Baurecht

Baugenehmigung für den Anbau an das bestehende Wohnhaus

Aktenzeichen  15 ZB 19.2263

Datum:
14.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
RÜ2 – 2020, 215
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 9 S. 1 Nr. 1, Art. 12, Art. 59, Art. 66 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

1. Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO dann nicht, wenn es von einer sich nicht aufdrängenden Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist anerkannt, dass mit Blick auf das besondere nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, das von den Nachbarn nach Treu und Glauben gesteigerte Rücksichten gegeneinander fordert, eine Verwirkung nach allgemeinen Grundsätzen auch bei der Geltendmachung von Abwehransprüchen sowie Schutzansprüchen auf bauordnungsrechtliches Eingreifen auch und gerade gegenüber ungenehmigten Bauvorhaben in Betracht kommt.   (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Verwirkung im öffentlichen Baunachbarrecht ist grundstücksbezogen ausgerichtet und bindet mithin nach einem Eigentumswechsel auch den nachbarlichen Rechtsnachfolger.  (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

6 K 17.1804 2019-10-01 Ent VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wandte sich als Eigentümer eines südlich angrenzenden Grundstücks (FlNr. … der Gemarkung F…, im Folgenden: Klägergrundstück) u.a. unter Berufung auf das bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht (Art. 6 BayBO), auf brandschutzrechtliche Vorgaben (Art. 12 BayBO) sowie auf das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme (unter dem Gesichtspunkt einer erdrückenden bzw. abriegelnden Wirkung) gegen einen Bescheid des Beklagten vom 27. Juli 2017, mit dem der Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Anbau an das bestehende Wohnhaus auf dem Baugrundstück FlNr. … erteilt wurde, und begehrte zudem vom Beklagten ein bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen den dortigen baulichen Bestand, der so nicht baurechtlich genehmigt sei.
Seine Klage mit den Anträgen, den Baugenehmigungsbescheid vom 27. Juli 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bauaufsichtlich gegen das bestehende Wohnhaus auf dem Baugrundstück samt Anbau und Nebengebäuden einzuschreiten, hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts den Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten nach pflichtgemäßem Ermessen zu bescheiden, wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 1. Oktober 2019 ab.
Die Anfechtungsklage mit dem Ziel der Aufhebung des Baugenehmigungsbescheids vom 27. Juli 2017 sah das Verwaltungsgericht mangels Verletzung von – vom Prüfprogramm des Genehmigungsverfahrens (gem. Art. 59 BayBO in der bis zum 31. August 2018 geltenden Fassung) umfassten – nachbarschützenden Rechten als unbegründet an. Hinsichtlich des insofern streitgegenständlichen Anbaus sei keine Verletzung des (ohnehin nicht zum Prüfprogramm des Art. 59 BayBO a.F. rechnenden) Art. 6 BayBO gegeben. Vor diesem Hintergrund bestehe auch kein Anhaltspunkt für eine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme. In den Entscheidungsgründen wird hinsichtlich des geltend gemachten Klageanspruchs auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen die nicht von der Baugenehmigung vom 27. Juli 2017 umfassten baulichen Anlagen ausgeführt, dass hinsichtlich eines westlichen Grenzgebäudes und einer Stützmauer von vornherein gegenüber dem Kläger die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift des öffentlichen Rechts ausscheide. Eine zum Klägergrundstück grenznah errichtete Garage halte zwar nicht die Abstandsflächenmaße i.S. von Art. 6 Abs. 5, Abs. 6 BayBO ein und entspreche auch nicht hinsichtlich ihres konkreten Standorts der hierzu ergangenen Baugenehmigung vom 18. Februar 1991, ein materieller Verstoß von Nachbarrechten des Klägers folge hieraus aber nicht, weil diese Garage dem Privilegierungstatbestand des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO unterfalle. Hinsichtlich des Verpflichtungs- bzw. Bescheidungsantrags in Bezug auf den Altbestand des Wohngebäudes auf dem Baugrundstück gehen die Entscheidungsgründe des Urteils vom 1. Oktober 2019 von einer Verwirkung aus.
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren weiter.
II.
Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg. Der vom Kläger allein geltend gemachte Zulassungsgrund gem. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, auf den sich die Prüfung des Senats beschränkt, liegt nicht vor bzw. ist nicht in einer Weise dargelegt worden, die den gesetzlichen Anforderungen gem. § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO genügt.
1. Der Kläger wendet sich mit seinen Einwendungen in seiner Antragsbegründung ausschließlich gegen die Abweisung des Klageantrags auf Verpflichtung des Beklagten zum bauordnungsrechtlichen Eingreifen bzw. (hilfsweise) auf ermessensgerechte Entscheidung hierüber. Er hat hingegen keine Argumente gegen die Richtigkeit der Abweisung des auf Aufhebung der Baugenehmigung vom 27. Juli 2017 gerichteten Anfechtungsantrags vorgebracht. Insofern fehlt es mithin an jeglicher Darlegung i.S. von § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO, sodass sich der Senat hiermit im Berufungszulassungsverfahren nicht zu befassen hatte. Dasselbe gilt, soweit mit dem angegriffenen Urteil der Verpflichtungs- bzw. (hilfsweise) Bescheidungsklageantrag auf bauordnungsrechtliches Einschreiten bzw. auf ermessengerechte Entscheidung hierüber hinsichtlich des westlichen Nebengebäudes und der Stützmauer abgewiesen wurde.
2. Die Richtigkeit des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts ist hinsichtlich der Abweisung des Klageantrags auf Verpflichtung des Beklagten auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen die grenznahe Garage bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hierüber nicht mit Blick auf die vom Kläger erhobenen Einwendungen gegen die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO ernstlich zweifelhaft.
Nach der ersten Alternative der genannten Regelung sind Garagen mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 9 m ohne eigene Abstandsflächen zulässig, auch wenn sie nicht an die Grundstücksgrenze oder an das Gebäude angebaut werden. Das Verwaltungsgericht ging nach seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung ersichtlich davon aus, dass es sich bei der betroffenen Garage – wenngleich nicht am genehmigten Standort – dem Gegenstand nach um die mit Bescheid vom 18. Februar 1991 genehmigte Stahlbetonfertiggarage handelt, die nach den im Jahr 1991 genehmigten Bauvorlagen (Planzeichnung – Standardeingabeplan für „… Stahlbeton-Fertiggaragen System …“) über eine Fläche (Außenmaße) von 2,84 m x 6,00 m sowie über eine Höhe von 2,40 m verfügt. Ausgehend hiervon weist das betroffene Garagengebäude eine mittlere Wandhöhe von weniger als 3 m und an der Grundstücksgrenze zum Klägergrundstück eine Gesamtlänge von weniger als 9 m auf und unterfällt mithin in seinen Maßen der ersten Alternative des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO. Die aktuelle Fassung dieses Privilegierungstatbestands lässt ausdrücklich neben einer Errichtung unmittelbar an der Grenze auch eine grenznahe Errichtung zu.
Soweit der Bevollmächtigte des Klägers in der Antragsbegründung lediglich vorträgt, dass ihm die Genehmigungsunterlagen aus dem Jahr 1991 nicht vorlägen und dass die Garage über eine Länge von mehr als 5,50 m verfüge, wird eine für § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO im vorgenannten Sinn relevante fehlerhafte Überzeugungsbildung i.S. von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht vorgebracht. Insofern genügt nicht allein die Behauptung, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt bzw. das Ergebnis einer Beweisaufnahme sei anders zu bewerten. Vielmehr müssen gute Gründe aufgezeigt werden, dass die tatsächlichen Feststellungen augenscheinlich nicht zutreffen oder beispielsweise wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind. Die bloße Möglichkeit einer anderen Bewertung des Sachverhalts genügt dafür nicht (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 3.4.2018 – 15 ZB 17.318 – juris Rn. 7; B.v. 21.1.2020 – 8 ZB 19.193 – juris Rn. 15 m.w.N.). Vorliegend werden schon die allgemeinen Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO an die Geltendmachung des Zulassungsgrunds des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht erfüllt (hierzu BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 10 m.w.N.; B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 14), weil noch nicht einmal ansatzweise ausgeführt wird, welche Länge die Garage entlang der gemeinsamen Grundstücksgrenze haben soll und inwiefern die Maximallänge von 9 m Länge tatsächlich erreicht werden könnte. Der Kläger und sein Bevollmächtigter hätten ohne Weiteres Akteneinsicht in die schon vom Erstgericht beigezogenen Genehmigungsakten des Landratsamts Passau nehmen können und die dortigen Maßangaben mit den tatsächlichen Maßangaben vor Ort vergleichen sowie den Zulassungsantrag insofern durch Angabe von Längenmaßen substantiieren bzw. konkretisieren können. Hierüber hilft auch nicht der ebenfalls allgemein und pauschal bleibende Einwand hinweg, das Verwaltungsgericht sei aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gehalten gewesen, die tatsächlichen Maße der Garage näher zu überprüfen. Unabhängig von der fehlenden Substantiierung im Zulassungsantrag verletzt ein Gericht seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung gemäß § 86 Abs. 1 VwGO dann nicht, wenn es von einer sich nicht aufdrängenden Beweiserhebung absieht, die – wie vorliegend – ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat. Der bereits erstinstanzlich anwaltlich vertretene Kläger ließ aber ausweislich des in den Akten vorhandenen Protokolls in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 1. Oktober 2019 keinen entsprechenden Beweisantrag stellen und hat auch in der Zulassungsbegründung nicht substantiiert dargelegt, warum sich eine Beweiserhebung trotz der (erstinstanzlich mit Schriftsatz des Beklagten vom 2. März 2018 vorgelegten) Genehmigungsunterlagen aus dem Jahr 1991 aufgedrängt haben soll (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.2016 – 10 BN 1.15 – juris Rn. 3 m.w.N.; BayVGH, B.v. 18.2.2019 – 15 ZB 18.2509 – juris Rn. 18 m.w.N.), zumal die im mitgenehmigten Lageplan zur Baugenehmigung vom 27. Juli 2017 dargestellte grenznahe Garage auf den ersten Blick keine Länge von 9 m oder mehr aufweist. Vor diesem Hintergrund scheidet auch der – ohnehin nicht ausdrücklich geltend gemachte – Zulassungsgrund gem. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO aus.
3. Ernstliche Zweifel i.S. von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO können nur dann bestehen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BayVGH, B.v. 27.8.2019 – 15 ZB 19.428 – juris Rn. 10 m.w.N.). Die Einwendungen des Klägers hinsichtlich der Erwägungen des Erstgerichts zur möglichen Unzulässigkeit des Verpflichtungs- / Bescheidungsklageantrags in Bezug auf den Altbestand aufgrund der vormals geleisteten Nachbarunterschriften auf einem früheren Eingabeplan, gehen vor diesem Hintergrund ins Leere, weil das Verwaltungsgericht sein klageabweisendes Urteil hierauf nicht entscheidungstragend gestützt hat. Hinsichtlich des Altbestands des Wohngebäudes auf dem Baugrundstück stellen die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts tragend ausschließlich auf eine Verwirkung des Klagerechts auf bauaufsichtliches Einschreiten ab (hierzu im Folgenden 4.). Lediglich ergänzend führte das Verwaltungsgericht aus, es spreche zudem Vieles dafür, dass der Rechtsvorgänger des Klägers durch die Unterschriftsleistung sein Einverständnis zu dem Wohngebäude erklärt (vgl. die heutige Regelung in Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BayBO) und somit auf die Geltendmachung nachbarlicher Rechte verzichtet habe. Dabei stellte das Erstgericht ausdrücklich klar, dass es hierauf bzw. auf die Frage, ob auch deswegen der diesbezügliche Verpflichtungs- bzw. Bescheidungsklageantrag auf bauordnungsrechtliches Eingreifen abzuweisen sei, aufgrund der jedenfalls gegebenen Verwirkung nicht ankomme.
4. Auch auf die klägerischen Einwendungen gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Verwirkung in Bezug auf den geltend gemachten Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen den Altbestand des Wohngebäudes kann eine Berufungszulassung nicht auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht gestützt werden.
a) Nach den allgemeinen Grundsätzen der Verwirkung verliert ein Berechtigter ein – prozessuales oder materielles – Recht dann, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (sog. Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (sog. Umstandsmoment; zum Ganzen vgl. z.B. vgl. BVerwG, B.v. 16.4.2002 – 4 B 8.02 – BauR 2003, 1031 = juris Rn. 10, 11; Thiel, jurisPR-ÖffBauR 1/2019 Anm. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 10.4.2018 – 15 ZB 17.45 – juris Rn. 10; B.v. 25.6.2018 – 2 ZB 17.1157 – juris Rn. 2; B.v. 30.4.2019 – 15 ZB 18.979 – juris Rn. 9). Im öffentlichen Baunachbarrecht hat die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung die Anforderungen für das Umstandsmoment wie folgt konkretisiert: Der Bauherr als Verpflichteter muss infolge eines bestimmten Verhaltens des Nachbarn darauf vertraut haben dürfen, dass dieser die nachbarrechtliche Rechtsposition nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage). Er muss ferner tatsächlich darauf vertraut haben, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand), und er muss sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Vertrauensbetätigung; vgl. z.B. BVerwG, U.v. 16.5.1991 – 4 C 4.89 – NVwZ 1991, 1182 = juris Rn. 28; VGH BW, U.v. 25.9.1992 – 3 S 2000/91 – VBlBW 1991, 103 = juris Rn. 28; OVG MV, B.v. 5.11.2001 – 3 M 93/01 – NVwZ-RR 2003, 15 = juris Rn. 22; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 – 2 L 56/11 – NVwZ-RR 2012, 752 = juris Rn. 7; OVG Rh-Pf, U.v. 1.6.2011 – 8 A 10196/11 – NVwZ-RR 2011, 849 = juris Rn. 63). Insbesondere ist von einer hinreichenden Vertrauensgrundlage des Bauherrn (hier: der Beigeladenen) auszugehen, wenn dieser aufgrund des Verhaltens des an sich abwehrberechtigten Nachbarn (hier: des Klägers) sowie unter Berücksichtigung des Zeitablaufs darauf vertrauen durfte, das Recht werde nicht mehr ausgeübt. Aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses am Maßstab von Treu und Glauben besteht unter dem Gesichtspunkt der Schadensverhinderung eine nachbarliche Obliegenheit, Einwendungen gegen ein Bauvorhaben möglichst frühzeitig vorzubringen. Als ausreichende Vertrauensgrundlage der Verwirkung einer nachbarlichen Rechtsposition genügt insofern ein schlichtes Unterlassen bzw. ein widerspruchsloses Hinnehmen der beeinträchtigenden Baumaßnahmen in Kenntnis oder in fahrlässiger Unkenntnis der Nachbarrechtsverletzung, wenn gerade dies aus objektiver Sicht ein – Investitionen auslösendes – Vertrauen des Bauherrn darauf begründet, der Nachbar werde sein Recht nicht mehr ausüben (BVerwG, B.v. 18.3.1988 – 4 B 50.88 – NVwZ 1988, 730 = juris Rn. 4; U.v. 16.5.1991 a.a.O.; B.v. 16.4.2002 – 4 B 8.02 – BauR 2003, 1031= juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 25.6.2018 – 2 ZB 17.1157 – juris Rn. 2; OVG NRW, U.v. 8.3.2012 – 10 A 214/10 – BauR 2012, 1234 = juris Rn. 47; OVG Rh-Pf, U.v. 1.6.2011 – 8 A 10196/11 – NVwZ-RR 2011, 849 = juris Rn. 68; OVG MV, U.v. 5.11.2001 a.a.O. juris Rn. 23; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1407 ff.).
b) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des vom Kläger angegriffenen Urteils vom 1. Oktober 2019 ausgeführt, das Zeitmoment der Verwirkung folge im vorliegenden Fall daraus, dass der Kläger bzw. sein Rechtsvorgänger als Berechtigte des Klägergrundstücks während eines längeren Zeitraums die ihnen zustehenden Nachbarrechte nicht geltend gemacht hätten. Auf der Grundlage einer Baugenehmigung vom 6. Mai 1963 habe auf dem Baugrundstück eine Gebäudeerweiterung in Richtung Westen stattgefunden, die – wie der bereits vorher existente Altbestand – einen Abstand zum Grundstück von lediglich 2,10 m bei einer Wandhöhe von ca. 3,90 m aufgewiesen habe. Aufgrund der Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung stehe fest, dass zum Zeitpunkt des Erwerbs des Anwesens durch den Vater der Beigeladenen Ende der 1980er Jahre im Dachgeschoss des Gebäudes zudem ein Aufenthaltszimmer und ein Badezimmer eingerichtet gewesen seien, dass es im Anschluss an den Erwerb zu einem vollständigen Ausbau des Dachgeschosses zu Wohnzwecken gekommen sei und dass der Kläger hiervon vor fast drei Jahrzehnten Kenntnis erlangt habe. Das für eine Verwirkung notwendige Umstandsmoment ergebe sich aus Folgendem: Die Rechtsvorgänger der Beigeladenen hätten im Vertrauen auf die nachbarliche Einwilligung umfangreiche Bautätigkeiten unternommen und entsprechende Umbaumaßnahmen im Dachgeschoss vorgenommen, bis der Kläger erstmals mit Schreiben vom 8. September 2017 Einwände dagegen erhoben habe. Das Vertrauen der Rechtsvorgänger der Beigeladenen sei auch kausal für umfangreiche Investitionen eines entsprechenden Ausbaus gewesen. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Rechtsvorgänger der Beigeladenen in Kenntnis eines geplanten Vorgehens durch den Kläger oder dessen Rechtsvorgänger die Bautätigkeiten fortgesetzt oder vollendet hätten. Trotz einer möglicherweise notwendigen Neubewertung der Abstandsflächensituation durch die Bautätigkeit des Rechtsvorgängers der Beigeladenen Anfang der 1990er Jahre sei der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellig geworden, sondern habe die baulichen Veränderungen und die Ausweitung der Wohnnutzung hingenommen. Gleiches gelte für einen ungenehmigten (zwischenzeitlich wieder entfernten) Erker in noch geringerem Abstand zum Klägergrundstück. Durch die hinsichtlich des Umfangs des Bauvorhabens kritiklose Hinnahme der Bautätigkeiten durch den ursprünglichen Eigentümer des Klägergrundstücks bzw. durch den Kläger selbst habe bei dem Rechtsvorgänger der Beigeladenen der Eindruck entstehen müssen, dass seitens des Nachbarn nicht gegen die Errichtung von Anbauten und gegen die Nutzungsänderung vorgegangen werde.
c) Hiergegen wird in der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nichts Relevantes vorgebracht.
aa) Aus Sicht des Klägers lasse die Feststellung eines etwaigen Verstoßes gegen Treu und Glauben ohne Berücksichtigung des Umstands, dass es sich vorliegend um einen Schwarzbau handele, einen wesentlichen Umstand des Sachverhalts außer Betracht. Das Gericht habe bei der Beurteilung eines Verstoßes gegen Treu und Glauben insofern zu einseitig sein – des Klägers – Verhalten berücksichtigt. Die insoweit erhobenen Einwendungen, das Verwaltungsgericht habe im Rahmen der Urteilsfindung hinsichtlich der Annahme einer Verwirkung nicht berücksichtigt, dass es sich bei dem Altbestand nicht um ein von einer Baugenehmigung gedecktes Vorhaben handele und dass der Bauherr deshalb im vorliegenden Fall nicht in dem Umfang schutzwürdig sei, wie es ein redlicher Bauherr sei, der gemäß einer erteilten Genehmigung gebaut habe, begründen hingegen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der oben dargestellten Rechtsanwendung des Verwaltungsgerichts: Auch soweit der bauliche Bestand und / oder die Nutzung des Altbestands des Wohnhauses ganz oder teilweise nicht von einer Baugenehmigung gedeckt und daher formell sowie etwa in Bezug auf bauordnungsrechtliche Vorgaben (wie z.B. Art. 6 BayBO) zudem auch materiell illegal sein sollte, schließt dies die Annahme der Verwirkung im vorliegenden Fall nicht aus. In der Rechtsprechung zum öffentlichen Baunachbarrecht ist vielmehr anerkannt, dass mit Blick auf das besondere nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, das von den Nachbarn nach Treu und Glauben gesteigerte Rücksichten gegeneinander fordert, eine Verwirkung nach allgemeinen Grundsätzen auch bei der Geltendmachung von Abwehransprüchen sowie Schutzansprüchen auf bauordnungsrechtliches Eingreifen auch und gerade gegenüber ungenehmigten Bauvorhaben in Betracht kommt – also auch dann, wenn k e i n e Baugenehmigung erteilt wurde und sich der Rechtsbehelf gegen einen (ursprünglichen) Schwarzbau oder eine Schwarznutzung wendet -, der Nachbar aber eine lange Zeit abgewartet hat und deshalb aufgrund der Umstände des Einzelfalls mit der Geltendmachung des Nachbarrechts nicht mehr zu rechnen war (vgl. BVerwG, B.v. 18.3.1988 – 4 B 50.88 – NVwZ 1988, 730 = juris Rn. 2 ff.; B.v. 13.8.1996 – 4 B 135.96 – BauR 1997, 281 = juris Rn. 3; B.v. 11.2.1997 – 4 B 10.97 – NJW 1998, 329 = juris Rn. 1 f.; B.v. 15.1.2014 – 4 B 57.13 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 28.3.1990 – 20 B 89.3055 – BayVBl. 1991, 725 = juris Rn. 26; VGH BW, B.v. 18.12.2007 – 3 S 2107/07 – VBlBW 2008, 190 = juris Rn. 15; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 – 2 L 56/11 – NVwZ-RR 2012, 752 = juris Rn. 6 ff.; OVG Schleswig-Holst., B.v. 20.11.2015 – 1 LA 39/15 – juris Rn. 16 ff.; B.v. 25.5.2018 – 1 LA 44/17 – juris Rn. 6 ff.; OVG Saarl., B.v. 12.11.2018 – 2 A 815/17 – juris Rn. 12 ff.; VG Gelsenkirchen, U.v. 10.5.2017 – 10 K 3300/14 – juris Rn. 25 ff.; VG Saarl., U.v. 12.9.2006 – 5 K 98/05 – juris Rn. 21 ff.; U.v. 25.3.2015 – 5 K 617/14 – juris Rn. 29 ff.).
bb) Auch der Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht habe von ihm zu Unrecht eine frühere Geltendmachung seiner Nachbarrechte verlangt, weil
– die ohne die erforderliche Baugenehmigung durchgeführten Maßnahmen im Wesentlichen erfolgt seien, bevor er das benachbarte Klägergrundstück erworben habe,
– ihm die entsprechenden Bauunterlagen nicht vollumfänglich vorgelegen hätten, für ihn der tatsächliche Umfang der abweichenden Baumaßnahmen daher nicht erkennbar und ihm damit auch eine frühere Geltendmachung seiner Rechte als Nachbar nicht zumutbar gewesen sei,
– ihm die früher auf dem Nachbargrundstück vorgenommenen baulichen Veränderungen daher vorher teilweise nicht bekannt gewesen seien bzw. er als rechtlicher Laie mangels gegenteiliger Anhaltspunkte davon ausgegangen sei, dass diese rechtmäßig gewesen seien,
– er sofort, nachdem er vom Anbau am Haupthaus Kenntnis genommen habe, eine entsprechende Beschwerde beim Bauamt erhoben habe,
begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Annahme einer Verwirkung in Bezug auf den Verpflichtungs- bzw. den (hilfsweise gestellten) Bescheidungsantrag hinsichtlich des bauordnungsrechtlichen Einschreitens gegen den Altbestand des Wohnhauses. Zum einen ist die Verwirkung im öffentlichen Baunachbarrecht grundstücksbezogen ausgerichtet und bindet mithin nach einem Eigentumswechsel auch den nachbarlichen Rechtsnachfolger (BayVGH, B.v. 28.3.1990 – 20 B 89.3055 – BayVBl 1991, 725 = juris Rn. 22; OVG MV, B.v. 5.11.2001 – 3 M 93/01 – NVwZ-RR 2003, 15 = juris Rn. 35; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 – 2 L 56/11 – NVwZ-RR 2012, 752 = juris Rn. 7; OVG Schleswig-Holst., B.v. 20.11.2015 – 1 LA 39/15 – juris Rn. 18; B.v. 25.5.2018 – 1 LA 44/17 – juris Rn. 7; VGH BW, U.v. 25.9.1991 – 3 S 2000/91 – VBlBW 1992, 103 = juris Rn. 29; VG Schleswig-Holst., U.v. 10.11.2016 – 2 A 119/15 – juris Rn. 99; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1415 f.). Soweit mithin die Verwirkungsvoraussetzungen eingetreten sind, bevor der Kläger das Nachbargrundstück zu Eigentum erworben hatte, gilt dies auch für und gegen ihn als Rechtsnachfolger des vormaligen Eigentümers. Soweit die Verwirkung an eine von ihm selbst geschaffene Vertrauensgrundlage anknüpft bzw. anknüpfen sollte, gelten die o.g. Obliegenheiten im nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis, wonach unter dem Gesichtspunkt der Schadensverhinderung eine Art „Garantenpflicht“ besteht, Einwendungen gegen ein Bauvorhaben möglichst frühzeitig vorzubringen. Dies umfasst auch die Obliegenheit, bei erkennbaren baulichen Aktivitäten der Beigeladenen (bzw. vormals deren Rechtsvorgänger) sich z.B. durch Nachfragen beim Bauordnungsamt und / oder durch Einblick in die Bauakten des Baugrundstücks – ggf. auch durch Einholung von Rechtsrat – Klarheit über die Sach- und Rechtslage in Bezug auf (potenzielle) Nachbarrechtsverstöße zu verschaffen (vgl. Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1408 m.w.N.). Aus dem Vortrag des Klägers in der Zulassungsbegründung geht hingegen nicht substantiiert hervor, dass er (oder sein Rechtsvorgänger) dieser Obliegenheit gerecht geworden ist.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, § 162 Abs. 3 VwGO. Denn ein Beigeladener setzt sich im Berufungszulassungsverfahren unabhängig von einer Antragstellung grundsätzlich keinem eigenen Kostenrisiko aus (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2017 – 15 ZB 16.562 – juris Rn. 18 m.w.N.). Ein Grund, der es gebieten würde, die außergerichtlichen Kosten aus Billigkeitsgründen ausnahmsweise als erstattungsfähig anzusehen, ist nicht ersichtlich. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47, § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt als Anhang in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019) und folgt in der Höhe der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben worden sind.
6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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