Baurecht

Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans

Aktenzeichen  M 1 K 17.978

Datum:
8.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 25531
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 2
GO Art. 26 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Eine Befreiung kann unabhängig davon erteilt werden, ob der Bebauungsplan für den streitgegenständlichen Bereich einen Bauraum vorsieht oder nicht. Denn mit dem Begriff der „Festsetzung“ ist nicht bloß die positive Festsetzung gemeint, sondern vielmehr die von der Gemeinde für den gesamten Planbereich getroffene Regelung, welche im Fall der überbaubaren Grundstücksflächen neben einer positiven stets auch eine negative Dimension in der Form beinhaltet, dass die Gemeinde eine Aussage darüber trifft, wo nicht gebaut werden darf. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Februar 2017 verpflichtet, den am 14. September 2016 beantragten Vorbescheid zu erteilen.
II. Der Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die Klage hat Erfolg, da sie zulässig und begründet ist.
Über sie kann ohne erneute mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids. Die Ablehnung ist daher rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Nach Art. 71 Satz 1 BayBO kann vor Einreichung eines Bauantrags auf schriftlichen Antrag des Bauherrn zu einzelnen in der Baugenehmigung zu entscheidenden Fragen vorweg ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid) erteilt werden.
Vorliegend begehren die Kläger einen Vorbescheid zu der Frage, ob auf dem Grundstück FlNr. 311/14 Gemarkung … … … eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksflächen gewährt werden kann. Damit stellen sie die städtebauliche Zulässigkeit ihres Vorhabens zur Entscheidung.
Dies ist zu bejahen, da das Vorhaben der Kläger gemäß § 30 Abs. 1, § 31 Abs. 2 BauGB bauplanungsrechtlich zulässig ist. Es besteht für das Grundstück FlNr. 311/14 ein wirksamer Bebauungsplan und ein Anspruch auf eine Befreiung von den Festsetzungen bezüglich der überbaubaren Grundstücksflächen nach § 31 Abs. 2 BauGB.
a) Für das Grundstück FlNr. 311/14 besteht mit dem Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ von 1967 ein wirksamer Bebauungsplan.
aa) Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit beurteilt sich nicht anhand des Bebauungsplans Nr. 6 „… Weg“ von 1989, da dieser bereits aus formellen Gründen unwirksam ist.
Bebauungspläne werden nach § 10 Abs. 1 BauGB als gemeindliche Satzungen beschlossen. Sie bedürfen einer Ausfertigung nach Art. 26 Abs. 2 Satz 1 GO vor der Bekanntmachung gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB, um dann nach § 10 Abs. 3 Satz 4 BauGB in Kraft zu treten (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 9.5.1996 – 4 B 60/96 – juris Ls.). Die Ausfertigung erfolgt durch eigenhändige Unterschrift des ersten Bürgermeisters unter Angabe des Datums und stellt einen Verfahrensschritt dar, welcher der als Schlusspunkt des Rechtssetzungsvorgangs geltenden Bekanntmachung zwingend zeitlich vorzugehen hat. Wird die genannte Reihenfolge von der Gemeinde nicht eingehalten, führt dies stets zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 27.10.1998 – 4 BN 46/98 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 3.9.2002 – 1 B 00.817 – juris Rn. 50).
Hinsichtlich des Bebauungsplans Nr. 6 „… Weg“ unterschrieb der erste Bürgermeister die Satzung am 6. Dezember 1989 und damit knapp ein halbes Jahr nach der ortsüblichen Bekanntmachung, die bereits in der Zeit vom 19. Mai 1989 bis zum 19. Juni 1989 durch Anheftung an die gemeindliche Amtstafel stattfand. In Widerspruch zum oben dargestellten (ordnungsgemäßen) Ablauf ging hier also die Bekanntmachung der Ausfertigung zeitlich vor, was die Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 6 zur Folge hat.
bb) Infolge der Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 6 gilt der Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ von 1967, da dieser weder formell noch materiell unwirksam ist und auch nicht durch den Beschluss über den Bebauungsplan Nr. 6 aufgehoben wurde.
(1) Der Bebauungsplan Nr. 2 ist formell wirksam, da die Beigeladene die erforderlichen Verfahrensschritte des für die Beurteilung der Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 2 maßgebliche BBauG vom 23. Juni 1960 ordnungsgemäß durchgeführt hat.
Das BBauG vom 23. Juni 1960 sah nach § 2 Abs. 6 BBauG vor, dass eine Gemeinde den Entwurf eines Bauleitplans für die Dauer von einem Monat öffentlich auslegen muss. Die in dieser Zeit vorgebrachten Einwendungen und Anregungen hat die Gemeinde in der Folge zu prüfen. Im Anschluss daran hat sie den Bebauungsplan gemäß § 10 BBauG als Satzung zu beschließen und den beschlossenen Plan der höheren Verwaltungsbehörde nach § 11 BBauG zur Genehmigung vorzulegen.
Die Beigeladene hat diese vom Gesetz vorgegebene Reihenfolge im Ergebnis eingehalten. Laut Auszug aus dem Sitzungsbuch der Beigeladenen wurden am 8. Mai 1964 die von den Bürgern vorgebrachten Bedenken und Anregungen geprüft (§ 2 Abs. 6 BBauG) und im Anschluss der Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ als Satzung (§ 10 BBauG) vom Gemeinderat beschlossen. In der Folge hat der Gemeinderat der Beigeladenen in seiner Sitzung am 27. Mai 1966 beschlossen, den Bebauungsplan in den vom Landratsamt beanstandeten Punkten überarbeiten zu lassen. In der Gemeinderatssitzung vom 30. Dezember 1966 wurde erneut beschlossen, den Architekten zu beauftragen, den Bebauungsplan nach den Richtlinien des Landratsamts umzuarbeiten. Aufgrund des Zeitablaufs sind bei der Beigeladenen keine vollständigen Akten mehr vorhanden. Die Gemeinderatsbeschlüsse lassen aber den Schluss zu, dass nach dem Satzungsbeschluss vom 8. Mai 1964 ein Genehmigungsverfahren beim Landratsamt eingeleitet worden war, das zu Beanstandungen geführt hat. Die umgearbeitete Planfassung wurde dem Gemeinderat in seiner Sitzung vom 20. Februar 1967 vorgelegt und dort „angenommen“. Der Gemeinderat hat damit keinen erneuten Satzungsbeschluss gefasst, sondern sein Einverständnis zur Umarbeitung zum Ausdruck gebracht. Aus dem Beschlussbuchauszug vom 7. April 1967 geht hervor, dass der umgearbeitete Bebauungsplan in der Folge noch einmal zur Einsicht ausgelegen hat. Die Auslegung hat jedoch keine weiteren Änderungen oder gar Umplanungen zur Folge gehabt. Genehmigt wurde der Bebauungsplan in der Folge unter weiteren Auflagen am 14. Juni 1967 durch das Landratsamt als Genehmigungsbehörde.
Der Wirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 2 kann nicht entgegengehalten werden, dass die Beigeladene nach der Umarbeitung des Bebauungsplans entsprechend den „Richtlinien“ des Landratsamts keinen neuen Satzungsbeschluss mehr gefasst hat. Denn bei einer Umarbeitung nach den Vorgaben, d.h. den „Auflagen“ der Genehmigungsbehörde, hat die Beigeladene entsprechend § 6 Abs. 3 BBauG keinen neuen Planungswillen geäußert, sondern lediglich den rechtlichen Bedenken der Genehmigungsbehörde Rechnung getragen* Nach der genannten Vorschrift, die gemäß § 11 Satz 2 BBauG entsprechend für die Genehmigung von Bebauungsplänen gilt, kann die Genehmigungsbehörde die Genehmigung unter Auflagen erteilen, welche die Gemeinde in der Folge umzusetzen hat. Eines erneuten Satzungsbeschlusses durch die Gemeinde bedurfte es nach damaliger Rechtslage nicht mehr (vgl. Schrödter, Bundesbaugesetz Kommentar, 1964, § 6, Rn. 8).
Nicht entgegengehalten werden kann dem Bebauungsplan zudem die erneute Auslegung des umgearbeiteten Plans vom 2. März 1967 bis zum 3. April 1967, da es sich hierbei um eine nicht zwingend nach § 2 Abs. 6 BBauG erforderliche Auslegung handelte. Zweck der nochmaligen Auslegung war es offenbar, den Bürgern den Bebauungsplan nach einer längeren Umarbeitungsphase erneut zu zeigen und ihnen damit die Möglichkeit zum Vorbringen neuer – gegebenenfalls zu einer echten Planänderung führenden – Einwendungen zu geben. Da während der Auslegung jedoch keine für den Plan bedeutsamen Einwendungen mehr erhoben wurden, beließ es die Beigeladene im Ergebnis bei dem nur nach den rechtlichen Vorgaben des Landratsamts umgearbeiteten Bebauungsplan.
(2) Die Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen sind nicht funktionslos geworden und führen nicht zur materiellen (Teil-) Unwirksamkeit des Bebauungsplans Nr. 2 „…-West“.
Eine bauplanerische Festsetzung tritt nach den strengen Anforderungen der Rechtsprechung wegen Funktionslosigkeit erst dann außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 3.8.1990 – 7 C 41-43/89 – juris Rn. 16; BVerwG, U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – juris Rn. 22; BVerwG, U.v. 6.4.2016 – 4 CN 3/15 – juris Rn. 6; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 13). Weiter ist für die Bewertung der Funktionslosigkeit nicht isoliert auf einzelne Grundstücke abzustellen und es spielt auch keine Rolle, ob über längere Zeit von dem Plan abgewichen wurde und mittlerweile Verhältnisse entstanden sind, die den Festsetzungen des Plans nicht entsprechen (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 3.8.1990 – 7 C 41-43/89 – juris Rn. 16). Entscheidend für die Beurteilung einer Funktionslosigkeit ist vielmehr, ob eine Festsetzung noch geeignet ist im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen sinnvollen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB zu leisten (vgl. BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 13; VGH BW, U.v. 10.6.2010 – 5 S 2986/08 – juris Rn. 31).
Letzteres ist hier hinsichtlich der im Plangebiet festgesetzten Baugrenzen zu bejahen. Zwar liegt auf den Grundstücken FlNrn. 268/4, 270/1, 270/3, 270/4, 270/5 sowie 275/3 die Bebauung fast vollständig außerhalb der festgesetzten Baugrenzen, im weit überwiegenden Bereich des Plangebiets werden die Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen jedoch eingehalten. Beispielhaft sei hierzu auf die unmittelbar an das streitgegenständliche Grundstück angrenzenden Flurnummern südlich (FlNr. 282 bis FlNr. 311/3) und nördlich der W. Straße (FlNr. 265 bis FlNr. 250/9) hingewiesen.
Die Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen sind zudem auch nicht durch den Wegfall einer früher das Plangebiet von der Kreuzung W. Straße / R. Straße in südwestlicher Richtung bis hin zum Anfang des U. Wegs durchquerende 10-kV-Stromleitung obsolet geworden. Denn selbst wenn man annehmen würde, dass die Beigeladene damals nur wegen der Stromleitung auf die Ausweisung von Baufenstern in diesem Bereich verzichtet hat und dieser Grund mit Wegfall der Leitung entfallen ist, folgt daraus noch keine Funktionslosigkeit der gesamten Festsetzungen, da hierfür eine fehlende städtebauliche Steuerungsfunktion für das ganze Plangebiet erforderlich wäre. Dies kann hier allerdings nicht angenommen werden, da die Stromleitung das Gebiet des Bebauungsplans Nr. 2 „…-West“ nur in einem kleinen Teilbereich durchzog, im Übrigen der Bebauungsplan aber (überwiegend) umgesetzt wurde und die Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstückflächen folglich weiterhin einen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB leisten.
(3) Der Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ wurde nicht mit dem Beschluss über den Bebauungsplan Nr. 6 aufgehoben, sondern gilt unverändert fort.
Ein alter Bebauungsplan verliert seine frühere rechtliche Wirkung, wenn eine Gemeinde diesen Bauleitplan ändert, insbesondere einen Bebauungsplan durch einen neuen ersetzt. Das folgt über § 10 BauGB aus dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtssatz, dass die spätere Norm die frühere verdrängt. Entfällt wegen der Unwirksamkeit der späteren Norm die Möglichkeit der Normenkollision, dann gilt die alte Rechtsnorm unverändert fort. Möchte die Gemeinde diese Rechtsfolge vermeiden, muss sie einen – im textlichen Teil des Plans zum Ausdruck zu bringenden – Aufhebungsbeschluss fassen. Ein solcher selbständiger Aufhebungsbeschluss muss erkennen lassen, dass er auch dann Bestand haben soll, wenn die neuen Festsetzungen unwirksam sein sollten (vgl. BVerwG, B.v. 16.5.2017 – 4 B 24/16 – juris Rn. 4).
Vorliegend hat die Beigeladene unter Nr. 10.6. des Bebauungsplans Nr. 6 bestimmt, dass der alte Bebauungsplan für den Teilbereich des neuen Bebauungsplans nach dessen Inkrafttreten keine Wirksamkeit mehr besitzen soll. Es fehlt der Zusatz, dass der Bebauungsplan Nr. 2 auch dann nicht gelten soll, wenn der neue Bebauungsplan unwirksam sein sollte. Es bleibt daher dabei, dass wegen der Unwirksamkeit des neuen Bebauungsplans Nr. 6 für dessen Geltungsbereich weiterhin der alte Bebauungsplan Nr. 2 und damit die dortigen Festsetzungen gelten.
b) Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen nach § 31 Abs. 2 BauGB, da der Anwendungsbereich der Vorschrift eröffnet ist, die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen und das Ermessen auf Null reduziert ist.
aa) Der Anwendungsbereich des § 31 Abs. 2 BauGB ist eröffnet.
(1) Das Vorhaben ist nicht nach § 30 Abs. 1 BauGB planungsrechtlich zulässig, da im Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ auf dem damals noch ungeteilten Grundstück FlNr. 311/3 auf der östlichen Seite (= jetziges Grundstück FlNr. 311/14) kein zweites Baufenster ausgewiesen wurde.
(2) Eine Ausnahme von den festgesetzten Baugrenzen im Bebauungsplan nach § 31 Abs. 1 BauGB, § 23 Abs. 3 Satz 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 BauNVO ist ebenfalls nicht gegeben, da der Bebauungsplan Nr. 2 diesbezüglich keine Regelung enthält.
(3) Einer Anwendbarkeit des § 31 Abs. 2 BauGB steht des Weiteren nicht entgegen, dass die Befreiung für einen Bereich beantragt wird, für den der Bebauungsplan keinen Bauraum festsetzt.
Entgegen der Ansicht von Beklagten- und Beigeladenenvertreter kann eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB unabhängig davon erteilt werden, ob der Bebauungsplan für den streitgegenständlichen Bereich einen Bauraum vorsieht oder nicht. Denn mit dem Begriff der „Festsetzung“ ist nicht bloß die positive Festsetzung gemeint, sondern vielmehr die von der Gemeinde für den gesamten Planbereich getroffene Regelung, welche im Fall der überbaubaren Grundstücksflächen neben einer positiven stets auch eine negative Dimension in der Form beinhaltet, dass die Gemeinde eine Aussage darüber trifft, wo nicht gebaut werden darf. Das heißt, die „Nichtfestsetzung“ einer Baugrenze für einen bestimmten Bereich stellt keine eigenständige Festsetzung dar, sondern ist als Kehrseite zur positiven Ausweisung von Bauräumen Bestandteil der (einheitlichen) Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen. Das folgt bereits aus dem Wortlaut von § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, der, anders als § 23 BauNVO, die nicht überbaubaren Grundstücksflächen ausdrücklich erwähnt (vgl. Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (EZBK), Stand: 133. EL Mai 2019, § 23 BauNVO, Rn. 1).
Dafür spricht zudem der Sinn und Zweck der Vorschrift, Die Regelung soll der Bauaufsichtsbehörde die Möglichkeit geben, in nicht vom Satzungsgeber vorhergesehenen Sonderfällen von den auf einer notwendigen Verallgemeinerung beruhenden Festsetzungen abweichen zu können und damit dem Erfordernis einer beweglichen städtebaulichen Planung Rechnung zu tragen (vgl. bereits BT-Drs. 3/336 S. 69 f. zum ursprünglichen Entwurf von § 30 Abs. 2 BBauG von 1960; Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, Baugesetzbuch, 14. Auflage 2019, § 31 BauGB, Rn. 26). Ziel des § 31 Abs. 2 BauGB ist es also, der Bauaufsichtsbehörde Handlungsspielraum der Gestalt zu verschaffen, dass sie sich in Ausnahmefällen unter bestimmten Umständen über die Festsetzungen des Bebauungsplans hinwegsetzen kann. Im Hinblick darauf überzeugt es nicht, den vorhandenen Handlungsspielraum künstlich nur auf die Bereiche des Plangebiets zu beschränken, in denen die Gemeinde positive Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen getroffen hat.
Die Gefahr, dass die Bauaufsichtsbehörde die formellen Anforderungen des § 1 Abs. 8 BauGB oder die Planungshoheit der Gemeinde unterläuft, besteht nicht, da die Gemeinde zum einen über § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB an dem Befreiungsverfahren zu beteiligen ist und zum anderen § 31 Abs. 2 BauGB äußerst strenge Anforderungen an die Erteilung einer Befreiung stellt.
bb) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB liegen vor, da die Befreiung keine Grundzüge der Planung berührt, sie städtebaulich vertretbar ist (§ 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB) und die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
(1) Die Befreiung von den Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen berührt nicht die Grundzüge der Planung im Sinne von § 31 Abs. 2 BauGB.
Ob Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwider läuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (vgl. BVerwG, B.v. 19.5.2004 – 4 B 35/04 – juris Rn. 3; BayVGH, U.v. 3.11.2010 – 15 B 08.2426 – juris Rn. 21; VG München, U.v. 31.5.2011 – M 1 K 10.6164 – juris Rn. 32). Grundzüge der Planung können insbesondere berührt sein, wenn es um Abweichungen von den für einen qualifizierten Bebauungsplan erforderlichen Festsetzungen geht, wozu nach § 30 Abs. 1 i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB die Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen zählen. Daraus folgt jedoch kein Automatismus. Es bedarf vielmehr stets einer Feststellung für den konkreten Einzelfall, ob die Festsetzung Bestandteil eines Planungskonzepts ist, welches das gesamte Plangebiet oder doch zumindest einen maßgeblichen Teil davon gleichsam wie ein roter Faden durchzieht (vgl. BayVGH, U.v. 19.10.1998 – 15 B 97.337 – juris Rn. 27). Relevanter Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage nach einem planerischen Konzept ist dabei der Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses (vgl. VGH BW, U.v. 13.6.2007 – 3 S 881/06 – juris Rn. 33).
Vorliegend werden keine Grundzüge der Planung berührt, da kein für weite Teile des Plangebiets geltendes Konzept hinter den Festsetzungen zu den Baugrenzen im Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“ von 1967 zu erkennen ist. Vielmehr wird mit der Festsetzung von Baugrenzen augenscheinlich zum einen der zum Zeitpunkt der Bauleitplanung vorhandene Bestand abgebildet und zum anderen den der Beigeladenen bekannten Bauabsichten der Grundstückseigentümer Rechnung getragen.
Gegen ein bestehendes planerisches Konzept spricht auch, dass Größen und Lage der Baufenster in Relation zum jeweiligen Grundstück variieren. Während die Grundstücke FlNrn. 259, 260 sehr großzügig geschnitten sind und nur je ein kleineres Baufenster aufweisen, erlauben die festgesetzten Baufenster nördlich der R. Straße oder südlich der W. Straße eine dichtere Bebauung. Ein planerischen Konzept dahingehend, dass die Gemeinde für andere Grundstücke einschließlich der FlNr. 311/3 bewusst aus städtebaulichen Erwägungen eine stark aufgelockerte Bebauung geplant hätte, ist nicht erkennbar. Es handelt sich bei den FlNrn. 259, 260 eher um Einzelfälle als um maßstabsbildende Grundstücke, die auf ein Grundkonzept für das Plangebiet hinweisen.
Betrachtet man zudem die festgesetzten Baugrenzen in direkter Umgebung des streitgegenständlichen Grundstücks, zeigt sich, dass der Bebauungsplan auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf den Grundstücken mit den FlNrn. 257/1, 255 und 251/2 drei Baufenster ausweist, wohingegen auf der selben Länge südlich der W. Straße auf der FlNr. 311/3 nur ein Baufenster festgesetzt wurde. Folglich würde durch eine Befreiung auch keine – im Widerspruch zum übrigen Plangebiet stehende – Verdichtung der Bebauung eintreten. Eine Bebauung im östlichen Bereich der früher einheitlichen FlNr. 311/3 würde sich vielmehr in die übrige Bauweise im Plangebiet einfügen.
Neben der unterschiedlichen Größe der Baufenster kann dem Bebauungsplan zudem kein Konzept bezüglich der Anzahl der Baufenster je Grundstück entnommen werden. Es trifft zwar zu, dass für die meisten Flurnummern nur eine Baugrenze festgesetzt wurde. Dies gilt jedoch nicht für alle Grundstücke, da zum Beispiel auf den Grundstücken mit den FlNrn. 255, 263 und 265 im Bebauungsplan mehrere Baufenster ausgewiesen wurden. Auch in dieser Hinsicht würde eine Befreiung und damit ein zweites Baufenster auf dem Grundstück FlNr. 311/3 folglich nicht im Widerspruch zu einem planerischen Konzept der Gemeinde stehen.
Denkbar wäre bei Betrachtung des Bebauungsplans allenfalls, dass der Satzungsgeber insoweit städtebauliche Erwägungen anstellte, als er keine Baugrenzen dort festsetzten wollte, wo die 10-kV-Stromleitung das Plangebiet durchquerte. Als planungsrechtlichen Anknüpfungspunkt könnte man diesbezüglich die Rücksichtnahme der Gemeinde auf die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse im Sinne von § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB sehen. Ob die Gemeinde diesbezüglich ein planerisches Konzept verfolgte, kann jedoch offenbleiben, da selbst eine Bejahung vorliegend nicht dazu führen würde, dass Grundzüge der Planung berührt sind. Denn wie bereits oben ausgeführt, braucht es ein Konzept für mindestens einen maßgeblichen Teil des Plangebiets, woran es hier jedenfalls fehlt, da die Stromleitung nur einen verhältnismäßig geringen Teil des Gebiets betrifft.
(2) Die Abweichung ist gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB städtebaulich vertretbar.
Städtebaulich vertretbar ist grundsätzlich alles, was gemäß den Anforderungen in § 1 Abs. 6 und 7 BauGB mit der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB vereinbar, das heißt abwägungsfehlerfrei planbar ist. Da es sich dabei jedoch um eine sehr weit gefasste Befreiungsmöglichkeit handelt, wird das Tatbestandsmerkmal in zweierlei Hinsicht begrenzt. Erste Einschränkung ist, dass Grundzüge der Planung gewahrt bleiben müssen. Zweite Einschränkung ist, dass eine Pflicht zur Berücksichtigung der von der Abweichung berührten öffentlichen und privaten Belange besteht, die entsprechend ihrer Bedeutung gewichtet und soweit notwendig und möglich ausgeglichen werden müssen. Von Bedeutung kann dabei sein, welche Auswirkungen die Abweichung auf andere Teile des Plangebiets oder aber die Festsetzungen des Bebauungsplans hat. Anders als bei der Prüfung, ob Grundzüge der Planung berührt sind, ist hinsichtlich der Berücksichtigung der öffentlichen und privaten Belangen sowie der Auswirkungen einer Abweichung auf den aktuellen Zeitpunkt – also hier den Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage – abzustellen (vgl. BVerwG, B.v. 20.11.1989 – 4 B 163/89 – juris Rn. 15; BVerwG, U.v. 17.12.1998 – 4 C 16/97 – juris Rn. 36; BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11/59 – juris Rn. 37; Söfker in EZBK, BauGB, Stand: 133. EL Mai 2019, § 31, Rn. 47).
Hinsichtlich der im konkreten Fall beantragten Befreiung ist zunächst festzuhalten, dass die Zulassung einer Bebauung durch eine entsprechende bauplanerische Festsetzung ermöglicht werden könnte und folglich grundsätzlich eine Vereinbarkeit mit einer geordneten städtebaulichen Entwicklung gemäß den Anforderungen des § 1 BauGB grundsätzlich besteht. Auch bleibt das Leitbild der städtebaulichen Ordnung gewahrt, da – wie bereits oben dargestellt – die Grundzüge der Planung durch die Befreiung nicht berührt werden. Als negative Auswirkungen sind zwar grundsätzlich bei einer Abweichung von festgesetzten Baugrenzen die Gefahr einer Verdichtung sowie die Schaffung eines negativen Bezugsfalls denkbar. Im konkreten Fall tritt aber beides nicht ein. Bezüglich der Verdichtung liegt dies daran, dass sich das streitgegenständliche Vorhaben in die übrige lockere Bebauung im Plangebiet einfügt (s.o.). Und hinsichtlich des Bezugsfalls fehlt es zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage an vergleichbaren anderen Grundstücken im Plangebiet, für die das Vorhaben als Bezugsfall dienen könnte. Auch stellt die 10-kV-Stromleitung keinen zu berücksichtigenden öffentlichen Belang mehr da, da die Stromtrasse heute nicht mehr vorhanden ist.
Soweit die Beigeladene Belange wie den Baumbestand sowie Natur- und Artenschutz aufgrund der Lage der FlNr. 311/3 am Randbereich des Bebauungsplans einwendet, steht dies nach Auffassung der Kammer einer städtebaulichen Vertretbarkeit nicht entgegen. Denn zum einen soll das Vorhaben nach den Bauunterlagen im Vorbescheidsantrag mit einem Umfang von 10 m x 13 m keinen großen Teil des Grundstücks umfassen und zum anderen könnte ein etwaiger Ausgleich dadurch erfolgen, dass die Bauaufsichtsbehörde den Belangen mittels Nebenbestimmungen Rechnung trägt.
(3) Die Abweichung ist schließlich auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar, da nicht ersichtlich ist, dass durch das Vorhaben in irgendeiner Weise nachbarliche Belange berühren werden.
cc) Die Kläger haben einen Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Befreiung von den bindenden Festsetzungen zu den Baugrenzen im Bebauungsplan Nr. 2 „…-West“.
Zwar steht die Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift („kann“) im Ermessen der Behörde, was bedeutet, dass trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen kein Anspruch auf eine Befreiung besteht. Aufgrund der Tatsache, dass die Befreiungstatbestände in § 31 Abs. 2 BauGB allerdings so detaillierte Vorgaben für die Erteilung einer Befreiung enthalten, verbleibt für die Genehmigungsbehörde kaum „Ermessensrest“ und eine Ablehnung ist nach der Rechtsprechung im Ergebnis nur dann ermessensgerecht, wenn der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.1986 – 4 C 31/84 – juris Rn. 17; BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 C 13/01 – juris Rn. 31; BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 1 ZB 14.2723 – juris Rn. 10). Da hierzu allerdings weder von der Beklagten noch von der Beigeladenen etwas vorgetragen wurde oder sonst ersichtlich ist und die in Betracht kommenden städtebaulichen Belange bereits im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB berücksichtigt wurden, ist die Erteilung der Befreiung die einzig ermessensfehlerfreie Entscheidung. Folglich hat sich das Ermessen im konkreten Fall auf Null reduziert, weshalb die Kläger einen Anspruch auf eine Befreiung von den Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen haben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO. Mit der Stellung eines Antrags auf Klageabweisung hat sich die Beigeladene dem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt. Die Kosten des Verfahrens tragen daher der Beklagte und die Beigeladene jeweils zur Hälfte, § 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO analog.
Der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.


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