichen, mit dem nachträglichen Wissensvorsprung der für den Ertrag der Kapitalanlage wesentlichen Faktoren seine Entscheidung rückgängig zu machen und dadurch Verluste zu minimieren oder eine Rendite zu erzielen oder zu erhöhen (unter Hinweis auf EuGH BeckRS 2019, 32142 Rn. 120 – “Rust-Hackner”). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

26 O 18553/19 2020-09-10 Endurteil LGMUENCHENI LG München I

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 10.09.2020, Az. 26 O 18553/19, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

Nach einstimmiger Auffassung des Senats hat das Landgericht die Klage – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Berufungsschrift – zu Recht abgewiesen.
1. Der Berücksichtigung des erstmals in der Berufungsinstanz erfolgten Sachvortrages, der Versicherungsschein sei nicht dem Kläger, sondern dessen Makler U. S. zugesandt worden und des entsprechenden Beweisangebots, steht § 531 ZPO entgegen; es hätte Veranlassung bestanden, das – nachdem die Beklagte Beweis durch Einvernahme des Zeugen F. angeboten hatte und das Landgericht diesen Zeugen geladen hatte – dem Landgericht rechtzeitig vor dem Termin vorzutragen und den Zeugen S. gegenbeweislich anzubieten. Wenn der Vortrag des Klägers zutrifft, dass er den Versicherungsschein über seinen Makler erhalten hatte, dann hat sich das für ihn nicht nachträglich herausgestellt.
2. Lässt man den neu in der Berufungsinstanz vorgetragenen Sachverhalt und das neu in der Berufungsinstanz angebotene Beweismittel außer acht, so steht dem Kläger kein bereicherungsrechtlicher Rückabwicklungsanspruch zu.
2.1. Die Widerspruchsbelehrung auf dem Policenbegleitschreiben (Muster Anlage B 1) ist ordnungsgemäß; sie entspricht § 5a VVG in der Fassung vom 13.7.2001 und ist weder von der drucktechnischen Gestaltung noch vom Inhalt her zu beanstanden (vgl. z.B. Senat, Beschluss vom 20.04.2015 – Az. 25 U 4040/14 – der Bundesgerichtshof hat die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss mit Beschluss vom 11.11.2015 – Az. IV ZR 264/15 zurückgewiesen).
2.2. Der Kläger gesteht zu, sich an die bei Vertragsschluss übersandten Unterlagen nicht mehr erinnern zu können (Bl. 53,54 d.A.). Da er den Zugang des Policenbegleitschreibens trotzdem bestreitet, handelt es sich um ein Bestreiten mit Nichtwissen. Ein solches Bestreiten mit Nichtwissen ist allerdings prozessual unzulässig und führt dazu, dass die Behauptung der Beklagten zum Zugang als unstreitig anzusehen ist. Im Einzelnen:
Einer Partei ist es grundsätzlich gemäß § 138 Abs. 4 ZPO verwehrt, eigene Handlungen und Wahrnehmungen mit Nichtwissen zu bestreiten. Nur ausnahmsweise kommt ein Bestreiten eigener Handlungen und Wahrnehmungen dann in Betracht, wenn die Partei nach der Lebenserfahrung glaubhaft macht, sich an gewisse Vorgänge nicht mehr erinnern zu können. Die bloße Behauptung, sich nicht zu erinnern, reicht indessen nicht aus (BGH, Urteil vom 28.09.2016 – Az. IV ZR 41/14, VersR 2016,1483; BGH, Beschluss vom 07.11.2007 – Az. IV ZR 149/04; BGH, Urteil vom 10.10.1994 – Az. II ZR 95/93; OLG Naumburg, Urteil vom 14.02.2013 – Az. 4 U 63/12, Senat, Beschluss vom 22.10.2020 – Az. 25 U 3434/20).
An die Glaubhaftmachung sind zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht die im Rahmen des § 294 ZPO geltenden Maßstäbe anzulegen, sie ist jedoch im Sinne einer nach der Lebenserfahrung anzunehmenden Plausibilität zu verstehen. Ein behauptetes Vergessen dürfte danach glaubhaft sein, wenn ein langer Zeitraum verstrichen ist und die behaupteten Ereignisse keine besondere Originalität und Einzigartigkeit aufwiesen, eine Vernichtung oder ein Fehlen von Unterlagen, sofern ein vernünftig und besonnen Handelnder in der Position der Partei die Unterlagen nicht aufbewahrt oder entsorgt hätte.
Auch unter Zugrundelegung der über den Wortlaut des § 138 Abs. 4 ZPO hinausgehenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist jedenfalls vorliegend ein Bestreiten mit Nichtwissen nicht zulässig. Nach der Lebenserfahrung (und nach der vom Zeugen F. geschilderten, auch senatsbekannten allgemeinen Vorgehensweise zur automatisierten gemeinsamen Erstellung und zum gemeinsamen Ausdruck der Policen, der Verbraucherinformationen und der Begleitschreiben, insbesondere auch der Bestätigung, dass sich aus dem EDV System ergibt, dass ein Policenbegleitschreiben erstellt wurde und ohne Auffälligkeiten an den Kläger – A. B., B.weg 14, … H. – versandt wurde) spricht viel dafür, dass die Beklagte das Policenbegleitschreiben mit der für den Versicherungsnehmer wichtigen Information zum Widerspruchsrecht mit der Police und den Verbraucherinformationen versandt hat, so dass bereits äußerst unwahrscheinlich ist, dass der Kläger das Schreiben nicht erhalten hat. Der Kläger hat nicht dargetan, dass er sich ausreichend darum bemüht hat, zu erkunden ob das Policenbegleitschreiben ihm zugegangen ist. Substantiiert wäre insoweit vorzutragen, wo die von der Versicherung übersandten Unterlagen aufbewahrt wurden, wer Zugang hatte, ob sich der Aufbewahrungsort geändert hat, welche Möglichkeiten einer falschen Einordnung der Unterlagen es gegeben haben könnte, welche konkreten Bemühungen der Kläger unternommen hat, nach dem Verbleib der Unterlagen zu forschen und was das Ergebnis war. Den Erhalt des Policenbegleitschreibens kann die Klagepartei daher nicht mit Nichtwissen bestreiten. Bestreitet eine Partei unzulässig mit Nichtwissen, führt das dazu, dass der Vortrag des Gegners gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt (vgl. BGH, Urteil vom 23.7.2019 – Az. VI ZR 337/18, NJW 2019, 3788; BGH, Urteil vom 22.04.2016 – Az. V ZR 256/14, BeckRS 2016, 12559; BGH, Urteil vom 19. 4. 2001 – I ZR 238/98; BGH, Urteil vom 10.10.1994 – Az. II ZR 95/93).
2.3. Im Übrigen wäre – auch bei einem zulässigen Bestreiten – die Beweiswürdigung des Landgerichts überzeugend, zutreffend und bindend, § 529 Abs. 1 ZPO. Dass auf der 3. Seite des vom Kläger in Kopie vorgelegten Lebensversicherungsvertrages im oberen Bereich die Adresse des Klägers abgedruckt ist, weckt keine Zweifel an der Beweiswürdigung des Landgerichts. Der Richter darf und muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 06.05.2015 – VIII ZR 161/14, NJW 2015, 2111; OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 29.03.2017 – Az.12 U 193/15). Angesichts der Angaben des Zeugen F. – der Kläger selbst gibt an, keine ausreichende Erinnerung zu haben – ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Beklagte das Begleitschreiben nicht mit versandt hat; die rein theoretisch bestehende Möglichkeit, dass der durch Ösen zusammengeheftete Versicherungsschein so aufgeschlagen kuvertiert wurde, dass sich die 3. Seite mit der Adressangabe oben befand und so eine Versendung ohne Begleitschreiben möglich wurde, ist insbesondere auch unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen F. so unwahrscheinlich, dass sie nicht zu Zweifeln an der Beweiswürdigung führt.
2.4. Unabhängig von einer europarechtlich ggfs. zweifelhaften Zulässigkeit des Policenmodells (vgl. hierzu: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 02.02.2015 – 2 BvR 2437/14) ist es der Klagepartei jedenfalls nach Treu und Glauben wegen widersprüchlicher Rechtsausübung verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrages auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Bereicherungsansprüche herzuleiten.
Der Klagepartei wurde eine ordnungsgemäße Widerspruchsbelehrung erteilt. Sie erhielt die erforderlichen Verbraucherinformationen. Der Widerspruch wurde über 14 Jahre nach Vertragsschluss erklärt. Der Vertrag wurde über einen Zeitraum von ca. 9 Jahren durchgeführt.
Der Senat schließt sich in ständiger Rechtsprechung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (z. B. BGH, Urteil vom 24. Juni 2020 – Az. IV ZR 275/19; BGH, Urteil vom 16.07.2014 – Az. IV ZR 73/13, VersR 2014,1065; Entscheidungen vom 08.03.2017 – Az. IV ZR 98/16, 10.06.2015 – Az. IV ZR 105/13, VersR 2015,876, vom 17.08.2015 – Az. IV ZR 310/14 und vom 16.09.2015 – Az. IV ZR 142/13, BeckRS 2015, 16559), bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht (Entscheidung vom 02.02.2015 – Az. 2 BvR 2437/14, VersR 2015, 693; Beschluss vom 04.03.2015 – Az. 1 BvR 3280/14; Beschluss vom 23.05.2016 – Az. 1 BvR 2230/15 und 1 BvR 2231/15) an, dass ein Bereicherungsanspruch des Versicherungsnehmers – bei ordnungsgemäßer Widerspruchsbelehrung und längerer Durchführung des Vertrages – schon wegen widersprüchlichen Verhaltens ausgeschlossen ist (vgl. z.B. Urteil vom 29.05.2020 – Az. 25 U 6057/19; Beschluss vom 11.01.2018 – Az. 25 U 3916/17; Beschlüsse vom 22.11.2017 – Az. 25 U 4262/16, 18.07.2017 – Az. 25 U 1934/17, 20.04.2015 – Az. 25 U 237/15, vom 01.06.2015 – Az. 25 U 3379/14, vom 15.06.2015 – Az. 25 U 812/15, Endurteile vom 28.08.2015 – Az. 25 U 1671/14 und 25 U 1931/14). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Der Vertrag wurde im Jahr 2004 abgeschlossen, die Klagepartei hat die vereinbarten Prämien für die Zeit vom 01.04.2004 bis zur Kündigung im Mai 2013 bezahlt bzw. mittels einer Einzugsermächtigung abbuchen lassen; 2013 hat der Kläger sich den vertraglich vereinbarten Rückkaufswert auszahlen lassen; den Widerspruch hat er erst 2018 erklärt. Die Versicherungsgesellschaft nahm die Prämien entgegen und ging erkennbar von einem bestehenden Versicherungsvertrag aus. Daher konnte die Klagepartei bis zur Kündigung erwarten, Versicherungsschutz zu genießen, der zweifelsfrei bei Eintritt eines Versicherungsfalls in Anspruch genommen worden wäre. Durch das Verhalten der Klagepartei wurde bei dem Versicherer auch schutzwürdiges Vertrauen auf die Beständigkeit der vertraglichen Bindung begründet. Die Versicherungsgesellschaft muss sich grundsätzlich für ihre gesamte Kalkulation – insbesondere in Hinblick auf Rückstellungen für die Überschussbeteiligung – darauf verlassen können, dass langfristig angelegte Vertragsbeziehungen nicht plötzlich nach vielen Jahren rückabgewickelt werden müssen. Daneben ist außerdem das Vertrauen des Versicherers in den grundsätzlichen Bestand des vom deutschen Gesetzgeber gesetzten Rechts – auch bei etwaigen Zweifeln an der Europarechtskonformität – schutzwürdig und entsprechend zu berücksichtigen.
3. Selbst bei unterstelltem Fehlen des Policenbegleitschreibens würde der Senat im vorliegenden Fall von einem Rechtsmissbrauch ausgehen. In diesem Fall hätte die Beklagte den Kläger zwar bei Vertragsschluss nicht drucktechnisch hervorgehoben, aber immerhin in den Allgemeinen Bedingungen inhaltlich zutreffend über sein Widerspruchsrecht belehrt. Aus dem übersichtlichen Inhaltsverzeichnis zum Versicherungsschein ergibt sich, dass die Belehrung sich auf S. 27 befindet. Die Belehrung unter § 3 der Allgemeinen Bedingungen für die Fondsgebundene Lebensversicherung ist inhaltlich nicht zu beanstanden. Der Kläger hat erst 14 Jahre nach Vertragsschluss und ca. 5 Jahre nach Vertragsabwicklung widersprochen. Im Einzelnen:
Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob eine Rechtsausübung rechtsmissbräuchlich ist. Die Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall obliegt der tatrichterlichen Beurteilung (BGH, Urteil vom 26.09.2018 – Az. IV ZR 304/15, Rn. 23; BGH, Urteil vom 01.06.2016 – IV ZR 482/14, NJOZ 2016, 1370; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30.05.2018 – Az. 12 U 14/18; BGH, Hinweisbeschluss vom 27.9.2017 – Az. IV ZR 506/15, NJW-RR 2018, 161; BGH, Beschluss vom 11.11.2015 – Az. IV ZR 117/15; vgl. auch BGH, Beschluss vom 23.01.2018 – Az. XI ZR 298/17, Rn. 9, juris, zu Verbraucherkreditverträgen; Senat, Urteil vom 31.08.2018 – Az. 25 U 607/18 – die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen; OLG Hamm, Beschluss vom 20.03.2019 – Az. 20 U 15/19, VersR 2019, 1133).
Grundsätzlich kann der Versicherer bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen, da er die Situation selbst herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 26.09.2018 – Az. IV ZR 304/15; BGH, Urteil vom 01.06.2016 – Az. IV ZR 343/15). Die Annahme eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens kommt allerdings auch bei nicht ordnungsgemäßer Belehrung in Betracht (BGH, Beschlüsse vom 27.01.2016 und vom 22.03.2016 – Az. IV ZR 130/15; BGH, Beschlüsse vom 11.11.2015 und 13.01.2016 – Az. IV ZR 117/15, BeckRS 2016, 02174, NJW 2016, 375; BGH, Urteil vom 29.07.2015 – Az. IV ZR 384/14, r+s 2015, 435: offengelassen für nur marginale Fehler in der Widerspruchsbelehrung; Senat, Urteil vom 31.08.2018 – Az. 25 U 607/18 – die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen; Senat, Beschlüsse vom 18.06.2019 und 23.09.2019 – Az. 25 U 737/19 – die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 28.10.2020 unter dem Az. IV ZR IV ZR 272/19 zurückgewiesen; Senat, Beschluss vom 22.11.2018 – Az. 25 U 3563/17 – die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss wurde vom BGH am 26.06.2019 unter Az. IV ZR 297/18 zurückgewiesen; OLG Hamm, Urteil vom 13.01.2017 – Az. 20 U 159/16 – die Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BGH am 06.12.2017 unter Az. IV ZR 51/17 zurückgewiesen; OLG Brandenburg, Urteil vom 12.08.2019 – Az. 11 U 95/18, NJW-RR 2019,1443 OLG Hamm, Beschluss vom 20.03.2019 – Az. 20 U 15/19, VersR 2019, 1133; OLG Hamm, Beschluss vom 19.09.2018 -Az. I -20 U 102/18; OLG Karlsruhe, Urteil vom 30.05.2018 – Az. 12 U 14/18; OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.12.2016 – Az. 12 U 137/16; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24.10.2016 – Az. I-4 U 131/16; KG, Urteil vom 12.04.2016 – Az. 6 U 102/15 – rechtskräftig; OLG Köln, Urteil vom 26.02.2016 – Az. 20 U 178/15; OLG Dresden, Beschluss vom 20.08.2018 – Az.4 U 644/18; OLG Dresden, Urteil vom 26.08.2015 – Az. 7 U 146/15, VersR 2015,1498; OLG Frankfurt/Main, Urteil vom 19.10.2015 – Az. 3 U 49/15; OLG Stuttgart, Urteil vom 06.11.2014 – Az. 7 U 147/10 – VersR 2015, 878; LG Wiesbaden, Urteil vom 12.02.2015 – Az. 9 O 116/14, bestätigt durch OLG Frankfurt/Main, Urteil vom 19.11.2015 – Az. 3 U 49/15).
Unredliche Absichten oder ein Verschulden sind für die Annahme von unzulässiger Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens nicht erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 16.07.2014, Az. IV ZR 73/13). Erforderlich ist, dass gravierende Umstände vorliegen.
Vorliegend veranlassen folgende – im Rahmen einer Gesamtbetrachtung als besonders gravierend anzusehende – Umstände den Senat, davon auszugehen, dass sich die Klagepartei rechtsmissbräuchlich auf ihr Widerspruchsrecht beruft:
3.1. Der Widerspruch erfolgte sehr lange Zeit, nämlich über 14 Jahre nach Vertragsschluss (nach der aktuellen gesetzlichen Regelung, deren Wertung auch in die Beurteilung der Frage, ob treuwidriges Verhalten vorliegt, miteinzubeziehen ist, kann selbst bei arglistigem Verhalten eines Vertragspartners oder widerrechtlicher Drohung nach Ablauf von 10 Jahren eine Anfechtung nicht mehr erfolgen, bei einer Täuschung auch dann, wenn der Getäuschte von den Umständen der Täuschung keine Kenntnis hatte – § 124 Abs. 3 BGB; diese Wertung kann ohne Weiteres für die Frage herangezogen werden, wie stark das Zeitmoment ins Gewicht fällt und welche Anforderungen an das Umstandsmoment zu stellen sind; der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – Urteil vom 01.06.2016 – Az. IV ZR 482/14, Urteil vom 11.11.2015 – Az. IV ZR 513/14, Urteil vom 29.07.2015 – Az. IV ZR 448/14 kann nichts Gegenteiliges entnommen werden: aus diesen Entscheidungen ergibt sich nur, dass nicht immer dann, wenn die 10 – Jahresfrist verstrichen ist, das Vertragslösungsrecht verwirkt ist, nicht aber dass die Zeitdauer und die gesetzlichen Wertungen hierzu im Rahmen der Gesamtabwägung nicht berücksichtigt werden dürften).
Je länger der Zeitablauf bis zur Ausübung des Widerspruchsrechts ist, umso höher ist das schutzwürdige Vertrauen des Vertragspartners in den Bestand des Vertrages und umso mehr Gewicht erhält dieses Vertrauen, während umgekehrt der gesetzliche Schutzzweck für die Einräumung des Widerspruchsrechts, dem Vertrag (in zeitlichem Zusammenhang mit seinem Abschluss) widersprechen zu können, mit zunehmendem Zeitablauf immer mehr verblasst und in den Hintergrund tritt. Der Bundesgerichtshof hat zur Frage der (einen Unterfall des Rechtsmissbrauchs darstellenden) Verwirkung entschieden: Zwischen diesen Umständen und dem erforderlichen Zeitablauf besteht eine Wechselwirkung insofern, als der Zeitablauf umso kürzer sein kann, je gravierender die sonstigen Umstände sind, und dass umgekehrt an diese Umstände desto geringere Anforderungen gestellt werden, je länger der abgelaufene Zeitraum ist (BGH, Urteil vom 19. 10. 2005 – Az. XII ZR 224/03, NJW 2006, 219, vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Januar 2018 – Az. XI ZR 298/17 -, juris Rn. 9).
Sofern – wie im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung noch besondere Umstände vorhanden sein müssen, damit sich die Ausübung des Widerspruchsrechts als rechtsmissbräuchlich darstellt, müssen diese Umstände mit zunehmendem Zeitablauf weniger ausgeprägt sein als bei bloß kurzem Zeitablauf, wobei – da auch der Fehler des Versicherers zu berücksichtigen ist – sie dennoch in der Gesamtbetrachtung gravierend sein müssen.
3.2. Folgende Umstände begründen hier die Annahme eines Rechtsmissbrauchs:.
Wie dargestellt war die Belehrung inhaltlich richtig, bei unterstellter Nichtübersendung des Policenbegleitschreibens allerdings drucktechnisch nicht ausreichend hervorgehoben.
Der Versicherer hat sich aber ersichtlich darum bemüht, die Klagepartei ausreichend deutlich zu belehren; er hat nicht versucht, die Belehrung in einem größeren Text zu verstecken und damit eine Kenntnis des Versicherungsnehmers von seinem Recht, sich durch einseitige Erklärung vom Vertrag zu lösen zu verhindern. Zudem war auch das System bei der Beklagten darauf ausgelegt, dass das Policenbegleitschreiben mit der unübersehbaren Belehrung mit der Police ausgedruckt wird. Schließlich hat die Beklagte den Kläger – vom Kläger zugestanden (Bl. 54 d.A.) – nachbelehrt; trotzdem hat der Kläger jahrelang zugewartet, bis er widersprochen hat.
Der Kläger hat über 9 Jahre Versicherungsschutz genossen, der zweifelsfrei bei Eintritt eines Versicherungsfalls in Anspruch genommen worden wäre. Das Geltendmachen eines Formmangels kann eine unzulässige Rechtsausübung sein, wenn eine Partei, die längere Zeit aus einem formnichtigen Vertrag – auch mittelbare – Vorteile gezogen hat, sich unter Berufung auf den Formmangel vertraglichen Verpflichtungen entziehen will (BGH, Urteil vom 23. 10. 2001 – Az. XI ZR 63/01, NJW 2002, 368 unter II.3., beck-online; BGH, Urteil vom 26. 5. 1999 – Az. VIII ZR 141/98, NJW 1999, 2664; BGH, Urteil vom 28.01.1993 – Az. IX ZR 259/91, NJW 1993, 1126; BGH, Urteil vom 28. 11. 1957 – Az. VII ZR 42/57, NJW 1958, 217; Schimansky/Bunte/Lwowski, BankR-HdB, 3. Abschnitt. Einlagen- und Kreditgeschäft 16. Kapitel. Kreditvertrag § 81 Verbraucherdarlehensrecht Rn. 385, beck-online m.w.N.; vgl. auch Peters WM 2020,1395 zu Fällen in denen Widerrufsberechtigte aus dem Vertrag Vorteile gezogen haben). Dieser Rechtsgedanke gilt entsprechend für die vorliegende Konstellation, bei der die Klagepartei sich auf eine formal unzureichende Belehrung beruft und daraus ein ewiges Widerspruchsrecht herleiten will, obwohl sie den Vertrag sehr lange Zeit durchgeführt hat und die Vorteile des Vertrages in Anspruch genommen hat.
Der Vertrag wurde im Jahr 2013 von der Klagepartei gekündigt und abgewickelt; die Klagepartei hat sich den vereinbarten Wert auszahlen lassen und dann noch bis Juni 2018 gewartet, bis sie den Widerspruch erklärt hat. Zwar schließt eine Kündigung und eine darauf folgende einvernehmliche Auszahlung des Rückkaufswertes einer Lebensversicherung – wenn der Versicherungsnehmer nicht ausreichend belehrt wurde oder auf andere Weise Kenntnis von seinem Widerspruchsrecht/Widerrufsrecht hatte – den späteren Widerspruch/Widerruf des Vertrages nicht aus (BGH, Urteil vom 13.09.2017 – Az. IV ZR 445/14, zfs 2017, 629; BGH, Urteil vom 17.05.2017 – Az. IV ZR 499/14; BGH, Entscheidung vom 16.10.2013 – Az. IV ZR 52/12). Das verbietet aber nicht, die einvernehmliche Vertragsabwicklung bei der Würdigung, ob die Ausübung des Widerspruchsrechts im Einzelfall rechtsmissbräuchlich ist, zu berücksichtigen. Der Zeitablauf zwischen Kündigung und Widerspruch ist in die Bewertung miteinzubeziehen. Für Verbraucherdarlehensverträge hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die maßgebliche Frist für das Zeitmoment mit dem Zustandekommen des Verbraucherdarlehensvertrags anläuft, dagegen der Zeitraum zwischen der (einvernehmlichen – im entschiedenen Fall vorzeitigen) Beendigung des Verbraucherdarlehensvertrags und dem Widerruf nicht (nur) das Zeit-, sondern das Umstandsmoment betrifft; hierbei kann gerade bei beendeten Verbraucherdarlehensverträgen das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs schutzwürdig sein, auch wenn die von ihm erteilte Widerrufsbelehrung ursprünglich den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprach und er es in der Folgezeit versäumt hat, den Verbraucher nachzubelehren (BGH, Beschluss vom 23.01.2018 – Az. XI ZR 298/17, BeckRS 2018, 3224). Eine solche Konstellation ist vorliegend aufgrund der langjährigen Vertragsdurchführung, der erfolgten einvernehmlichen Abwicklung und des langen Zeitraums zwischen Abwicklung und Widerspruch gegeben (ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 31.08.2018 – Az. 25 U 607/18 – die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen). Die Beklagte konnte insbesondere auch nach Ablauf der regulären Verjährungsfrist erwarten, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden.
Vorliegend versucht der Kläger durch Ausübung des Widerspruchsrechts lediglich die Rendite zu seinen Gunsten zu verändern. Die Ausnutzung einer formalen Rechtsposition ist rechtsmissbräuchlich, wenn ein schutzwürdiges Eigeninteresse fehlt; erforderlich ist eine umfassende Bewertung der gesamten Fallumstände unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten (OLG Frankfurt a. M. Urt. v. 3.7.2019 – Az. 23 U 66/18, BeckRS 2019, 29605; OLG Schleswig Urt. v. 31.3.2016 – Az. 5 U 188/15, BeckRS 2016, 118384; Grüneberg in Palandt, 79. Auflage 2020, § 242 BGB Rn. 50: Rechtsausübung zur Erreichung vertragsfremder oder unlauterer Zwecke). Im Rahmen der Prüfung, ob die Berufung auf das Widerspruchsrecht rechtsmissbräuchlich ist, ist – wie dargelegt – u.a. auch zu berücksichtigen, welche Zielsetzung durch den Widerspruch verfolgt wird. Das gesetzlich eingeräumte Widerspruchsrecht soll den Versicherungsnehmer vor übereilten Abschlüssen schützen (Schutz vor einem Abschluss ohne ausreichende Information über den Inhalt des Vertrages), nicht aber dem Versicherungsnehmer ermöglichen, mit dem nachträglichen Wissensvorsprung der für den Ertrag der Kapitalanlage wesentlichen Faktoren seine Entscheidung rückgängig zu machen und dadurch Verluste zu minimieren oder eine Rendite zu erzielen oder zu erhöhen(ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 31.08.2018 – Az. 25 U 607/18 zur beabsichtigten Renditeerhöhung – die Nichtzulassungsbeschwerde hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 03.06.2020 unter dem Az. IV ZR 214/18 zurückgewiesen). Das entspricht auch der Rechtsauffassung des EuGH: „Bei der Beurteilung der Bedürfnisse des Versicherungsnehmers ist jedoch auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Vorteile, die der Versicherungsnehmer aus einem verspäteten Rücktritt ziehen könnte, bleiben außer Betracht. Ein solcher Rücktritt würde nämlich nicht dazu dienen, die Wahlfreiheit des Versicherungsnehmers zu schützen, sondern dazu, ihm eine höhere Rendite zu ermöglichen oder gar auf die Differenz zwischen der effektiven Rendite des Vertrags und dem Satz der Vergütungszinsen zu spekulieren.“ (EuGH,Urteil vom 19.12. 2019 – Az. C-355/18, C- 356/18 und C-357/18, NJW 2020, 667, beck-online Rn. 120 zum österreichischen Recht in dem Vergütungszinsen anstelle von Nutzungsherausgabe bestimmt ist). Nach Auffassung der Generalsanwältin beim EuGH in den Schlussanträgen vom 11.07.2019 zu den Verfahren C-355/18, C- 356/18 und C-357/18 steht es dem nationalen Richter frei, einem nicht zu leugnenden Missbrauchsrisiko (besonders bei fondsgebundenen Lebensversicherungsverträgen) im Einzelfall Rechnung zu tragen und den mit dem Rücktritt konkret verfolgten Zweck hinreichend zu würdigen (Generalanwalt beim EuGH Schlussantrag v. 11.7.2019 – C-355/18, BeckRS 2019, 14135). Der Versicherungsnehmer einer fondsgebundenen Lebensversicherungen hat nach der ursprünglichen Vereinbarung mit Gewinnchancen, aber auch mit Verlustrisiken zu rechnen; für diese Art der Anlage hat er sich entschieden. Mit der jetzigen Ausübung des Widerspruchsrechts versucht die Klagepartei, ihre Entscheidung rückgängig zu machen und mit dem nachträglichen Wissensvorsprung der für den Ertrag der Kapitalanlage wesentlichen Faktoren ihre Rendite zu erhöhen; die Ausübung des Widerspruchsrechts trägt also hier nicht dem ursprünglichen Zweck der Einräumung des Rechts Rechnung, sondern zielt auf der Basis nachfolgender Erkenntnisse auf eine Erhöhung der Rendite zu Lasten der anderen Versicherungsnehmer ab. Die gesetzgeberische Zielsetzung ist nach über 14 Jahren ohnehin nicht mehr erreichbar.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum 25 U 5829/20 – Seite 9 – GKG).


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