Baurecht

Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften nur bei atypischer Situation

Aktenzeichen  2 ZB 16.2067

Datum:
31.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1343
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 63 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 S. 1 BayBO von Abstandsflächenvorschriften setzen Gründe voraus, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Insoweit muss es sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. (Rn. 2 – 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. In besonderen städtebaulichen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch die Zulassung einer Abweichung rechtfertigen. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 8 K 15.460 2016-05-09 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Beigeladenen auf Zulassung der Berufung (§§ 124, 124a Abs. 4 VwGO) hat keinen Erfolg. Der geltend gemachten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils vom 9. Mai 2016 liegt nicht vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Senat teilt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 7. Januar 2015 rechtswidrig ist und die Klägerin hierdurch in ihren drittschützenden Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Entgegen der Auffassung der Beigeladenen liegt keine atypische Situation vor. Die seitens der Beigeladenen geforderte Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO von den Anforderungen der Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO kann mangels einer atypischen Fallgestaltung nicht zugelassen werden.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Zulassung einer Abweichung Gründe erfordert, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2002 – 2 CS 01.5 – juris; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.530 – juris; U.v. 9.11.2017 – 2 B 17.1742 – juris). Insoweit muss es sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln. Bei der Zulassung einer Abweichung ist eine atypische Situation zu fordern. In besonderen städtebaulichen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch die Zulassung einer Abweichung rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris; U.v. 19.3.2013 – 2 B 13.99 – BayVBl 2013, 729). Soll auch in diesem Bereich eine zeitgemäße, den Wohnbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man im Einzelfall nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris; B.v. 15.10.2014 – 2 ZB 13.503 – juris).
Zuzugestehen ist der Beigeladenen, dass der an der östlichen Fassade des geplanten Baukörpers vorgesehene dreieckige Vorsprung nicht unter dem Gesichtspunkt der für die Erteilung einer Abweichung erforderlichen Atypik problematisch ist, weil die Frage, ob der jeweilige Baukörper in seiner konkreten baulichen Ausgestaltung durch die Erteilung einer Abweichung zugelassen werden kann, wohl im Rahmen der Frage zu prüfen ist, ob die Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten Nachbarinteressen vereinbar ist. Dieser Gesichtspunkt begründet jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, da das Erstgericht diesen Gesichtspunkt lediglich zusätzlich für die Verneinung der Atypik herangezogen hat.
Die Beigeladene nimmt im Hinblick auf die maßgeblichen Grundstücksgrenzen eine atypische Situation an. Die Situation sei entgegen dem Normalfall parallel zueinander liegender Grundstücksgrenzen geprägt durch einen verwinkelten und kleinteiligen Verlauf der jeweiligen Grundstücksgrenzen im südöstlichen Eck des inmitten stehenden Straßengevierts.
Der Verlauf der Grundstücksgrenzen führt im vorliegenden Fall zu keiner Atypik. Zunächst verläuft die Grenze zwischen dem klägerischen und dem Vorhabengrundstück senkrecht zur Straßenlinie, an der die beiden Häuser aneinandergebaut sind und geradlinig ins Geviertinnere. Die Grenze des Vorhabengrundstücks knickt erst außerhalb des klägerischen Grundstückbereichs im Bereich des nordöstlichen Nachbargrundstücks FlNr. 110/15, G.-straße 4, ab. Die schräg verlaufenden Grundstücksgrenzen zwischen dem nördlichen Grundstück mit der FlNr. 110/15 und dem Vorhabengrundstück haben keinen Einfluss auf die grundsätzliche bauliche Nutzbarkeit des Vorhabengrundstücks. Es ist im Wesentlichen rechteckig und durchschnittlich groß (ca. 24 m breit und ca. 36 m tief). Damit kann auf dem nördlichen Teil mit einer Tiefe von über 20 m und einer Breite von knapp 25 m auch unter Einhaltung der Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück ein rückwärtiger Anbau errichtet werden. Ob, wie das Verwaltungsgericht andeutet, gegebenenfalls wegen der schräg verlaufenden Grundstücksgrenze eine Abweichung zu Lasten des Grundstücks G.-straße 4, FlNr. 110/15 in Frage käme, ist offen und wegen der grundsätzlich fehlenden Atypik zweifelhaft.
Wegen der fehlenden Atypik kommt es auf die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der öffentlich-rechtlichen geschützten Nachbarinteressen nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.


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