Baurecht

Erfolgloses Berufungszulassungsverfahren: Keine Ermessensreduzierung zugunsten bauaufsichtliches Einschreiten gegen einen Grenzcarport

Aktenzeichen  9 ZB 20.1900

Datum:
23.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16221
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 76 S. 1

 

Leitsatz

Die Frage einer Ermessensreduktion zugunsten eines bauaufsichtlichen Einschreitens ist auch bei einer Verletzung nachbarschützender Normen von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 5 K 19.1354 2020-06-25 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks FlNr. … Gemarkung E* … (G* … *) und begehren bauaufsichtliches Einschreiten des Landratsamts W* … wegen Nichteinhaltens des Abstandsflächenrechts hinsichtlich eines Carports der Beigeladenen auf deren Grundstück FlNr. … derselben Gemarkung (G* … *).
Gegen den Bescheid vom 13. September 2019, mit dem das Landratsamt W* … den Antrag der Kläger auf bauaufsichtliches Einschreiten oder Einstellen der Bauarbeiten anlehnte, haben die Kläger Klage erhoben, die das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2020 abwies. Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung der Kläger.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag bleibt ohne Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils Zulassungsgründe (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Kläger innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) haben darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
1. Das Verwaltungsgericht ist von einer abstandsflächenrechtlichen Privilegierung des hier streitgegenständlichen Grenzcarports gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO in der von ihm anzuwendenden bis zum 31. Januar 2021 gültigen Fassung (vgl. Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO in der seit 1.6.2021 gültigen Fassung – GVBl. 2020, S. 663) ausgegangen, weil es eine mittlere Wandhöhe von 3 m und eine Gesamtlänge von 9 m einhalte und es auch die weiteren Voraussetzungen als erfüllt angesehen hat. Auch die gemäß Art. 6 Abs. 9 Satz 2 BayBO (in der bis zum 31.1.2021 gültigen Fassung; vgl. Art. 6 Abs. 7 Satz 2 BayBO) einzuhaltende Gesamtlänge der privilegierten Grenzbebauung von 15 m werde eingehalten. Das Verwaltungsgericht hat dabei seiner Einschätzung zugrunde gelegt, dass das Hauptgebäude im Fall des Anbaus einer privilegierten Grenzbebauung an dieses die eigenen Abstandsflächen einhalten müsse (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2015 – 15 B 15.1371 – juris Rn. 19 m.w.N; vgl. auch zur aktuellen Regelung in Abs. 7: Hahn in Busse/Kraus, BayBO, Stand März 2021, Art. 6 Rn. 473; Schönfeld in BeckOK BauordnungsR Bayern, BayBO, Stand April 2021, Art. 6 Rn. 201). Es ist aber davon ausgegangen, dass das Hauptgebäude der Beigeladenen bauordnungsrechtliches Abstandsflächenrecht nicht verletze, weil aufgrund der von den Klägern angeführten, von der Baugenehmigung vom 30. April 1959 abweichenden Bauausführung hinsichtlich einer Höhe von 6,50 m anstatt 2,75 m des Hauptgebäudes im Hinblick auf das Fehlen von Abstandsflächenregeln in der seinerzeit noch gültigen Bayerischen Bauordnung von 1901 (Verordnung über die Bauordnung vom 17.2.1901 – BayBS II S. 446), erst recht solchen, nach denen die Tiefe der Abstandsfläche in Relation zur Gebäudehöhe zu bemessen wäre, darauf nicht geschlossen werden könne. Die in der betreffenden Baugenehmigung von 1959 mit der Nr. 11 der „Allgemeinen Auflagen“ festgelegte Abstandsfläche von 2,50 m zur Wahrung eines freien Lichteinfalls an der Nachbarseite sowie zur Vermeidung einer engen Reihe (Gang/Winkel) nach § 49 BO 1901, die den Vorgaben von Nr. 3 a) (1) der polizeilichen Richtlinien für bäuerliche Siedlungsbauten entspreche, beruhe nicht auf Regelungen, mit denen ein Verstoß des Hauptgebäudes der Beigeladenen gegen Vorschriften des Abstandsflächenrechts verbunden sein könne. Dem setzen die Kläger mit ihrem letztlich nur erstinstanzlichen Vortrag wiederholenden Zulassungsvorbringen, der in der Baugenehmigung geregelte einzuhaltende Abstand von 2,50 m stehe im Verhältnis zur genehmigten Höhe des Bauvorhabens, von der im Rahmen der Bauausführung erheblich abgewichen worden sei, nichts Durchdringendes entgegen.
Soweit den Klägern insoweit zuzustimmen ist, als bauliche Änderungen oder Nutzungsänderungen eines Gebäudes, selbst wenn sie für die Berechnung der Abstandfläche maßgebliche Bauteile nicht unmittelbar berühren, grundsätzlich eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude auslösen, wenn sie im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange haben können (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2015 – 15 ZB 13.2384 – juris Rn. 11 m.w.N.), hat das Verwaltungsgericht dies im Rahmen seiner ergänzenden Erwägungen für den Fall, dass der Abstand von 2,50 m zur Grundstücksgrenze abstandsflächenrechtlich relevant und nicht durchgängig eingehalten wäre, beachtet. Es hat jedoch nicht ausmachen können, dass das offen gestaltete Carport zu einer relevanten Verschärfung der abstandsflächenrechtlichen Situation führen könnte. Die Kläger wenden sich gegen diese Argumentation des Verwaltungsgerichts, die auf die Auswirkungen des Carports abstellt, nur insoweit, als sie Brandgefahren anführen, wobei sie allerdings verkennen, dass Art. 6 Abs. 7 BayBO bzw. die vom Verwaltungsgericht zugrunde zu legende Vorgängerregelung den Bau von Grenzgaragen gerade privilegiert und grenzständige Carports als offene Kleingaragen auch keine Brandwand aufweisen müssen (vgl. § 9 Abs. 2 GaStellV). Auf Auswirkungen des Carports können sich die Kläger damit folglich auch im Hinblick auf den von ihnen noch angeführten zweiten Balkon der Beigeladenen in Richtung ihres Grundstücks nicht erfolgreich berufen, zumal die Kläger lediglich vorbringen, dass dieser von der Baugenehmigung von 1959 nicht gedeckt sei und 1,55 m aus der Fassade hervorspringe, weshalb an dieser Stelle die ohnehin zu geringe Abstandsfläche mit einer Tiefe von 2,50 m nicht eingehalten sei. Sie genügen damit bereits dem Darlegungsgebot nicht (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2021 – 9 ZB 20.1669 – juris Rn. 10 m.w.N.).
Soweit die Kläger im Zulassungsverfahren erneut vortragen, dass die aufgeschüttete Terrasse, von der ein Abstandsflächenverstoß ausgehe, zu berücksichtigen sei, setzen sie sich schließlich in keiner Weise damit auseinander, dass das Verwaltungsgericht, unabhängig davon, dass es unter Verweis auf seine Ausführungen in seinem Urteil vom 21. November 2019 (Az. W 5 K 18.715) davon ausging, dass von der Aufschüttung und der Terrasse keine Abstandsflächen ausgelöst würden, dieser Anlage keine Bedeutung für die Bemessung der Länge des Carports oder der maximal zulässigen Gesamtlänge privilegierter Grenzbebauung an der betreffenden Grundstücksgrenze zugesprochen hat.
2. Im Übrigen ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der von den Klägern geltend gemachten Ermessensreduktion auf Null hinsichtlich des von ihnen begehrten bauaufsichtlichen Einschreitens.
Macht ein Dritter – wie hier die Kläger – gegenüber der Bauaufsichtsbehörde geltend, durch eine Anlage i.S.d. Art. 76 BayBO in seinen Rechten verletzt zu sein, so hat er einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein bauaufsichtliches Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde sowie auf Art und Weise des Einschreitens. Dabei gelten für die Ermessensausübung der Bauaufsichtsbehörde die allgemeinen Grundsätze (vgl. BayVGH, U.v. 4.12.2014 – 15 B 12.1450 – juris Rn. 21). Die Frage einer Ermessensreduktion zugunsten eines bauaufsichtlichen Einschreitens ist hierbei auch bei einer Verletzung nachbarschützender Normen von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängig. Sie ist regelmäßig nur dann anzunehmen, wenn die von der rechtswidrigen baulichen Anlage ausgehende Beeinträchtigung des Nachbarn einen erheblichen Grad erreicht und die Abwägung mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Übergewicht der nachbarlichen Interessen ergibt (vgl. BayVGH, B.v. 25.9.2014 – 14 ZB 12.2033 – juris Rn. 16 m.w.N.). Davon ist insbesondere auszugehen, wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2019 – 9 ZB 17.227 – juris Rn. 9).
Die Kläger berücksichtigen nicht, dass nicht jede – behauptete – Verletzung drittschützender Normen ohne Weiteres zu einem Anspruch des Nachbarn auf Einschreiten der Aufsichtsbehörde führt (vgl. BayVGH, B.v. 28.8.2015 – 9 ZB 13.1876 – juris Rn. 19 m.w.N.). Der pauschale Vortrag, dass eine Ermessensreduzierung auf Null aus der erheblichen Schwere der Störung der Kläger und der Rechtsordnung, zumal das Hauptgebäude baurechtswidrig sei, resultiere, genügt nicht. Angesichts der bereits seit langem bestehenden baulichen Gegebenheiten hinsichtlich des Hauptgebäudes zeigt das Zulassungsvorbringen nichts auf, woraus sich infolge des Anbaus des Carports eine hohe Intensität der Störung oder Gefährdung der klägerischen Nachbarn ergeben könnte (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2018 – 15 ZB 17.45 – juris Rn. 19), die das Ermessen zum bauaufsichtlichen Einschreiten auf Null reduzieren würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Da der Beigeladene im Zulassungsverfahren einen Antrag gestellt sowie begründet und damit einen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht der Festsetzung des Verwaltungsgerichts gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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