Baurecht

Baugrenze ist nicht nachträglich überholt bzw. obsolet geworden

Aktenzeichen  M 8 K 14.5171

Datum:
25.1.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO BauNVO § 22 Abs. 2
BauGB BauGB § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Die Funktionslosigkeit von Bauraumfestsetzungen eines Bebauungsplans ist nicht anzunehmen, wenn die Bauräume in weiten Teilen des Plangebiets eingehalten werden und die Bauraumfeststzungen noch die städtebauliche Entwicklung lenken können. (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Abweichung des Planungsgefüges von untergeordneter Bedeutung, die eine Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans zulässt, ist auszunehmen, wenn die geplante Bauraumüberschreitung gemessen an den Überschreitungen der relevanten Umgebung sich als geringfügige Abweichung darstellt und für die Umgebungsbebauung keine ins Gewicht fallende Veränderung der planerischen Situation bewirkt.   (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Bewertung eines Gebäudes als ein Doppelhaus bleibt unverändert, wenn die beiden Gebäudeteile als zwei selbstständige Baukörper erscheinen (ebenso BeckRS 2000, 30098169). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Oktober 2014, Az.: …, verpflichtet, über den Bauantrag der Kläger vom 3. Juli 2014 nach Plan-Nr. … unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden.
II.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und die Kläger je zur Hälfte.
III.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung i. H. v. 110% des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg, da die im Ablehnungsbescheid vom 13. Oktober 2014 angeführte Gründe die Ablehnung nicht zu tragen vermögen. Eine Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung der am 3. Juli 2014 beantragten Baugenehmigung gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO kam gleichwohl nicht in Betracht, da die Verwaltungsstreitsache im Hinblick auf ein von der Beklagten nach § 31 Abs. 2 BauGB noch auszuübendes Ermessen noch nicht spruchreif ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO), weshalb die Klage im Hinblick auf den Verpflichtungsantrag keinen Erfolg hat.
I.
Planungsrechtlich beurteilt sich die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Vorhabengrundstück im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplanes Nr. … … liegt. Im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplanes ist nach § 30 Abs. 1 BauGB ein Bauvorhaben zulässig, wenn es den Festsetzungen über die Art und Maß der baulichen Nutzung, die überbaubare Grundstücksfläche und die örtlichen Verkehrsflächen nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist.
Die streitgegenständliche Terrassenüberdachung soll mit einer Tiefe von 1,26 m außerhalb des festgesetzten Bauraums errichtet werden und widerspricht damit grundsätzlich der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB i. V. m. § 23 Abs. 1 und 3 BauNVO.
1. Die Festsetzung der Baugrenze ist entgegen der Auffassung der Kläger nicht nachträglich überholt bzw. obsolet geworden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine bauplanerische Festsetzung funktionslos sein, wenn und soweit die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, ihre Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließen und diese Tatsache so offensichtlich ist, dass ein in ihre Fortgeltung gesetztes Vertrauen keinen Schutz verdient. Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung i. S. des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (vgl. z. B. BVerwG, Urteile vom 17. Juni 1993 – BVerwG 4 C 7.91 – Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 30, vom 18. Mai 1995 – BVerwG 4 C 20.94 – BVerwGE 98, 235 und vom 3. Dezember 1998 – BVerwG 4 CN 3.97 – BVerwGE 108, 71; Beschlüsse vom 6. Juni 1997 – BVerwG 4 NB 6.97 – Buchholz 406.11 § 10 BauGB Nr. 37 und vom 29. Mai 2001 – BVerwG 4 B 33.01 – Buchholz 406.12 § 5 BauNVO Nr. 7; BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8).
Nach diesem strengen Maßstab ist vorliegend nicht von der Funktionslosigkeit der Bauraumfestsetzungen des streitgegenständlichen Bebauungsplans auszugehen. Zwar ist den Klägern zuzugeben, dass auf den südlich des Vorhabengrundstücks gelegenen Grundstücken mit Fl.Nrn. … und … bereits Bauraumüberschreitungen durch die Hauptnutzungen vorhanden sind. Auch befinden sich in der Umgebung des Baugrundstücks zahlreiche Nebengebäude außerhalb der festgesetzten Bauräume. Diese Bauraumüberschreitungen sind allerdings nicht geeignet die städtebauliche Gestaltungs- und Ordnungsfunktion der Bauraumfestsetzungen vollständig auszuschalten. Es kann unter gegeben Umständen nicht davon ausgegangen werden, dass die in Rede stehenden Bauraumfestsetzungen bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren haben, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern. Trotz den oben genannten Abweichungen, werden die festgesetzten Bauräume in dem Großteil des Baugebiets eingehalten. Insbesondere liegen die klägerseits angeführten Wintergärten in den Anwesen …straße 72 und 88 innerhalb des festgesetzten Bauraums. Die gebotene Gesamtbetrachtung ergibt, dass die städtebauliche Zielsetzung der streitgegenständlichen Bauraumfestsetzungen – nämlich eine geordnete, aufgelockerte Bebauung zu ermöglichen – durch die bereits vorhandenen Bauraumüberschreitungen nicht vollständig unmöglich wird.
Daher ist vorliegend festzuhalten, dass die teilweise außerhalb des festgesetzten Bauraums geplante Terrassenüberdachung der Festsetzung über die überbaubare Grundstücksfläche widerspricht.
2. Von den Festsetzungen des Bebauungsplanes kann allerdings nach Maßgabe des § 31 Abs. 2 BauGB befreit werden. Die Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB steht grundsätzlich im Ermessen der Behörde, das vorliegend seitens der Beklagten bei ihrer Ablehnungsentscheidung vom 13. Oktober 2014 nicht ordnungsgemäß ausgeübt wurde. Da auch keine Ermessensreduzierung auf Null hinsichtlich der Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung wegen Überschreitung der südlichen Baugrenze durch das streitgegenständliche Bauvorhaben vorliegt, scheidet eine Verpflichtung der Beklagten, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen, aus, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abwägung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
2.1 Vorliegend werden die Grundzüge der Planung durch die Verwirklichung des streitgegenständlichen Bauvorhabens nicht berührt.
Mit dem Begriff „Grundzug der Planung“ umschreibt § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Bebauungsplanfestsetzungen zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-) Planung möglich ist. Von Festsetzungen, die für die Planung tragend sind, kann nur dann befreit werden, wenn die jeweilige Abweichung für das Planungsgefüge von untergeordneter Bedeutung ist. Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen (Baulinien, Baugrenzen, Bebauungstiefen), mit denen Bauräume festgelegt und eine planerische Abgrenzung der überbaubaren von den nicht bebaubaren Grundstücksflächen erfolgt, gehören regelmäßig zu den das planerische Konzept wesentlich tragenden Regelungen. Eine Befreiung hiervon kommt daher nur in Betracht, wenn und soweit die Abweichung für das Planungsgefüge von untergeordneter Bedeutung ist.
Davon ist hier nach den Umständen des Falles und insbesondere unter Berücksichtigung der Bebauung auf den südlich des Vorhabens liegenden Grundstücken …straße 28 und 34 (Fl.Nr. … und …) auszugehen. Für diese Bauraumüberschreitungen hat die Beklagte Befreiungen wegen Überschreitung der westlichen Baugrenze nach § 31 Abs. 1 BauGB erteilt. Zudem hat der gerichtliche Augenschein ergeben, dass sich auf den in unmittelbarer Nähe des Vorhabengrundstücks liegenden Grundstücken, zahlreiche Nebengebäude – wie Garten- und Gerätehäuser – außerhalb der festgesetzten Bauräume finden.
Bei der Bauraumüberschreitung durch die streitgegenständliche Terrassenüberdachung um 1,26 m handelt es sich um eine – gemessen an den Bauraumüberschreitungen auf den Grundstücken Fl.Nr. … und … – geringfügige Abweichung, die mit Blick auf die Umgebungsbebauung keine ins Gewicht fallende Veränderung der planerischen Situation bewirkt, sich also im Rahmen der vorhandenen Überschreitungen bewegt und daher die Grundzüge der Planung nicht berührt.
2.2 Weiter liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB vor. Die Befreiung ist städtebaulich vertretbar, denn es steht außer Frage, dass die Zulassung einer Bebauung im Bereich außerhalb der festgesetzten Bauräume auch durch eine entsprechende bauplanerische Festsetzung hätte ermöglicht werden können (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.1998 – 4 C 16/97, BVerwGE 108, 190 – juris RdNr. 36).
Die Befreiung ist schließlich auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Insbesondere verletzt das streitgegenständliche Vorhaben entgegen der Auffassung der Beklagten nicht das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme in seiner besonderen Ausprägung der Grundsätze der sog. Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 19.3.2015 – 4 C 12/14 – juris; U.v. 19.03.2015 – 4 B 65/14 – juris; U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12, BVerwGE 148, 290 – juris; U.v. 24.02.2014 – 4 C 12/98 – juris; BayVGH, U.v. 11.12.2014 – 2 BV 13.789 – juris).
2.2.1 Ist in einem Bebauungsplangebiet – wie vorliegend – offene Bauweise festgesetzt, sind nach § 22 Abs. 2 BauNVO Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen mit einer Länge von bis zu 50 m zulässig. Ein Doppelhaus im Sinne dieser Vorschrift ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch ein Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Ein Doppelhaus entsteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann, wenn zwei Gebäude derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamtbaukörper bilden. Erforderlich ist weiterhin, dass die beiden „Haushälften“ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden, da insoweit das Erfordernis der baulichen Einheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Element enthält (BVerwG, U.v. 24.2.2000, a. a. O., Rn. 20). Bei den quantitativen Kriterien handelt es sich um die Kriterien der Geschossigkeit, der Gebäudehöhe, des oberirdischen Brutto-Raumvolumens sowie der Bebauungstiefe. Bei dem qualitativen Element geht es um eine spezifische Gestaltung des Orts- und Straßenbildes, die darin liegt, dass das Doppelhaus den Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung nicht stört, weil es wie ein Gebäude erscheint. Entscheidend ist hier, ob die wechselseitige Verträglichkeit der grenzständigen Gebäude noch gegeben ist (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12/14 – juris Rn. 19).
Die Zulässigkeit einer Bebauung als Doppelhaus setzt in Gebieten der offenen Bauweise den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze voraus (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12 – juris Rn. 22). Dieser Verzicht bindet die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs ein: Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht. Diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundstückseigentümer zugleich begünstigt und belastet, ist Ausdruck einer planungsrechtlichen Konzeption, die ein nachbarliches Austauschverhältnis begründet, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 24.02.2000 – 4 C 12/98 – juris Rn. 21). Diese Interessenlage rechtfertigt es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den bisher durch das Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet.
2.2.2 Nach diesen Grundsätzen entspricht das streitgegenständliche Vorhaben den erhöhten Anforderungen an gegenseitiger Rücksichtnahme im Rahmen des besonderen nachbarlichen Austauschverhältnisses nach den oben dargestellten Grundsätzen der sog. Doppelhausrechtsprechung.
Bei dem Gebäude der Kläger und dem Nachbargebäude …straße 66 handelt es sich um ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO, so dass das streitgegenständliche Bauvorhaben an diesen besonderen Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts zu messen ist. Beide Gebäude sind an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebaut und bilden gemeinsam ein einheitliches Baukörper. Dieser Charakter eines Gesamtbaukörpers geht vorliegend auch nicht dadurch verloren, dass mit der Verwirklichung des beantragten Bauvorhabens an die südliche Außenwand der klägerischen Doppelhaushälfte eine seitlich verglaste Terrassenüberdachung angebaut wird. Es ist davon auszugehen, dass beide „Haushälften“ auch nach Verwirklichung der beantragten Baumaßnahme in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut bleiben, da sie sowohl nach den quantitativen als auch nach qualitativen Kriterien eine bauliche Einheit bilden.
Nach den quantitativen Kriterien bleibt vorliegend der Charakter eines Doppelhauses als eine bauliche Einheit gewahrt. Durch den Anbau der streitgegenständlichen Terrassenüberdachung verändert sich weder die Geschossigkeit noch die Gebäudehöhe des klägerischen Anwesens. Hierbei ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der gemeinsamen Höhe der aneinander gebauten Gebäude für das Maß der Übereinstimmung beider Gebäude eine besondere Bedeutung zukommt (BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12/14 – juris Rn. 17).
Zwar tritt die geplante Terrassenüberdachung 3,76 m vor die südliche Außenwand der klägerischen Doppelhaushälfte und entspricht damit nicht der Bebauungstiefe des Nachbarhauses. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann allerdings eine bauliche Einheit im Sinne eines Gesamtbaukörpers selbst dann vorliegen, wenn die ein Doppelhaus bildenden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zueinander versetzt aneinandergebaut sind (BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – juris Rn. 18). Ein Doppelhaus ist erst dann nicht mehr gegeben, wenn sich die Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen (BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – juris Rn. 19). Hier geht der Eindruck eines Gesamtbaukörpers nicht durch die gegenüber der Außenwand der nachbarlichen Doppelhaushälfte vortretende, seitlich verglaste Terrassenüberdachung verloren, da die Terrassenüberdachung sowohl wegen der geringen Maße als auch aufgrund der Gestaltung als verglaste Konstruktion nicht wie eine Verlängerung der Außenwand und damit nicht als ein echter Anbau wirkt. Aus der Sicht des westlichen Doppelhausnachbarn tritt die geplante Terrassenüberdachung nur mit der seitlichen Brandschutzwand, die mit der bestehenden Sichtschutzwand vergleichbar ist, und der verglasten, nach Süden herabfallenden Dachkonstruktion, in Erscheinung. Dies ist mit einem massiven Anbau nicht vergleichbar. Beide Doppelhaushälften wirken nach wie vor wie eine bauliche Einheit und nicht wie zwei selbstständige grenzständige Baukörper.
Auch bei der Betrachtung der qualitativen Kriterien ist vorliegend nicht davon auszugehen, dass das bestehende nachbarliche Austauschverhältnis aufgehoben oder erheblich gestört wird.
Bei der geplanten Terrassenüberdachung handelt es sich um eine verglaste Konstruktion mit einem flach geneigten Dach, die sich von den bestehenden Baukörpern nicht stark abhebt, sondern sich diesen unterordnet. Der Gesamteindruck einer offenen, aufgelockerten Bebauung wird durch die geplante bauliche Veränderung des klägerischen Gebäudes nicht gestört.
2.2.3 Auch im Übrigen erweist sich das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht als rücksichtslos. Der geplanten Terrassenüberdachung kommt weder erdrückende noch einmauernde Wirkung gegenüber dem Nachbaranwesen …straße 66 zu. Insbesondere sind keine unzumutbare Beeinträchtigungen der Belichtungs- und Belüftungsverhältnisse auf dem Nachbargrundstück durch die an der gemeinsamen Grundstücksgrenze geplante Trennwand zu erwarten. Mit der Errichtung der geplanten Brandschutzwand wird für den westlichen Nachbarn keine nennenswerte Verschlechterung der bisherigen Situation eintreten, da bereits gegenwärtig eine 3,2 m lange und ca. 2 m hohe Sichtschutzwand an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtet ist.
2.3 Auch bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB besteht in der Regel kein Rechtsanspruch auf die begehrte Entscheidung. Insoweit erfordert § 31 Abs. 2 BauGB zusätzlich eine Ermessensentscheidung der Baugenehmigungsbehörde, wenn nicht ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt allerdings nur in Betracht, wenn allgemein oder im konkreten Einzelfall keine Zweckmäßigkeitserwägungen denkbar sind, die eine Versagung der Befreiung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten rechtfertigen könnten (vgl. BayVGH, U.v. 09.08.2007 – 25 B 05.1339 – juris Rn. 44). Hier ist nicht davon auszugehen, dass keinerlei bauplanungsrechtliche Gesichtspunkte in Betracht kommen, die gegen die Erteilung einer Befreiung sprechen würden.
Die Beklagte hat vorliegend die Erteilung einer Befreiung im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, durch das streitgegenständliche Bauvorhaben trete eine wesentliche Veränderung des Erscheinungsbildes des Doppelhauses ein. Zudem beeinträchtige das Vorhaben nachbarschützenden Belange. Da die Beklagte sichtlich davon ausgegangen ist, dass bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegeben sind, lässt der streitgegenständliche Bescheid vom 13. Oktober 2014 jede Ermessenserwägungen vermissen. Insbesondere hätte sich die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung mit den in dem Plangebiet bereits vorhandenen Bauraumüberschreitungen durch Haupt- und Nebengebäude auseinander setzen müssen.
3. Im Übrigen entspricht das Bauvorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. … …, § 30 Abs. 1 BauGB. Insbesondere hält sich das Vorhaben im Rahmen der Festsetzung der offenen Bauweise nach § 22 Abs. 2 BauNVO, da das Doppelhaus der Kläger auch mit der Verwirklichung der geplanten Baumaßnahme das Erscheinungsbild des Gesamtbaukörpers behält (vgl. unter 2.2).
II.
Schließlich stehen dem Vorhaben keine sonstige Ablehnungsgründe bauordnungsrechtlicher Art gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO entgegen. Entgegen der Auffassung der Beklagten bedarf es vorliegend nicht der Erteilung einer Ausnahme wegen Nichteinhaltung der Abstandsflächen gemäß Art. 63 Abs. 2 BayBO. Für die geplante Brandschutzwand an der westlichen Grundstücksgrenze fallen gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO keine Abstandsflächen an, da vorliegend nach bauplanungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden darf. Die klägerische Doppelhaushälfte bildet gemeinsam mit der nachbarlichen Doppelhaushälfte ein Doppelhaus und ist somit zulässigerweise an die gemeinsame Grundstücksgrenze angebaut (vgl. ausführlich unter 2.2, 2.2.2). Durch den streitgegenständlichen Anbau verlässt der Grenzanbau der Kläger nicht den zulässigen Rahmen im Sinne der offenen Bauweise nach § 22 Abs. 2 BauNVO, da er nach wie vor einen Gesamtbaukörper mit dem Nachbargebäude bildet und daher ein Doppelhaus im Sinne des Gesetzes bleibt (vgl. ausführlich unter 2.2.2).
III.
Die Kostenentscheidung findet ihre Grundlage in § 155 Abs. 1 VwGO, da die Kläger nur mit ihrem Hilfsantrag, nicht jedoch mit dem Verpflichtungsantrag Erfolg hatten.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 6.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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