Baurecht

Eilrechtschutz von Nachbarn, Baugenehmigung für eine Abfahrt von einem Hotel- und Gastronomiekomplex, Gebot der Rücksichtnahme, maßgebliche Lärmwerte, offene Erfolgsaussichten wegen zu klärender Gebietseinordnung, weitergehende Interessenabwägung zu Lasten des Bauherrn

Aktenzeichen  M 1 SN 21.4943

Datum:
7.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2298
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80a Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Auf Antrag des Antragstellers zu 1 wird die aufschiebende Wirkung seiner Klage M 1 K 21.3807 gegen den Bescheid vom 24. Juni 2021, soweit dieser die Nutzung des Grundstücks FlNr. 47 als Ausfahrt genehmigt, angeordnet. Der Antrag des Antragstellers zu 2 wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller zu 2 und die Antragsgegnerin haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,– EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen eine Baugenehmigung, die die Antragsgegnerin dem Beigeladenen für eine Grundstücksabfahrt erteilt hat.
Der Beigeladene ist Geschäftsführer der Hellip GmbH einer KG, die auf den Grundstücken FlNrn. 48, 47, 2 und 1 Gem. … den sog. H. Hof, ein Landgasthof/Hotel mit zahlreichen Nebeneinrichtungen, betreibt. Südlich des Betriebs liegt das Grundstück FlNr. 43 Gem. …, das mit Wohngebäuden bebaut ist. Das Grundstück ist in Wohnungs- und Teileigentum aufgeteilt. Nach Angaben der Antragspartei ist der Antragsteller zu 1 Eigentümer des Anwesens mit der Hausnummer 3b im nördlichen Teil des Grundstücks; der Antragsteller zu 2 ist Eigentümer der Anwesen mit den Hausnummern 3 und 3a im südlichen Grundstücksteil. Südlich des Grundstücks der Antragspartei verläuft in Ost-West-Richtung die I* Hellipstraße.
Das Grundstück FlNr. 47, das westlich des Grundstücks der Antragsteller gelegen ist und zur I* Hellipstraße führt, diente bisher als Feuerwehrzufahrt zum H. Hof; die weitere Erschließung des Betriebs, insbesondere der Zu- und Abfahrtsverkehr, erfolgte bisher über die Nordostseite des Anwesens von der H. Straße aus.
Unter dem 25. August 2020 beantragte der Beigeladene eine Baugenehmigung u.a. für die Änderung der bestehenden Feuerwehrzufahrt und der Zeitenregelung auf den Grundstücken FlNrn. 48, 47, 2. Dem Bauantrag lag ein schalltechnisches Gutachten der H* … … Ingenieure vom 17. August 2020 bei.
Mit Bescheid vom 24. Juni 2021 genehmigte die Antragsgegnerin das Vorhaben „Änderung der Ausfahrt und Zeitenregelungen und Errichtung einer Saunahütte“. Unter Bescheidsnummer IV. wurden folgende immissionsschutzrechtliche Auflagen verfügt: „1. Die Beurteilungspegel der Geräusche, die bei der Nutzung der Ausfahrt entstehen, dürfen an den nächstgelegenen maßgeblichen Immissionsorten nach Ziff. 2.3 i.V. mit A.1.3 der TA Lärm den Immissionsrichtwert von 60 dB(A) für die Tageszeit (06-22 Uhr) im Dorfgebiet nicht überschreiten. 2. Die Nutzung der südlichen Zufahrt ist ausschließlich während der Tagzeit von 6:00 bis 22:00 Uhr gestattet. 3. Es ist auf geeignete Weise sicherzustellen, dass auf dieser Zufahrt keine Nachtnutzung stattfindet (z.B. durch Absperrungen und/oder Beschilderung sowie Anweisung vom Mitarbeiter). 4. Ausgenommen davon ist ausschließlich die Nutzung als Feuerwehrzufahrt.“ Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die nähere Umgebung einem faktischen Dorfgebiet entspreche und die beantragte Nutzung gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO allgemein zulässig sei. Die schalltechnische Begutachtung vom 17. August 2020 zeige, dass die Nutzung der südlichen Feuerwehrzufahrt als Ausfahrt für die Parkplätze während der Tageszeit keine Konflikte mit den immissionsschutzrechtlichen Anforderungen der TA Lärm verursache. Der Anspruch der Nachbarschaft auf Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Geräusche bleibe gewahrt, wenn die Nutzung auf die Tageszeit beschränkt werde.
Die Antragsteller haben am … Juli 2021 Klage (M 1 K 21.3807) gegen den Genehmigungsbescheid erhoben, soweit dieser dem Bauherrn gestattet, die südliche Zufahrt über das Grundstück FlNr. 47 zur I* Hellipstraße hin als Ausfahrt zu benutzen. Über die Klage ist noch nicht entschieden. Mit dem am 16. September 2021 bei Gericht eingegangen Schriftsatz ersuchen sie um Eilrechtsschutz und beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage Az. M 1 K 21.3807 auf teilweise Aufhebung des Baugenehmigungsbescheides vom 24. Juni 2021 (betreffend die Genehmigung, die südliche „Zufahrt“ über das Grundstück FlNr. 47 zur I* Hellipstraße hin als Ausfahrt zu benutzen), Az. … … …, wird angeordnet.
Das Grundstück der Antragsteller sei einer ständigen und nicht mehr zumutbaren Lärm- und Geräuschbelastung ausgesetzt. Teilweise seien die Wohnzimmer und Schlafzimmer der Wohnungen sowie ein Balkon und eine Terrasse Richtung Osten auf das Grundstück FlNr. 47 gerichtet. Mit jeder Erweiterung sei der Lärmpegel gewachsen; der Betrieb weise zahlreiche Lärmquellen auf. Die neu genehmigte Ausfahrt sei schon vormals faktisch als Zu- und Abfahrt von Mitarbeitern und von Entsorgungs-Lkws genutzt worden. Bereits ein schalltechnisches Gutachten aus dem Jahr 2013 gehe von unzutreffenden Prämissen aus. Es zeige sich, dass der nördliche Teil des Grundstücks der Antragsteller vom Lärm am heftigsten betroffen sei. Es würden die Grundlagen, die Berechnungen und das Ergebnis dieses Gutachtens wie auch des Ergänzungsgutachtens aus dem Jahr 2020 bestritten. Tatsächlich würden bei den Anwesen der Antragsteller die zulässigen Grenzwerte von 60 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts erheblich überschritten, insbesondere unter Einbeziehung der nunmehr genehmigten südlichen Ausfahrt. In der näheren Umgebung des H. Hofs befinde sich offenkundig nahezu ausschließlich Wohnbebauung, ferner das Verwaltungsbüro eines Modegeschäfts, ein Immobilienbüro und das Gebäude eines Bürgervereins; eine landwirtschaftliche Betriebsstätte befinde sich dort nicht mehr. Das Anwesen E* Hellipstraße 2 gehöre nicht mehr zur näheren Umgebung, eine dort befindliche landwirtschaftliche Nutzung werde bestritten. In den Jahren 2003, 2009 und 2014 sei die Antragsgegnerin der Schaffung einer zweiten, südlichen Zufahrt mit Blick auf die vorhandene Wohnbebauung und der entstehenden städtebaulichen Spannungen entgegengetreten. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid ändere die Antragsgegnerin ihre Meinung, ohne dass sich die zugrundeliegende Sachlage geändert hätte.
Die nähere Umgebung entspreche einem allgemeinen Wohngebiet. Der Bauherr benötige die zweite Zufahrt als Ausfahrt nicht; der Lieferverkehr müsse nach wie vor rückwärts die Lieferzone verlassen, wobei es keine Rolle spiele, welche Ausfahrt er sodann nutze. Die Hotelgäste, ebenso der Omnibusverkehr, könnten ebenfalls konfliktfrei die nördliche Ausfahrt nutzen. Die Wohnhäuser nördlich des Grundstücks FlNr. 317 seien durch eine Schallschutzwand geschützt. Die städtebaulichen Spannungen und der Eingriff in die Planungshoheit der Antragsgegnerin sei auch nicht erst mit der streitgegenständlichen Nutzung der Ausfahrt entstanden, sondern schon vor Jahren mit der stückweisen Erweiterung der Anlagen. Unabhängig vom Gebietscharakter müsse sich ein Vorhaben stets weiterhin zumindest nach dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, einfügen, was schon lange nicht mehr der Fall sei. Das Gebot des Einfügens gelte auch für die Art der baulichen Nutzung. Das Privatgutachten beweise keineswegs, dass von dem Gesamtvorhaben inklusive der neuen Ausfahrt keine unzumutbaren Belästigungen und Störungen ausgingen. Mit Blick auf § 15 Abs. 3 BauNVO hänge die Zulässigkeit nicht von der immissionsschutzrechtlichen Einordnung und Überschreitung der Richtwerte ab. Die Antragsteller verkennten die Bestandskraft der Baugenehmigungen nicht; gleichwohl könne dies nicht bedeuten, dass der Beigeladene den Zustand noch weiter ausweiten dürfe. Heute sei der H. Hof, der eines Bebauungsplans bedurft hätte, eine erdrückende Ansammlung baulicher Anlagen, die den vorhandenen Rahmen unangemessen überschreite und damit der Umgebung sein eigenes Gepräge überstülpe. Im Übrigen werde ein einzuholendes Gutachten ergeben, dass selbst die Richtwerte für ein Dorfgebiet dauerhaft überschritten würden.
Die Antragsgegnerin beantragt unter Vorlage der Behördenakten:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Eilbedürftigkeit sei schon nicht dargetan. Das Vorhaben verletze die Antragsteller nicht in ihren Rechten. Es füge sich in die Eigenart der näheren Umgebung, insbesondere nach der Art der Nutzung, ein. Es seien aktive Landwirtschaften, etwa unter der Adresse E* Hellipstraße 2 zu verzeichnen. Auf den landwirtschaftlichen Betrieb in der H* Hellipstraße 3 habe die Innenbereichsbebauung Rücksicht zu nehmen. Mehrere nunmehr aufgegebene landwirtschaftliche Betriebe würden nunmehr gewerblich genutzt, sodass die Umgebung nicht vorwiegend dem Wohnen diene. Das Vorhaben diene der Gastwirtschaft und der Hotelnutzung und sei im Dorfgebiet allgemein zulässig. Das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt; es sei nicht weiter begründet, dass nunmehr städtebauliche Spannungen entstünden. Ob der Beigeladene eine zweite Ausfahrt benötige, sei rechtlich ohne Belang. Das vorgelegte Gutachten habe dazu geführt, dass die Antragsgegnerin ihre Auffassung geändert habe.
Die Aufnahme der Nutzung der Zufahrt wurde für den 10. August 2021 angezeigt. In der Folge beschwerten sich Nachbarn darüber, dass die Zufahrt von täglich mehr als 20 Privatfahrzeugen als Ein- und Ausfahrt sowie von LKWs der Müllabfuhr, von Lieferanten und zur Tierkadaverentsorgung genutzt werde. Die Schranke sei installiert, stehe aber Tag und Nacht offen.
Zum Vortrag im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Behördenakten, auch in dem Verfahren M 1 K 21.3807, Bezug genommen.
II.
Der Antrag des Antragstellers zu 1 hat Erfolg, der Antrag des Antragstellers zu 2. ist unbegründet.
Die nach § 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaften Anträge sind auch ansonsten zulässig.
Insbesondere ist das Rechtschutzbedürfnis gegeben, obwohl bereits am 10. August 2021 die Aufnahme der Nutzung auf der Grundlage der hier streitgegenständlichen Baugenehmigung angezeigt worden ist. Soweit sich ein Eilrechtsbehelf gegen eine Baugenehmigung richtet, ist zu prüfen, ob sich das mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgte Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern, noch erreicht werden kann. Nach Fertigstellung der baulichen Anlage ist dieses Ziel nicht mehr zu erreichen, soweit es um die vorläufige Abwehr von Beeinträchtigungen geht, die nur vom Baukörper selbst ausgehen (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2020 – 15 CS 20.45 – juris Rn. 12). Hier geht es den Antragstellern jedoch nicht (nur) um die Errichtung der Zufahrt und der Schrankenanlage, sondern um nutzungsbezogene Beeinträchtigungen durch die Baukörper, namentlich den Abfahrtsverkehr. Das Ziel, die Abwehr dieser Beeinträchtigungen zu erreichen, kann durch den hier gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung erreicht werden.
I. Der Antrag des Antragstellers zu 1 ist begründet.
Im Verfahren nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist eine am materiellen Recht orientierte Interessenabwägung zwischen dem Suspensivinteresse der Antragsteller und dem Vollzugsinteresse des Beigeladenen vorzunehmen. Die gerichtliche Entscheidung hierüber orientiert sich in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (BayVGH, B.v. 23.11.2016 – 15 CS 16.1688 – juris Rn. 16; v. 18.10.2017 – 9 CS 16.883 – juris Rn. 16 m.w.N.).
Die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers zu 1 gegen die Baugenehmigung sind offen (vgl. unter 1.). Die weitergehende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers zu 1 an der Aussetzung das Suspensivinteresse des Beigeladenen überwiegt (unter 2.).
1. Die summarische Prüfung im Eilverfahren ergibt keine hinreichend sichere Prognose darüber, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung nicht gegen im Genehmigungsverfahren zu prüfende Vorschriften verstößt, die nicht nur dem Schutz der Interessen der Allgemeinheit, sondern auch dem Schutz der Interessen des Antragstellers als Grundstücksnachbarn dienen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Diese Klärung bleibt vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
a) Prüfungsgegenstand ist die Baugenehmigung, soweit sie der Antragsteller zu 1 mit seiner Klage angreift, hier also beschränkt auf die Zulassung der Nutzung der südlichen Zuwegung über das Grundstück FlNr. 47 als Ausfahrt zur I* Hellipstraße hin. Hingegen ist die mit demselben Bescheid genehmigte Errichtung einer Saunahütte nicht Gegenstand Verfahrens. Da die Zufahrtsfrage von der Hütte selbständig und isoliert betrachtbar ist, vermag die Antragspartei die Klage insoweit zu beschränken.
b) Es kann nicht hinreichend sicher davon ausgegangen werden, dass das Vorhaben die gegenüber dem Antragsteller zu 1 gebotene Rücksicht aufweist. Dies ist im Hinblick auf die beauflagten Immissionsrichtwerte, die das Vorhaben nach dem angegriffenen Bescheid einzuhalten hat, jedenfalls zweifelhaft.
aa) Dem Gebot der Rücksichtnahme, das im hier vorliegenden unbeplanten Innenbereich über § 34 Abs. 1 oder Abs. 2 BauGB i.V. mit § 15 Abs. 1 BauNVO Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet, kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. BVerwG v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290 ff. – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33; U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N).
Für die Frage der Zumutbarkeit der von der Anlage ausgehenden Lärmbelastung, die hier inmitten steht, sind die Vorgaben der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm in der Fassung vom 26. August 1998 (TA Lärm) heranzuziehen. Als normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift kommt der TA Lärm, soweit sie für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen konkretisiert, eine im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zu. Die normative Konkretisierung des gesetzlichen Maßstabs für die Schädlichkeit von Geräuschen ist jedenfalls insoweit abschließend, als sie bestimmte Gebietsarten und Tageszeiten entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit bestimmten Immissionsrichtwerten zuordnet und das Verfahren der Ermittlung und Beurteilung der Geräuschimmissionen vorschreibt. Für eine einzelfallbezogene Beurteilung der Schädlichkeitsgrenze aufgrund tatrichterlicher Würdigung lässt das normkonkretisierende Regelungskonzept der TA Lärm nur insoweit Raum, als diese Verwaltungsvorschrift selbst durch Kann-Vorschriften und Bewertungsspannen Spielräume belässt (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 23.11.2016 – 15 CS 16.1688 – juris Rn. 22).
Gemäß Nr. 6.1 TA Lärm ist die städtebauliche Einordnung der näheren Umgebung des Bauvorhabens und des Grundstücks der Antragspartei maßgeblich für die einzuhaltenden Immissionsrichtwerte eines Vorhabens.
bb) Ob das Bauvorhaben nach diesem Maßstab den Anforderungen des Rücksichtnahmegebots gegenüber dem Antragsteller zu 1 genügt, bedarf einer Klärung im Hauptsacheverfahren.
Die Baugenehmigung setzt in Nr. IV.1 fest, dass das Vorhaben die Immissionsrichtwerte von 60 dB(A) für die Tageszeit nicht überschreiten darf. Die Antragsgegnerin wendet die Werte nach Nr. 6.1 Buchst. d TA Lärm an, weil sie von einer Situierung in einem faktischen Dorfgebiet ausgeht. Bei Vorliegen eines faktischen Dorfgebiets wären die im Bescheid festgesetzten Lärmrichtwerte von tags 60 dB(A) grundsätzlich geeignet, die Rücksicht auf die Nachbarn zu gewährleisten und hinreichenden Schutz vor Lärmimmissionen zu bieten. Ausweislich der schalltechnischen Begutachtung vom 17. August 2020 wären die Werte am IO 6 (nördliche Spitze des Anwesens des Antragstellers zu 1) (knapp) mit 59 dB(A) eingehalten.
Die städtebauliche Einordnung und die einzuhaltenden Immissionsrichtwerte bedürfen der Klärung im Hauptsacheverfahren, voraussichtlich durch Beweiserhebung im Wege eines Augenscheins der näheren Umgebung. Die im Eilverfahren verfügbaren Lagepläne und Luftbilder des Bayernatlas sowie im Internet abrufbare 3-D-Begehungen auf kommerziellen Kartendienstanbietern liefern keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Klärung der planungsrechtlichen Situation.
(1) Für das Vorliegen eines faktischen Dorfgebiets nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 5 BauNVO ist Voraussetzung, dass Wirtschaftsstellen landwirtschaftlicher Betriebe noch vorhanden sind und das Gebiet dörflich prägen (Karber in BeckOK BauNVO, 27. Ed. 15.10.2021, § 5 Rn. 16). Bei der städtebaulichen Beurteilung als Dorfgebiet ist ein bestimmtes Mischungsverhältnis zwischen land- und forstwirtschaftlichen Betrieben und sonstiger Wohnnutzung nicht vorgegeben, sondern nach der städtebaulichen Prägung zu bestimmen. Da ein landwirtschaftlicher Betrieb aufgrund der größeren Baukörper und der ihm eigenen Emissionen nicht nur den Charakter der unmittelbaren Nachbarschaft prägt, sondern in seinen Wirkungen weiter ausgreift, kommt ihm dabei gegenüber einem einzelnen Wohngebäude ein weit größeres Gewicht zu (vgl. Arnold in Bönker/Bischopink, BauNVO § 5 Rn. 4 m.w.N.).
Ob hier die Voraussetzungen für ein faktisches Dorfgebiet erfüllt sind, ist nach Aktenlage unklar; die Antragspartei tritt dem entgegen. Es bedarf zunächst der Klärung, welches die maßgebliche nähere Umgebung ist und ob – wie die Antragsgegnerin meint – das Anwesen E* Hellipstraße 2 (wohl Grundstück FlNr. 13 Gem. …, der R.-Hof) einzubeziehen ist. Dabei müsste sich die Kammer einen Eindruck von der Reichweite der Prägung dieses Anwesens ebenso wie die des H. Hofs, zu dem das streitige Vorhaben gehört, machen. Auch ist der unter den Beteiligten streitige Gesichtspunkt zu klären, ob in der näheren Umgebung überhaupt noch aktive Landwirtschaft betrieben wird.
(2) Gegen die Annahme eines faktischen Mischgebiets (§ 34 Abs. 2 BauNVO i.V.m. § 6 BauNVO) spricht nach Aktenlage die fehlende Durchmischung von Wohnen und Gewerbe in quantitativer und qualitativer Mischung. Hier gälten diesselben Immissionsrichtwerte wie im faktischen Dorfgebiet und wären ausweislich des Gutachtens eingehalten.
(3) Träfe die Annahme der Antragspartei zu, dass es sich um ein faktisches allgemeines Wohngebiet (§ 34 Abs. 2 BauNVO i.V.m. § 4 BauNVO) handelt, wären nach Nr. 6.1 Buchst. e TA Lärm) tags Lärmrichtwerte von 55 dB(A) einzuhalten. Ausweislich der schalltechnischen Begutachtung werden diese Werte von dem Vorhaben überschritten. Selbst wenn man das o.g. Anwesen des R.-Hofs unberücksichtigt lässt, hätte das Gericht anhand der Lagepläne Zweifel daran, dass es sich angesichts der Kubatur und der Dominanz des H. Hofs um ein allgemeines Wohngebiet handelt. Ein Beherbergungsbetrieb wäre nach § 4 Abs. 3 BauNVO zwar ausnahmsweise zulässig. Es spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass der konkrete Betriebszuschnitt des Beigeladenen der Prägung als allgemeines Wohngebiet widerspricht.
(4) Ginge man hingegen von einer Gemengelage aus, wären Immissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 heranzuziehen, die der Schutzwürdigkeit des Gebiets oder der Einrichtung am ehesten entsprechen (Hansmann in Landmann/Rohmer, UmweltR, 96. EL September 2021, TA Lärm Nr. 6 6. Rn. 15). Hierbei wäre die Schutzbedürftigkeit der vorhandenen Wohnbebauung einzubeziehen, aber auch der bestandskräftig genehmigte Betrieb des Beigeladenen. Welche Werte im konkreten Fall einzuhalten wären, erfordert eine weitergehende Befassung im Hauptsacheverfahren.
3. Angesichts der offenen Erfolgsaussichten hinsichtlich der noch nicht abschließend geklärten bauplanerischen Einordnung und der einzuhaltenden Immissionsrichtwerte, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten ist, geht die weitergehende Abwägung der widerstreitenden Interessen hier zulasten des Beigeladenen aus.
Zwar spricht zunächst die gesetzgeberische Wertung aus § 212a Abs. 1 BauGB zu Gunsten der Vollziehbarkeit der Baugenehmigung bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Gleichwohl tritt hier das Interesse des Beigeladenen an der vorläufigen Nutzung der weiteren Abfahrt zurück, weil sein Betrieb über die Nordostseite bereits über eine Erschließung verfügt. Der An- und Abfahrtsverkehr kann wie bisher erfolgen, und der Betriebsablauf ist damit gewährleistet. Es ist nicht erkennbar und wurde auch nicht vorgetragen, dass ein wichtiges oder gar zwingendes betriebliches oder wirtschaftliches Interesse besteht, die zweite Ausfahrt bereits jetzt nutzen zu können. Demgegenüber überwiegt das Interesse des Antragstellers zu 1, einstweilig von zusätzlichen Lärmemissionen verschont zu bleiben, bis eine Klärung in der Hauptsache erfolgt ist.
II. Der Antrag des Antragstellers zu 2 ist unbegründet.
1. Nach summarischer Prüfung im Eilverfahren erweist sich die angefochtene Baugenehmigung gegenüber dem Antragsteller zu 2 als rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Namentlich ist nicht erkennbar, dass das Vorhaben gegenüber dem Antragsteller zu 2 nicht die gebotene Rücksicht einhält.
Die Schallausbreitungsberechnung der im Genehmigungsverfahren vorgelegten schalltechnischen Begutachtung vom 17. August 2020 zeigt, dass durch das Vorhaben im südlichen Bereich des Grundstücks FlNr. 43 gelegenen Anwesen keine Richtwertüberschreitung erfolgt. An der Westseite des Anwesens 3a, die der streitigen Zufahrt zugewandt ist, werden tags Pegel unter 54 dB(A) prognostiziert, die selbst die Immissionsrichtwerte für ein allgemeines Wohngebiet von 55 dB(A) einhalten (vgl. Nr. 6.1 Buchst. e TA Lärm).
b) Im Übrigen geht die Kammer vorläufig davon aus, dass das in Streit stehende Vorhaben die Genehmigungsfrage des gesamten Betriebs des Beigeladenen nicht neu aufwirft.
Mit der genehmigten neuen Abfahrt über das Grundstück FlNr. 47 dürfte keine Änderung des Gesamtvorhabens im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB vorliegen. Bei der zweiten Abfahrt für den Betriebsverkehr handelt es sich um eine zusätzliche Erschließungsmaßnahme des Gesamtbetriebs. Zwar sind das neue Vorhaben und der Bestand im Hinblick auf den Betriebsablauf und den damit verbundenen Verkehr immissionsschutzfachlich miteinander verklammert, was sich auch an den immissionsschutzfachlichen Gutachten erkennen lässt. Das schalltechnische Gutachten vom 17. Oktober 2013 betreffend den Gesamtbetrieb wurde insoweit durch die Begutachtung vom 17. August 2018 fortgeschrieben. Dabei zieht das streitige Vorhaben auch Änderungen im Betriebsablauf nach sich. Gegen die Annahme, dass das Gesamtbauvorhaben neu zu betrachten ist, spricht jedoch, dass sich die Intensität der Nutzung des H. Hofs nicht ändert. Insbesondere kommt es nicht zu einer Erweiterung der Gästebetten oder der Sitzplätze in den gastronomischen Angeboten und damit nicht zu einem Mehr an Schallpegeln, sondern nur zu deren Verlagerung. Die streitgegenständliche Abfahrt dürfte damit eher einer neuen betrieblichen Anlage vergleichbar sein.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Der Beigeladene ist nach § 154 Abs. 3 nicht an den Kosten zu beteiligen, weil er keinen eigenen Antrag gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat; seine außergerichtlichen Kosten sind nach § 162 Abs. 3 VwGO ebensowenig erstattungsfähig.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich gem. § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i. V. m. Nrn. 1.1.3, 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Kammer geht von einem Hauptsachestreitwert von 10.000 EUR je Antrag aus, der im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes 1/2 beträgt.


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