Baurecht

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Nachbarklage gegen Baugenehmigung, Rechtschutzbedürfnis bei fertiggestelltem Rohbau, Abstandsflächen, Treppenanlage

Aktenzeichen  RO 7 S 21.1765

Datum:
11.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42570
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO i.V.m. § 80a Abs. 3
VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3
BauGB § 212a Abs. 1
BayBO Art. 59 S. 1
BayBO Art. 6

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen den Bescheid vom 13.7.2021 in der Fassung des Bescheids vom 10.9.2021 (Az. RO 7 K 12.1469 und RO 7 K 21.1930) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtschutzes gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses.
Die Antragsteller sind Eigentümer der Grundstücke Fl. Nrn. 937/32 und 937/16 der Gemarkung H1.(ebenso alle nachfolgend genannten Flurnummern). Das Grundstück Fl. Nr. 937/16 grenzt nördlich des Vorhabengrundstücks Fl. Nr. 937/5 an. Sowohl die Grundstücke der Antragsteller als auch das Vorhabengrundstück der Beigeladenen liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „H2 … i. T.“ der Antragsgegnerin vom 17.9.1969, der u.a. textliche Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, zur Dachneigung und Dacheindeckung und zu Abstandsflächen enthält.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.9.2020 (Az. III/342/B-2020-64) wurde der Beigeladenen eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses mit Garagenstellplätzen auf dem Grundstück Fl.-Nr. 937/5 erteilt. Die Antragsteller haben am 24.9.2020 Klage gegen den Bescheid vom 10.9.2020 erheben lassen (Az. RO 7 K 20.2337), über die noch nicht entschieden wurde. Mit Schriftsatz vom 7.10.2020 haben die Antragsteller um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht, woraufhin das Verwaltungsgericht Regensburg mit Beschluss vom 17.11.2020 (Az. RO 7 S 20.2454) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10.9.2020 anordnete.
Mit Formblattantrag vom 18.1.2021 stellte die Beigeladene einen „Änderungsantrag zum genehmigten Verfahren B-2020-64 mit Genehmigungsdatum vom 10.9.2020“ für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit Garagenstellplätzen. In der Bauakte sind Anträge auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes betreffend die Baugrenze, die Gebäudehöhe sowie die Geschossigkeit enthalten. Des Weiteren sind ein Antrag auf Abweichung hinsichtlich Art. 6 BayBO und drei Eingabepläne beigefügt.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 13.7.2021 (Az. III/342/B-2021-10) wurde für das Bauvorhaben auf der Fl. Nr. 937/5 das natürliche Gelände im Lot unterhalb des nördlichen Firstes des Satteldaches auf 510,39 m über Normalnull festgesetzt (Ziffer 1) und die baurechtliche Genehmigung entsprechend den mit Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen erteilt (Ziffer 2). Von den Festsetzungen des Bebauungsplans wurden Befreiungen von den Nummern 2, 3 und 8 erteilt (Ziffer 4): hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze durch das Wohnhaus ostseitig und südseitig um 504 m² (Ziffer 4.1), hinsichtlich der Änderung der Dachneigung (20° statt 23-26°) (Ziffer 4.2), hinsichtlich der Änderung der vorgeschriebenen Dachfarbe (anthrazit statt rot) (Ziffer 4.3), hinsichtlich der Änderung der Bebauung (III+ U statt E+U) (Ziffer 4.4) und hinsichtlich der Änderung der vorgeschriebenen Höhenlage (Ziffer 4.5).
In den Gründen des Bescheids wird u.a. ausgeführt, dass dem Ausgangsbescheid vom 10.9.2020 unzutreffende Höhekoten zu Grunde gelegen hätten. Da das ursprüngliche Gelände aufgrund der bereits erfolgten Bautätigkeit nicht mehr ablesbar gewesen sei, sei das natürliche Gelände auf Grundlage der GPS-Daten des Geoinformationssystems des Landesamtes für Digitalisierung, Breitband und Vermessung mit einer Messgenauigkeit von ± 0,2 m sowie den Einwendungen in den Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Regensburg entsprechend festzusetzen. Die Abstandsflächen würden unter Berücksichtigung des festgesetzten Geländes eingehalten. Die Befreiungen von den Festsetzungen Nrn. 2, 3 und 8 Bebauungsplanes hätten nach § 31 Abs. 2 BauGB gewährt werden können. Wenn – wie hier – die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt seien, liege die Erteilung einer Befreiung im pflichtgemäßen Ermessen der Antragsgegnerin. Die Grundzüge der Planung würden nicht berührt und das Bauvorhaben sei aus städtebaulicher Sicht vertretbar. Eine Befreiung sei auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
Gegen den Bescheid vom 13.7.2021 haben die Antragsteller am 22.7.2021 Klage erheben lassen (Az. RO 7 K 21.1469), über die noch nicht entschieden wurde. Am 16.7.2021 hat die Beigeladene um Aufhebung und Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17.11.2020 nachgesucht. Mit Beschluss vom 4.8.2021 hat das Verwaltungsgericht Regensburg festgestellt, dass sich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 10.9.2020 mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 17.11.2020 (Az. RO 7 S 20.2454) nicht auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13.7.2021 erstreckt und den Antrag im Übrigen abgelehnt (Az. RO 7 S 21.1429).
Mit Formblattantrag vom 27.8.2021 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung als Änderungsantrag zum mit Bescheid vom 13.7.2021 genehmigten Verfahren B-2021-10 betreffend eine Veränderung in den Außenanlagen des nördlichen Bereichs.
Am 3.9.2021 haben die Antragsteller gegen den Bescheid vom 13.7.2021 um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht (Az. RO 7 S 21.1765).
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 10.9.2021 (Az. III/342/B-2021-440) wurde für das Bauvorhaben eine baurechtliche Genehmigung entsprechend der mit Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen erteilt (Ziffer 1). Die Auflagen und Hinweise des Erstgenehmigungsbescheides „vom 18.6.2021 [sic!]“ sind weiterhin gültig (Ziffer 2). In den Bescheidsgründen wird u.a. ausgeführt, dass es sich ausschließlich um eine Anpassung der nördlichen Außenanlagen des geplanten Anwesens handle. Diese beinhalte die Verringerung der Höhenlage durch den Entfall einer Treppenstufe vom Untergeschoss des Anwesens in das Erdgeschoss.
Gegen den Bescheid vom 10.9.2021 haben die Antragsteller mit Schriftsatz vom 23.9.2021 Klage erheben lassen (Az. RO 7 K 21.1930), über die noch nicht entschieden wurde. Zugleich haben sie den Genehmigungsbescheid vom 10.9.2021 in das hiesige Antragsverfahren mit einbezogen.
Zur Begründung des Antrages im einstweiligen Rechtschutzverfahren wird im Wesentlichen vorgetragen: Die Festsetzungen des Bebauungsplanes seien in Bezug auf die Baugrenzen und Geschosse nachbarschützend, da der gesamte Planbereich in einer Hanglage liege. Das Bauvorhaben überschreite die Baugrenze und halte die vorgeschriebene Dachneigung, Dachfarbe, Höhenlage und Geschossfestsetzung nicht ein. Auch die Geschossflächenzahl werde überschritten. Die Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes berücksichtigten die nachbarlichen Belange nicht und verletzten mangels Vorliegen einer Atypik die Rechte der Antragsteller. Das Bauvorhaben halte weder die nach dem Bebauungsplan festgesetzte Abstandsfläche von mindestens 4 m noch die gesetzlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO ein. Im Bescheidstenor werde zwar unter Ziffer 4 von der festgesetzten Abstandsfläche eine Befreiung erteilt, es bleibe aber unklar, ob die Stützmauer hiervon betroffen sei. Die Höhenlage, Werte und Berechnungen seien intransparent dargestellt. Die Stützwand an der gemeinsamen Grundstücksgrenze habe eine Höhe von mehr als 2 m, so dass sie abstandsflächenpflichtig sei. Der Gehhilfen- und Fahrradabstellraum halte mit seiner Außenwand zum Grundstück der Antragsteller weder den gesetzlichen Mindestabstand von 3 m noch den festgesetzten Abstand von 4 m ein. Eine analoge Anwendung der Regelung für Garagen komme nicht in Betracht, da das Dach des Fahrradabstellraumes zum Aufenthalt von Menschen als Zugangsfläche und begehbare Terrasse vorgesehen sei. An der Rechtsverletzung ändere auch die Tekturgenehmigung vom 10.9.2021 nichts. Denn jedenfalls sei die Treppenanlage entlang der nördlichen Außenwand abstandsflächenpflichtig. Die Regelung des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO sei nicht eingehalten.
Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen den Bescheid vom 13.7.2021 in der Fassung des Bescheides vom 10.9.2021 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Bei einer erneuten Prüfung der Antragsunterlagen sei festgestellt worden, dass die Absturzsicherung im nördlichen Bereich der Außenanlagen im Erdgeschoss in das Untergeschoss abstandsflächenrelevant sei, nachdem die faktische Höhe von 2,12 m eine Abstandsfläche auslöse. Um die Abstandsfläche nach Norden zu den Antragstellern hin einhalten zu können, sei mit Tekturantrag vom 27.8.2021 die Höhenlage der nördlichen Terrasse um eine Treppenstufe abgesenkt worden. Es sei klarzustellen, dass eine Befreiung von den im Bebauungsplan festgesetzten Abstandsflächen von 4 m nicht notwendig gewesen sei und daher auch nicht erfolgt sei. Die Abstandsflächen des Hauptgebäudes betrügen mindestens 4,30 m. Auch der Abstellbereich für Gehhilfen und Fahrräder im Norden der baulichen Anlage löse keine Abstandsflächen aus. Er sei nur von außen begehbar, kein Teil des Kellergeschosses und kein Aufenthaltsraum mit Feuerstätte mit einer Wandhöhe von weniger als 3 m und einer Gesamtlänge an der Grenze von weniger als 9 m.
Die Beigeladene stellt keinen eigenen Antrag. In der Sache führt sie aus, dass der Bebauungsplan unter Ziffer 8 nur eine Abstandsflächenfestsetzung betreffend Hauptgebäude beinhalte. Das Dach des Gehhilfen- und Fahrradraumes sei im Plan weder als Terrasse noch als sonstige Fläche zum Aufenthalt von Menschen gekennzeichnet. Der Fahrradraum sei somit nach Art. 6 Abs. 7 BayBO privilegiert. Zudem seien die Abstandsflächenpläne nicht in nachbarrechtverletzender Weise unbestimmt. Die Gartentreppe löse keine Abstandsflächen aus, da es sich weder um ein Gebäude noch um eine Anlage mit gebäudegleicher Wirkung handle. Dies ergebe sich aus der Intention des Gesetzgebers, Stützmauern mit einer Höhe von bis zu 2 m zu privilegieren. Im Übrigen trete lediglich die Absturzsicherung der Treppe über das Gelände hinaus in Erscheinung, so dass die Treppe auch unmittelbar an der Grundstücksgrenze errichtet werden könnte.
Die Beigeladene teilte mit Schreiben vom 27.10.2021 mit, dass der Rohbau des Bauvorhabens und damit alle abstandsrelevanten Teile endgültig errichtet worden seien, so dass das Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller entfallen sei und legte hierzu Lichtbilder vor. Die Antragsgegnerin teilte unter Vorlage weiterer Lichtbilder mit, dass aufgrund einer Ortseinsicht vom 3.11.2021 bestätigt werden könne, dass die Rohbauarbeiten abgeschlossen seien und mit der Dacheindeckung begonnen werde. Die Antragsteller erwidern unter Vorlage von Lichtbildern, dass trotz Fertigstellung des Rohbaus keine Erledigung eingetreten sei, da die Grenzanlage mit dem Fahrradabstellraum Abstandsflächen einhalten müsse und insbesondere eine ermöglichte Nutzung rechtswidrig sei. Die Grenzanlage sei im Übrigen noch nicht fertiggestellt und weiche von der genehmigten Planung ab.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten in den Verfahren RO 7 S 20.2454, RO 7 S 21.1429, RO 7 K 20.2337, RO 7 S 21.1765, RO 7 K 21.1469 und RO 7 K 21.1930 Bezug genommen.
II.
Der Antrag gem. § 80a Abs. 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB gerichtet auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 22.7.2021 (Az. RO 7 K 21.1469) gegen die der Beigeladenen mit Bescheid vom 13.7.2021 in der Fassung des Bescheids vom 10.9.2021 erteilte Baugenehmigung ist zulässig und begründet.
1. Dem Antrag fehlt nicht das erforderliche Rechtschutzbedürfnis.
Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag des Baunachbarn nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entfällt bei einem Eilrechtsbehelf gegen die Baugenehmigung eines Gebäudes regelmäßig bereits mit der Fertigstellung des Rohbaus, soweit sich der Baunachbar gegen Beeinträchtigungen zur Wehr setzt, die von der Errichtung der baulichen Anlage als solcher – also vom Baukörper selbst und nicht auch von dessen Nutzung – ausgehen. Die behauptete Rechtsverletzung ist mit der Fertigstellung des Rohbaus dann bereits eingetreten und kann nicht mehr durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorläufig – bis zur Entscheidung in der Hauptsache – verhindert werden. In einem solchen Fall kann das mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgte Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen in Bezug auf den Baukörper und seine Auswirkungen zu verhindern, nicht mehr erreicht werden. Dem rechtsschutzsuchenden Dritten (Nachbarn) würde eine Einstellung der Bauarbeiten, die er infolge einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs erreichen könnte, keinen rechtlichen Vorteil verschaffen, da die behauptete Rechtsverletzung mit der Fertigstellung des Rohbaus bereits eingetreten ist und diese nicht mehr durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorläufig – bis zur Entscheidung in der Hauptsache – verhindert werden kann. Die Inanspruchnahme des Gerichts durch den Nachbarn für seine subjektive Rechtsstellung stellt sich dann, soweit sich der Rechtsmittelführer gegen die Errichtung der baulichen Anlage als solche wendet, als unnütz dar (BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 -, Rn. 11, juris, m.w.N.).
Die Antragsteller wenden sich zwar zum Teil gegen Beeinträchtigungen, die von der Errichtung der baulichen Anlage als solche ausgehen. Sie stützen ihr Vorbringen aber auch maßgeblich auf eine Rechtsverletzung durch die Nutzung des Daches des Gehhilfen- und Fahrradabstellraumes als Terrasse und Zugangsmöglichkeit, so dass die behauptete Rechtsverletzung jedenfalls hinsichtlich dieser Nutzung noch nicht eingetreten ist und durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung noch vorläufig verhindert werden kann, wodurch das Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller nicht entfallen ist.
2. Der zulässige Antrag ist begründet.
Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat dann Erfolg, wenn das Aussetzungsinteresse des Nachbarn das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des streitgegenständlichen Verwaltungsakts bzw. das Vollzugsinteresse des Bauherrn überwiegt. Die vorzunehmende Interessenabwägung richtet sich regelmäßig maßgeblich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, da an der Umsetzung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts in der Regel kein schutzwürdiges Interesse besteht. Dabei kommt es im Rahmen einer Nachbarklage nicht darauf an, ob eine erteilte Baugenehmigung in objektiver Hinsicht umfassend rechtmäßig ist. Ein Nachbar kann eine Genehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn die Genehmigung ihm zustehende subjektiv-öffentliche Rechte verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Maßgeblich ist daher, ob der Nachbar in subjektiven Rechten verletzt wird, d.h. ob die Baugenehmigung gegen Vorschriften verstößt, die zumindest auch seinem Schutz dienen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – juris). Eine Rechtsverletzung kommt nur insoweit in Betracht, als die Baugenehmigung überhaupt Regelungs- bzw. Feststellungswirkung entfaltet, d.h. soweit die ggf. verletzte drittschützende Rechtsvorschrift überhaupt zum Prüfgegenstand im Genehmigungsverfahren gehört.
Hiervon ausgehend ergibt die gebotene Interessenabwägung des Gerichts ein überwiegendes Aussetzungsinteresse der Antragsteller gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Bescheide bzw. dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen als Bauherrin, da sich die Klage aller Voraussicht nach als begründet erweist.
Die streitgegenständliche Baugenehmigung wurde gem. Art. 59 BayBO zu Recht im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilt, da es sich beim Vorhaben der Beigeladenen nicht um einen Sonderbau gem. Art. 2 Abs. 4 BayBO handelt. Im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 Satz 1 BayBO die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB (Nr. 1a), mit den Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO (Nr. 1b) und mit den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinn des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Nr. 1c), beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Nr. 2) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3).
Das zur Genehmigung gestellte Bauvorhaben verletzt nach Aktenlage die abstandsflächenrechtlichen Regelungen des drittschützenden Art. 6 BayBO, der gem. Art. 59 Satz 1 Nr. 1b BayBO zum Prüfungsumfang des vereinfachten Genehmigungsverfahrens gehört.
a) Maßgeblich für die Beurteilung der Begründetheit baurechtlicher Nachbarklagen ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2005 – 26 B 03.2579 -, Rn. 15, juris). Nach dem zum Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung geltenden Art. 6 BayBO (geändert durch Gesetz vom 25.5.2021 mit Wirkung vom 1.6.2021, GVBl. 286) sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Satz 1 gilt entsprechend für andere Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen, gegenüber Gebäuden und Grundstücksgrenzen, Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO.
b) Bei der Außentreppenanlage entlang der nördlichen Außenwand des Bauvorhabens handelt es sich um eine oberirdische Anlage mit gebäudegleicher Wirkung. Die Treppenanlage besteht aus den ebenerdigen Treppenstufen sowie der jeweils nördlich und südlich der Treppenstufen liegenden Absturzsicherung in Form einer Mauer, die über das Gelände hinaus, mithin oberirdisch, in Erscheinung tritt. Jedenfalls auf Höhe des nordöstlichen Eckpunktes der Giebelwand weist die Absturzsicherung eine Höhe von fast 2,5 m (natürliches Gelände +0,84 zu +3,265, vgl. Eingabeplan 2, Bl. 54 d. Behördenakte B-2021-10) auf, so dass alleine schon wegen der Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung von einer gebäudegleichen Wirkung auszugehen ist. Abgesehen davon geht mit der Treppenanlage eine gewisse Aufenthaltsnutzung einher, so dass sie – auch bei einer geringeren Höhe als 2 m – wegen der Berührung des Belangs des Wohnfriedens eine gebäudegleiche Wirkung aufweist.
c) Die Treppenanlage ist nicht gem. Art. 6 Abs. 7 BayBO abstandsflächenrechtlich privilegiert.
In den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen sind, auch wenn sie nicht an der Grundstücksgrenze errichtet werden, u.a. Gebäude ohne Aufenthaltsräume und Feuerstätten mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 9 m (Nr. 1) sowie Stützmauern und geschlossene Einfriedungen außerhalb von Gewerbe- und Industriegebieten mit einer Höhe bis zu 2 m (Nr. 3) zulässig.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO sind schon deswegen nicht erfüllt, weil jedenfalls die Gesamtlänge von 9 m an der nördlichen Grundstücksgrenze deutlich überschritten wird. Ferner handelt es sich bei der Treppenanlage weder um eine Stützmauer noch um eine Einfriedung im Sinne der Norm. Zwar ist die Anlage im nördlichen Bereich jeweils mit einer Absturzsicherung in Form einer Mauer, die nach summarischer Prüfung nach Aktenlage – jedenfalls nach der Tekturgenehmigung vom 10.9.2021 – eine Höhe von 2 m nicht überschreitet, ausgestaltet. Gleichwohl kommt eine Anwendung des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO nicht in Betracht, da die Mauer als unselbstständiger Anlagenteil der Treppenanlage betrachtet werden muss. Die Absturzsicherung in Form einer Mauer dient weder als Stützmauer ausschließlich zur Sicherung des natürlichen Geländes oder einer vorgenommenen Geländeauffüllung noch ist sie dafür bestimmt, das Vorhabengrundstück im Sinne einer Einfriedung zu umschließen, abzuschirmen und gegen unbefugtes Betreten zu schützen (vgl. BeckOK BauordnungsR Bayern/Schönfeld, 19. Ed. 1.4.2021, BayBO Art. 6 Rn. 221). Es verbietet sich auch eine entsprechende Anwendung des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO, da die Treppenanlage in ihrer Gesamtheit – im Unterschied zu bloßen Stützmauern und Einfriedungen – dafür geeignet und geradezu bestimmt ist, von Menschen betreten zu werden, so dass der abstandsflächenrechtliche Belang des Wohnfriedens in erheblicher Weise betroffen ist.
d) Die Treppenanlage ist kein bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleibendes Bauteil.
Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO bleiben bei der Berechnung der Abstandsflächen untergeordnete Vorbauten wie Balkone und eingeschossige Erker außer Betracht, wenn sie insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der Außenwand des jeweiligen Gebäudes, höchstens jeweils 5 m, in Anspruch nehmen, nicht mehr als 1,50 m vor diese Außenwand vortreten und mindestens 2 m von der gegenüberliegenden Nachbargrenze entfernt bleiben.
Es kann dahinstehen, ob die Treppenanlage einen untergeordneten Vorbau im Sinne der Norm darstellt, da sie sowohl im nordwestlichen als auch im nordöstlichen Bereich jeweils eine Breite von über 5 m aufweist und zudem nicht mindestens 2 m von der gegenüberliegenden Nachbargrenze entfernt bleibt (vgl. u.a. Eingabeplan 4, Bl. 17 d. Behördenakte B-2021-40).
e) Da die Treppenanlage weder gem. Art. 6 Abs. 7 BayBO abstandsflächenrechtlich privilegiert ist noch bei der Bemessung der Abstandsflächen gem. Art. 6 Abs. 6 BayBO außer Betracht bleibt, hat sie die sich aus Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO ergebenden Abstandsflächentiefe von 0,4 H, mindestens aber 3 m einzuhalten. Ausweislich des Eingabeplans EP 1 (Bl. 53 d. Behördenakte B-2021-10) hält die Treppenanlage auf ihrer gesamten Länge von über 18 m den Mindestabstand von 3 m nicht ein.
f) Eine Abweichung von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts wurde gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO zwar beantragt (vgl. Bl. 23 ff. d. Behördenakte B-2021-10), jedoch nicht erteilt. Der Bescheidstenor spricht sich in seiner Ziffer 4 lediglich zu einer – hinsichtlich Nr. 8 nicht näher konkretisierten – Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes aus, eine Abweichung von den Vorgaben des Art. 6 BayBO kann dem Bescheid jedoch nicht entnommen werden. Überdies ist nicht von einem sog. versteckten Dispens bzw. einer konkludenten Abweichung auszugehen. Die Zulassung einer Abweichung muss aus Gründen der Bestimmtheit (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) sowie der Rechtssicherheit ausdrücklich geschehen und es muss deutlich werden, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Abweichung bezieht (vgl. Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 48. Update September 2020, 7.6 Entscheidung, Rn. 73, m.w.N.). Eine konkludente Abweichung kann – wenn überhaupt – nur in Betracht kommen, wenn sich hierfür hinreichende Anhaltspunkte in den Gründen der Baugenehmigung und den zugrundeliegenden Planunterlagen finden. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Auch der Umstand, dass die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist, rechtfertigt nicht den Schluss, dass die Genehmigungsbehörde eine Abweichung erteilt hat (vgl. Busse/Kraus/Dhom/Simon, 141. EL März 2021, BayBO Art. 63 Rn. 58).
Nach alledem verletzt das Vorhaben der Beigeladenen bei summarischer Prüfung nach Aktenlage drittschützendes Abstandsflächenrecht.
3. Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Beigeladenen waren keine Kosten aufzuerlegen, da diese keinen Antrag gestellt hat und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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